> Gedichte und Zitate für alle: F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Faust II Seite 178

2016-04-23

F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Faust II Seite 178


Zur Ergänzung der Helenawelt, nicht zur Fausthandlung, gehört die Gestalt des Euphorion, ebenfalls nicht eine Auswirkung des Faust oder auch nur des Helenaproblems, sondern eine nachträgliche Einlage aus anderweitigem Goethischen Bildungs oder Erlebnisstoff, etwa so im Faust als dem großen Sammelraum untergebracht, wie in den Wanderjahren Novellen oder Aphorismen. Ursprünglich ist die Figur rein ersonnen und nicht geschaut, als Allegorie des Gedankens daß Faust mit Helena, der allstrebende Mensch mit der ewigen klassischen Schönheit zeugt: das notwendige Zeichen des völligen Besitzes. Die Frucht dieser Vermählung erscheinen zu lassen und zugleich zu bedingen war die Aufgabe welcher Euphorion sein dichterisches Dasein verdankt. Was Goethe unter diesem Dämon aus menschlichem Sehnen und arkadisch selbstgenugsamer Fülle, aus Gewaltsamkeit und Grazie ursprünglich gedacht haben mag (etwa die Frucht aus romantischem und klassischem Geist) wag ich nicht auszumachen: genug, entstanden ist Euphorion als notwendige Denkfolge einer Ehe zwischen Faust und Helena, nachträglich bezogen wurde er auf und gefüllt durch den Lord Byron. Was er ohne den entscheidenden Eindruck dieser Gestalt für Züge angenommen hätte wissen wir nicht . . daß auch ohne Byron eine Frucht aus der Ehe zwischen Faust und Helena vorgesehen war ist anzunehmen: aber wie sie endgültig geformt wurde läßt sie sich ohne Byron gar nicht denken, derart daß die ganze Figur nur derVorwand scheint für den Totengesang auf Lord Byron, worin Goethes Verehrung transparent wird und fast den Rahmen des allegorischen Gefüges zugunsten einer lyrischen Huldigung ad spectatores durchbricht. Dem Untergang des Kindes aus Faust und Helena, welcher ebenso denknotwendig war wie seine Geburt, kam allerdings Lord Byrons mythisches Ende derart entgegen, daß seine Hereinziehung sinnvoll und nicht gewaltsam erscheint.

Das Versinken der Helena-weit, zu dem Euphorions Untergang das Zeichen gibt, war durch das Faustproblem dann gefordert. Auch dieser schöne Augenblick, der durch eine magische Aufhebung der „Zeit“ gewonnen war und daher in sich als zeitlose Ewigkeit ohne Streben gelten durfte, wird zerstört, sobald sein Zauberkreis überschritten wird. Das geschieht diesmal nicht durch Faust selbst sondern durch seinen Sohn: in Euphorion wirkt Faust, das Faustische, weiter und sein Sohn wirft ihn aus der arkadischen Ewigkeit wieder in die menschliche Zeit, in das Element des unbefriedigten Strebens zurück. Auf Euphorion wie auf Lynkeus sind Goethische Züge verteilt. Aber es ist ein Ausdruck der Goethischen Wandlung daß nicht mehr Faust selber Kraft seiner Natur der arkadischen Fülle satt wird, sondern daß sein Schicksal ihn wider Willen herausreißt. Genau genommen ist mit der Helenaepisode schon jener Augenblick erreicht zu dem Faust sagt „verweile doch, du bist so schön“ — und nur weil die Helena-weit als ein abgeschlossener magisch zeitloser Traum inmitten der Mensch- und Teufelswelt gelten kann, macht Mephisto hier noch keinen Anspruch: die Träume Fausts sind von seinem Pakt nicht betroffen, und das Erwachen aus dem Traum, das diesmal nicht freiwillig erfolgt, stellt den alten Zustand wieder her. Die Helenawelt, welche nur die Gestaltwerdung, die mythische Bildwerdung der zeit- und schicksallosen Urkräfte und dumpfen Elemente war, die Natur als Schönheit und Götterkreis, löst sich wieder ins gestaltenlose Stoffliche zurück aus dem sie durch Traum und Zauber (durch Apollo und Dionysos könnten wir heute sagen) emporgerufen und verwirklicht war. Helena und die Ihren werden wieder Schatten und Urstoff, und der Mensch tritt aus dem selbstgenugsamen Traum wieder zurück in die bedürftige Zeit, die er seit der Vision der Helena verlassen, seit dem Besitz der Helena vergessen hatte.

Der vierte Akt und der fünfte bis zum Tod des Faust fuhren ihn aus der Traumwelt der „klassisch romantischen Phantasmagorie“ wieder in den eigentlichen Weltraum den er mit seiner Wirksamkeit erfüllen soll. Es ist der uns schon bekannte Bereich des Kaisers, in dem sich die irdische Weltwerdung Fausts durch Tat und Leistung vollenden soll, wie sie mit Schau und Spiel darin begonnen. Der vierte Akt bereitet Faust den letzten Schauplatz seiner Erdentage vor, der fünfte führt ihn hinein und heraus: aus dem Reich der Wirklichkeit, das er erobert, soweit es der endlichen Kraft möglich war, in das Reich der Werte.

Da den Dichter selbst kraft seiner Entwicklung die Welt beim Fortgang des Faustdramas weit mehr beschäftigte als der Urcharakter und das Urproblem Fausts, welche einer überwundenen Epoche entstammten, und da er doch die Gestalt Fausts beibehalten mußte auch für seine neuen Probleme, so legte er mehr und mehr den Nachdruck von der Weltwerdung Fausts auf die Weltwerdung Fausts: die Welten durch die Faust geführt werden, in die er eingehen soll, ursprünglich Mittel, verselbständigen sich aus Mangel von neuem Interesse Goethes am eigentlich Faustischen, am titanischen Ich, mehr und mehr. Die Fausthandlung wurde für Goethe zu einem Vorwand um Weltarten darzustellen, und Faust verschwand in den verschiedenen Räumen beinah so wie Wilhelm Meister in den Bezirken seiner Wanderung. Wir konnten bisher den zweiten Teil charakterisieren durch die verschiedenen „Welten“ in denen Faust sich umtreibt, und vergaßen darüber fast daß wir es mit einer Fausthandlung, mit den Auswirkungen jenes strebenden Titanen und seines Gegenspielers Mephistopheles zu tun haben, mit der Fortsetzung des ersten Teils: so sehr wird Faust selbst verdeckt durch seine Welten oder überwuchtet durch die Mittel zu seiner Weltwerdung.

Wir bemerken bei der Gestaltung des Faust II dieselbe zentrifugale Tendenz die schon die Wanderjahre zu einem Sammelbecken Goethischer Bildung und Weisheit gemacht hatten, unter notdürftigem Bestand der Fiktion eines einheitlichen Helden mit einheitlichem Geschehen. Die zur Handlung benötigten Schauplätze wurden selbständig ausgemalt, benutzt zur Einschichtung von Erkenntnissen oder zum Ausladen bildnerischer Sondermotive, als Ablagerung aller erdenklichen Seelen- und Geistesgüter, die mit dem Faust ursprünglich nichts zu tun hatten .. abgesehen von nachträglichen Einlagen, weitschichtigen Hilfs- und Motivierungsszenen, die wiederum zum Sondergeschehen auswuchsen, und Zwischenspielen.

Ausmalung der „Welten“ Fausts, Motivierung der Wege Fausts in diese Welten durch Brückenszenen, selbständige nachträglich untergebrachte Einlagen — diesen drei Schichten des Mysteriums sind wir begegnet. Was hat Goethes zentrifugale Tendenz im zweiten Teil vom eigentlichen Faustcharakter, dem Träger des ursprünglichen faustischen Problems und der von diesem Charakter ausgehenden Fausthandlung übriggelassen? Welche Elemente des ursprünglichen Faustplans sind im zweiten Teil erhalten? wodurch ist der zweite Teil Fortsetzung und Abschluß des ersten und bewahrt die Kontinuität des Faustsymbols als Ausdruck des Goethischen Gesamtlebens?

Nur in wenigen Szenen wird der Charakter Fausts selbst sprachlich vergegenwärtigt, der titanische Bruder des Prometheus mit dem expansiven Drang nach Wirkung und Wirklichkeit — in allen andren wird er still- schweigend vorausgesetzt und seine Ausbreitung in die Welt nur durch die Welt selbst gezeichnet worin er sich, wie ein empfänglicher Reisender oder Einwohner bewegt. Nur im Gespräch mit Mephistopheles am Beginn des vierten Akts und in den Auftritten des fünften Akts bis zu seinem Tod erinnert sein eigenes Wort, Gebaren und Tun wieder daran daß er der Faust ist den sein Allstreben zum Teufelspakt trieb, den keine Lust sättigte, kein Glück begnügte, und nur hier wirkt sich sein Charakter selbst wieder als Handlung und Schicksal aus, nur hier füllt er wieder den umgebenden Raum selbst mit seiner Seele, mit seiner Wirksamkeit, nur hier ist seine Welt wieder bloßes Mittel, um seinen Charakter, sein Schicksal zu zeigen. Überall sonst gerät er zwar in die verschiedenen Welten, weil er der allstrebende Faust ist, er gibt das Motiv oder auch nur den Vorwand ab für diese Welten: aber das wissen wir nur, hie und da wird es auch gesagt, jedoch nicht gestaltet. Wir sähen in dem Faust des I—IV. Akts, wenn wir es nicht wüßten, weder den Beschwörer des Erdgeists, noch den Flucher, noch den Opferer Gretchens — nicht nur sein Umkreis, auch seine Gebärde ist anders. Erst in diesen beiden Szenenreihen (sie sind eigentlich eine und beziehen sich auf Fausts Wirken) erwacht wieder die heroische Ungeduld das ausgreifende und übergreifende Kraftgefühl und der titanische Trotz gegen Welt und Überwelt. Sonst ist er, durch Ungeduld vielleicht hingegeführt, an jedem Platz beruhigter Mitmacher, Beschauer, selbst Genießer, sofern er sich überhaupt geltend macht.

Nur hier kommt auch die Handlung wieder empor die seit der Flucht aus Gretchens Kerker gleichsam unterirdisch verlief, die eigentliche Fausthandlung: das Ringen zwischen Faust und Mephistopheles. Denn nur aus Fausts Charakter selbst kann diese Handlung sich nähren, und wo dieser Charakter suspendiert oder neutralisiert erschien, wie bei dem Mummenschanz, der klassischen Walpurgisnacht und der Helenaphantasmagorie, da gab es auch keinen Boden für die Fausthandlung, höchstens für eine worin Faust vorkam.

Nur in diesen Faustszenen tritt daher auch Mephistopheles wieder in sein altes, durch den Pakt verbrieftes Recht, als notwendiger Gegenspieler, als Treiber und Hemmnis, als Versucher und Verführer, als das wachsame und lauernde Nein dieses strebenden und wirkenden Ja. Erst hier hat sich Goethe wieder entsonnen daß der Faust nicht nur sein allumfassendes Lebensgedicht, sondern auch ein Drama mit einem bestimmten, von bestimmten Charakteren getragenen oder verkörperten Geschehen ist, zu welchem der Pakt zwischen Faust und Mephisto gehörte. Jetzt erst knüpft er, da das Ende Fausts naht, und die Lösung vor der Tür steht, wieder an die Voraussetzungen des Pakts an: an Mephistos Absicht auf Fausts Seele, an Fausts Unersättlichkeit, an Mephistos Teufelsgeist wie er sich im ersten Teil bekündet und Fausts Menschendrang. Denn auch Mephisto hatte als Teufel nichts zu tun, solange Faust nicht als Faust erschien: beide sind Korrelate und nur Fausts Grenzenlosigkeit ruft den Mephisto als Grenzensetzer, Fausts Ja sein Nein, Fausts Aufflug seinen Ab- und Hinabzug, Fausts Himmel seine Hölle hervor. Solange also Faust neutral blieb, war auch Mephistopheles neutral, und fast während des ganzen Stücks zum ironischen Berater, Glossator, Vertrauten, Helfer, zu Epilog oder Parabase geworden, mehr eine Kritik der durchlaufenen Welten ad spectatores als ein mitwirkender Faktor. Das Mephistophelische äußert sich mehr als intellektuelle Gesinnung denn als moralisch aktive Kraft. Dem beteiligten Betrachter Faust konnte er nur als unbeteiligter Krittler, aber nicht als Zerstörer gegenüberstehen, der klassischen Schönheitswelt vollends nur als der Verteidiger der Häßlichkeit, aber nicht als ihr Vernichter. Überall war er in die Defensive gedrängt, und da Faust im zweiten Teil ja die Grenzen, die abgeschlossenen Endlichkeiten, nicht wie im ersten, oder mindestens wie der Urfaust, als teuflisch, als widergöttlich empfindet, die „Schranken“ und „dauernden Gedanken“ selbst als gottgegeben anerkennt, im Verzicht nicht, wie der Paktierer Faust, schon das höllenwürdige Verbrechen sieht, so ist Mephisto dort seines eigentlichen Berufs beraubt, den er vom Urfaust mitgebracht hatte. Dieser Beruf war ja gerade das Relativmachen, die Verendlichung, der eigensinnige Krittel, das Beschränkende, Beschwerende, zum Ausruhen im sinnlich oder verständig Begrenzten Lockende, die Versuchung zum Niedren. Faust erlebte den Teufel ja zuerst unter diesem Aspekt, als den Gegensatz seiner Unendlichkeit. Wie sollte der form-, maß- und raum willige Faust der klassischen Walpurgisnacht und der Eigner der HeIena den Teufel erleben? Mephisto hatte sein Dräuen für ihn verloren, sie konnten sich an den Grenzen und über die Grenzen verständigen. Mephisto war als Satan, als Widergott überflüssig, solange Faust Gott in Maß und Grenzen ehrte, ja als kritischer Kommentator ganz willkommen.. und erst als der unendliche Faust wieder emportaucht, ist auch der Teufel wieder als solcher da.



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