> Gedichte und Zitate für alle: Briefwechsel J.W.v.Goethe und C.F.Zelter: An Goethe 01.07.-09.07.1803 (24)

2016-04-29

Briefwechsel J.W.v.Goethe und C.F.Zelter: An Goethe 01.07.-09.07.1803 (24)



24. An Goethe 01.07.- 09.07.1803

Berlin, den 1. Julius 1803. 

Nach einem freudenreichen Aufenthalt von acht Tagen in Dresden bin ich am 25. vorigen Monats wieder hier angekommen. Mehrere sehr schöne Gegenden in und um Dresden haben meinen Augen wohlgetan. Vor allem ist mir der tägliche Besuch der Bilder- und Antikengalerien wert und nützlich gewesen, indem ich der Natur zum Leben und zum Wirken der Kunst bedarf, die meinen Geist festhält.

In Dresden traf ich Madame Mara, die sich unendlich freute, mich dort zu sehn. Sie war im Begriff, ein Konzert zu geben, dem ich beiwohnte. Sie hat hier wie überall Unfreunde und Bewunderer gefunden. Das Liebste war ihr — eine unerwartete gute Einnahme, auf welche sie jetzt am meisten zu halten scheint.

Das erste, was meine Aufmerksamkeit in Berlin spannte, war: eine Ihnen zur Hälfte dedizierte kurze Biographie des verewigten Mozart, welcher eine nicht kurze, nicht ästhetische Darstellung seiner Werke nebst einem nicht guten Porträt beigehängt ist. Könnten Sie mich doch wissen lassen, wer der Neudietendorfer Verfasser dieses Bildungsbuchs für junge Tonkünstler ist. Von dem können die Neudietendorfer etwas profitieren.

Aus der Zeitung habe ich gelesen, daß meine schöne Königin Ihre Mutter so huldreich beschenkt hat, und das hat mir innige Freude gemacht. Man glaubt hier steif und fest, daß Sie mit Schillern ehestens in Berlin sein werden, und ich bin verschiedentlich darüber ausgefragt worden. Die Möglichkeit habe ich nicht ableugnen wollen, zumal Ihre Freunde der Meinung sind, daß es bald Zeit sei, über das sündige Geschlecht Gericht zu halten, und dies könne nur in Person geschehn.

Den 4. Julius. Gestern habe ich zum ersten Male Schillers »Braut von Messina« hier aufführen sehn. Es war die dritte Vorstellung dieses Stücks. Madame Meyer als Donna Isabelle tat ihr Möglichstes, Madame Fleck als Beatrice etwas mehr. Manuel, Herr Beschort, zeigte zuweilen edle Stellungen; Iffland spielte den Bohemund, wie sich’s gehört, und am besten spielte Bethman den Cesar. In allen äußern Teilen wird das Stück hier hoch und prächtig gegeben, und selbst das Gruppenwesen, die Chöre ausgenommen, zeugt von Theaterkenntnis und Sorgsamkeit. Fast alle Gruppen der beiden Brüder, der Mutter und der Schwester verraten eine besondere Künstlerhand, und die Kleider sind schön, wie die Dekorationen, von denen viere neu sind. Die letzte Dekoration mit dem Sarkophag und einer neuen dazu gemachten Theatermusik kann ich vortrefflich nennen.

Das Spiel selbst zieht sich hier mehr ins Lange als Breite. Lange Reden in Versen sind nicht Madame Meyers Sache. Sie hat weder Atem noch Ton und also auch keine Modulation, Schillers Periodenbau zu umfassen, und darüber wird ein großer Teil des ersten und letzten Akts schleppend und undeutlich. Von Zeit zu Zeit sucht sie sich zusammenzuraffen und in die Höhe zu treiben, doch weiß sie sich nicht zu erhalten. Unser Publikum, im Vertrauen auf des Verfassers großen Namen, läßt keine Gelegenheit vorbei, die Artisten durch lauten und oft anhaltenden Beifall für die gute Sache zu ereifern, und es scheint den Durst nach dem Bessern, Höhern nicht länger verhehlen zu wollen. Das Haus war eben voll und bediente sich seiner Kraft.

Über die Chöre möchte ich lieber nichts sagen, weil mir alles dunkel und unbestimmt vorschwebt. Wetten wollte ich, daß Schiller recht hat und daß etwas dahinter liegt, was wir alle noch nicht kennen. Vielleicht schreibe ich Ihnen einst ein Mehreres darüber, wenn das Stück gedruckt ist und ich Schwarz auf Weiß vor mir liegen sehe. Mehrere Stellen der Chöre waren würklich von Wirkung, welches mir auch schon Freunde in Berlin vorhergesagt hatten. Wenn ich gedenke, daß unsere Truppe, jahraus, jahrein, tagtäglich sich mit den sogenannten Hausmannsstücken, mit dem Studium des ordinären, leicht faßlichen, familiären Wesens tummeln müssen und eine Menge des gemeinsten Stadt- und Lokalwesens, das fast nur auf die Wochentage paßt, im Munde führen sollen, so gestehe ich meine Verwunderung, wie sie sich so geschickt anzustellen verstehn, und Schiller selber würde nicht mit den einzelnen Teilen unzufrieden sein.

Die Stellung der Chöre war nicht nach meinem Sinne. Ich dächte, die Chöre müßten auf beiden Seiten dicht an den Kulissen und so weit im Hintergründe stehn als möglich, damit sie von den Hauptgruppen durch den größtmöglichsten Zwischenraum abgesondert blieben. Dadurch würden sie gleichsam ein Hauptelement des Ganzen, welches seine Luft und sein Licht durch sie erhielte. Man spricht sie hier nach dem Takte, wenigstens scheinen sie so eingelernt zu sein, und Iffland gibt durch seine Beweglichkeit hin und wider den Takt an. Diejenigen Stellen, welche glücklich mit dem Takte zutreffen, sind von großer Wirkung. Es wäre zu versuchen, ob der Takt nicht noch besser erhalten und das Ganze von bestimmterer Wirkung sein möchte, wenn der Takt durch gedämpfte Paukenschläge angegeben würde. Der Chor auf beiden Seiten müßte auch wohl in zwei Chöre geteilt sein, die nach Art der Antiphonien der Alten abwechselten, auch wohl gar in Fragen und Antworten bestehn könnten. Ein Tonkünstler müßte in jedem Falle dazugezogen werden, der da wüßte, was erreicht werden soll. Auch ließe sich wohl versuchen, die Chöre auf ordentliche Tribünen zu stellen, um sie unbeweglich zu erhalten; denn die Beweglichkeit, die sie hier haben, scheint nicht ihr Vorteil und der Vorteil des Stücks zu sein; sie könnten eher das Gemüt, den allgemeinen Sensum repräsentieren, und die Handlung würde dagegen kontrastieren. Ich weiß mein eigenes Gefühl hierüber nicht deutlicher zu machen, es müßte durch Proben geschehn, zu welchen man der Leichtigkeit wegen im Anfänge würkliche Sänger nähme, indem das Ganze erst wieder muß erfunden werden.

Ich wünschte wohl, von Ihnen über die wahre Tendenz des griechischen Chors belehrt zu werden. Ich habe mir solchen niemals anders vorstellen können als eine lebendige Wand, und deswegen glaubte ich, daß der Chor unbeweglich sein müsse. Es ließe sich freilich noch eine Deutung des Chors denken, wenn sie nicht zu fein und spekulativ erschiene. In den frühesten Zeiten des Drama kann es nämlich noch kein Publikum gegeben haben, dem ein Dichter hätte verständlich sein können; der Dichter war sonach genötiget, sich alles selber zu machen: die Sprache, das Stück, die Charaktere und auch das Publikum, und dies letztere könnte der Chorus repräsentiert haben. Wenigstens muß dieser Chorus sehr alten Ursprungs und von den Griechen schon vorgefunden sein. Sie nahmen ihn willig auf, um ihrem Auditorio ein Publikum gegenüberzustellen, durch das sie empfinden und denken lernen sollten, wie es der Dichter jedesmal will, und nichts heute fordern sollen, was der Dichter heute nicht geben will.
Sonnabend, den 9. Julius.
Ihr edles und schönes Geschenk, mein hochverehrter Freund, und Ihr Schreiben dabei sollen als ein Denk- und Ehrenmal bei meiner Familie bleiben. Ich bin stolz darauf und nehme es auf Treu und Glauben an, als ob ich es mir selber erworben und da verdient habe, wo Ehre zu erwerben ist.

Der herrliche Spaniol, der den Duft aller Musen haucht, ist mir ein wahres Labsal. Wenn ich nun etwas Gutes hervorbringe, ist es kein Wunder.

Ich muß schließen, wenn der Brief nicht noch einen Posttag hierbleiben soll. Lassen Sie sich den »Pyramus« empfohlen sein.

Zelter.

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