ALTERSLYRIK
Diese beiden Gipfel des Westöstlichen Divan, in dem fast Goethes ganze Alterslyrik zwar nicht der Masse nach umschlossen, aber der Art nach vorgebildet ist — nur die Marienbader Elegie erobert über ihn hinaus noch ein neues Gebiet des Gehalts und der Form — sind zugleich die Gipfel der kosmischen Lehrlyrik die er unter »Gott und Welt« zusammengefaßt und worin er ja Wiederfinden, als auch in dieser Reihe unentbehrlich, nochmals aufgenommen hat. Wiederfinden allein unter den hierhin gehörigen Gedichten gibt die rhythmische Selbstdarstellung des Erlebens woraus die Weisheit der übrigen stammt: die andren setzen es voraus und geben den gedanklichen, gleichnis- oder spruchhaften, Niederschlag der seelischen Vorgänge wodurch Goethe das All als ein menschlich sinnvolles Gefüge göttlicher Kräfte, beweglicher Gesetze, ausgewirkter Einheit oder vielfältiger Erscheinungen schauen lernte. Die Gegenstände des Lichts, nicht die Erleuchtung selbst, die Ergebnisse, nicht den Akt der Offenbarung, wie Selige Sehnsucht oder Wiederfinden, vermitteln sie.
Nicht alles was Goethe in »Gott und Welt«, einem absichtlich allgeeigneten Titel, bei der Schlußanordnung seiner Werke untergebracht hat, gehört in dieselbe Lage und Höhe oder auch nur nach Ton und Form in eine Gattung: es ist ein Verlegenheitstitel, aus zufälligen Redaktorpflichten und nicht aus einer inneren Zusammenschau gewählt, und so läßlich wie die andren stofflich, biographisch, metrisch oder sogar buchtechnisch begründeten Einteilungen, bei der Aufgabe die unermeßliche Ernte mehr als sechzigjährigen Dichtens einigermaßen einzuheimsen.
Eine einheitliche Gruppe bilden diejenigen Gedichte die das Gott-All selbst (nicht einzelne auf Gott oder Welt bezogene Kräfte und Erscheinungen — und seien es so umfassende wie Natur und Leben) feiern als sinnlich umgreifbares und geistig deutbares Ganzes, worin der Mensch lebt und west: Prooemion, Weltseele, Eins und Alles, Urworte. In denselben Kreis etwa gehören, von Goethe nicht hierhergestellt, außer Wiederfinden, noch die Engekchöre im Prolog zum Faust, Vermächtnis, und das Xenion „Wenn im Unendlichen dasselbe . . .“ Sie sind die knappsten Formeln für Goethes Weltanschauung, das Wort in ursprünglichem Sinn genommen, als Weltbild, als Weltvorstellung, oder im abgeleiteten (wie es heute papiernes Allerweltswort geworden ist) als Weltbegriff, als Summe derjenigen Urgedanken (Prinzipien) woraus man das Dasein und das Sossein der Welt zu verstehen sucht.
Der größere oder geringere Grad von Abstraktion unterscheidet diese Gedichte: Weltseele, Wiederfinden, auch die Engelschöre im Faustprolog, geben mehr Weltbild, die andren mehr Welterklärung, wobei freilich eine strenge Grenze nicht gezogen werden kann. Denn Goethes Schau schließt Deutung und Ordnung schon mit ein, sein Raum und Bild ist nicht nur passiver Eindruck den seine Sinne von außen empfangen, sondern eine schöpferische Aktion und Funktion seines Geistes. Aber ebensowenig sind seine Begriffe Konstruktionen, unabhängig von seinen Sinnen und ihren Eindrücken, vielmehr extrahierte, abstrahierte Anschauungen, ganz vergeistigte und schließlich verselbständigte Zeichen, Bedeutungen für die sinnenschweren Anschauungsinhalte .. wie sich die Buchstaben aus Bildern allmählich zu bildlosen Zeichen entwickelt haben, wie selbst das Wort Sinn, welches abstrakten Zweck, Grund, Wert einer Sache bedeutet, noch seinen Ursprung aus den Sinnen mitträgt. Goethes Begriffe und Lehren sind die Verselbständigung der geistigen Aktion und Funktion welche in jeder Anschauung, in jedem Bild als das Raumschaffende beschlossen ist, ja Kraft welcher erst aus sinnlichen Eindrücken Anschauung und Bild entsteht.
„Weltseele“ enthält denselben Gedanken wie „Wiederfinden“ und Goethe hat deshalb beide Gedichte in „Gott und Welt“ nebeneinander gestellt. Ihr Gegenstand ist die Weltwerdung durch die Liebe, die erotische Kosmogonie. Die Vereinigung von Mann und Weib, ein seelisches Erlebnis, ist zugleich das Zeichen, der Anfang und die Vollendung des kosmischen Geschehens wodurch die Welt wird und sichtbar wird, d.h. wodurch das menschliche Weltbild entsteht. In der Liebe schließt sich der Kreis des Lebens, in ihr kommt die lebendige Weltseele, welche ungeschaffens-schaffende Urkraft ohne Gestalt, Wissen und Bild ist, zum Bewußtsein, zum Bilde, zum Sinns-Bild ihrer selbst. In Wiederfinden hat Goethe diese Weltzeugung, die Weltbilds-werdung (und Welt-bildwerdung) aus der menschlichen Liebe an den Anfang, d. h. in die Mitte gestellt, als ein offenbarendes Erlebnis, von dem aus er die Weltwerdung entwickelt, die Kugel aller Erscheinungen ausstrahlt, die Weltseele in der menschlichen, in der eigenen erschütterten, sehnenden Seele fühlt und feiert: am Anfang war die Liebe die er jetzt erlebt, und durch sie wird das All, das in den Liebenden sich vollendet und erneuert.
In „Weltseele“ ist das All mit seinen Regionen schon da, Raum und Umfang der Kugel schon gegeben, und die sie durchdringende, aber noch nicht menschliche Weltseele begleitet der Seher von dem äußersten Umfang her durch immer engere, dichtere, wärmere Zonen bis zur Mensch-Mitte, in der sie sich vollendet und verewigt. In „Wiederfinden“ feiert Goethe die Raumwerdung des liebenden Menschen, in „Weltseele“ die Mensch-, ja die Liebewerdung des beseelten Raums. Dort ist der Kosmos als ein seelisches Prinzip, hier die Seele als ein kosmisches Prinzip, wie der Titel schon sagt, verherrlicht. „Wiederfinden“ geht lyrisch von einer seelischen Erschütterung, „Weltseele“ didaktisch von einer erhabenen Schau aus. Beide durchmessen den Raum zwischen Ich und All, aber auf entgegengesetztem Weg. „Wiederfinden“ ist die Ausbreitung eines Glutkerns in Erleuchtung, „Weltseele“ die Verdichtung eines Lichtmeers zum Brennpunkt. In „Wiederfinden“ waltet daher die Schwingung des Werdens als ein mitreißender Flug, in „Weltseele“ ist die erhabene Gewißheit des gesicherten Alls und der mild ruhevolle Herabblick von der unfehlbaren Überwölbung. Dort ist die menschliche Sehnsucht leidenschaftlich ins All hinausgeworfen, hier ist die Ruhe des göttlich bewegten Alls bis in die menschliche Liebe hineingebreitet, welche nicht mehr als Seelenvorgang, sondern als Naturgeschehen erscheint.
In beiden Gedichten ist das All im Werden gezeigt, sei es als ein Werden vom Umfang nach der Mitte oder umgekehrt. In dem Xenion „Wenn im Unendlich dasselbe . .“ gibt Goethe die Vorstellung der Kugel selbst, „das tausendfältige Gewölbe“ als ein Sein, aber als ein bewegtes Sein, die sinnbildliche Anschauung der einen Substanz mit ihren beiden Attributen extensio und cogitatio, die Aufhebung des Widerspruchs zwischen ewigem Werden und ewiger Ruhe derselben Einheit: „Und alles Drängen alles Ringen ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.“ Die Goethische Umdeutung, Umsehung der Spinozistischen extensio ist die Gottwelt als Werden, seine Umdeutung der Spinozistischen cogitatio ist das Schauen. Extensio, bei Spinoza zugleich statischer und mechanischer Raum, ist für Goethe nur als organisches Werden vorstellbar, und cogitatio, für Spinoza wesentlich mathematisch-logisch, ist für Goethe sinnlich geistiges Schauen. Das Werden, die eine Form des Gott-Alls, ist die ewige Bewegung . . das Schauen, die andre, ist die ewige Ruh.
Das kosmische Ringen und Drängen das ewige Ruh in Gott ist findet sein menschliches Gleichnis an der Dauer im Wechsel des menschlichen Lebens, und nur als solches Gleichnis mag das Gedicht „Dauer im Wechsel“, das ein Gelegenheitslied ist, in „Gott und Welt“ aufgenommen worden sein. Es ist eine lyrische Betrachtung über die Relativität der Vergängnis, und dadurch ein tröstliches Gegenstück zu den elegischen Jugendliedem die die Relativität des schönen Augenblicks beklagen.
Was in „Wiederfinden“ „Weltseele“ „Wenn im Unendlichen . . als Bild eines zwiefachen Werdens oder Seins erscheint, das geben „Prooemion“ „Eins und Alles“ „Vermächtnis“ als Gesetz, und zwar Gesetz in dem doppelten Sinn dessen was erkanntermaßen sein muß und was sittlichermaßen sein soll. Sie sind Lehre und Anwendung, nicht Lyrismus und Bild, darum schon fast dogmatisch formelhaft. Sie stehen am Ende des Wegs der vom glühenden Erlebnis über die warme Schau zum klaren („abgeklärten“) Be» griff führt, am Ende des Wegs der mit „Wiederfinden“ beginnt. Auch in diesen Gedichten ist die Doppeleinheit von Menschen-ich und Gott-all der Gegenstand, aber nicht das Wesen beider in ihrer Einheit, mag es als Werden oder als Sein erscheinen, sondern die Beziehung beider. „Prooemion“ ist die Anrufung des Allgottes als des im farbigen Abglanz dem Menschen offenbarten, unbegreiflichen Geheimnisses, des in ihm wirkenden, doch ihm verschlossenen Sichtbaren, aber nicht Erkennbaren. „Eins und Alles“ gilt dem Gesetz des Ich und jedes Sonderwesens: ins Werdende All einzugehen, drin unterzugehn, nur als vergängliche Form des unvergänglichen Werdens zu wirken, das sich durch einzelne Erscheinungen bekündet, aber nur durch deren Vernichtung und Erschaffung west und behauptet. Das Gedicht enthält den lehrhaften Extrakt aus dem Erlebnis der Vergänglichkeit, d. h. der Relativität des schönen Augenblicks (welcher nicht nur Ereignis sondern auch Bild, Form, Gestalt ist) gegenüber dem wandelnden All.
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