> Gedichte und Zitate für alle: F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Faust II Seite 177

2016-04-20

F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Faust II Seite 177


Für eine Einzeldeutung der Walpurgisnachtsmotive ist hier nicht der Platz .. als Ganzes bedeutet sie für Faust den Weg zu Helena durch alle Vorstufen der klassischen Natur hindurch, wo selbst das Widerwärtige Kraft, Charakter und Gesetz hat, und noch Gewimmel, Kampf und Verführung sich sinn-, ziel- und stilvoll äußern. Von den Helden und Halbgöttem, den Geschöpfen und Ungeschöpfen des belebten Raums gelangt Faust an der Hand antiker Führer und Deuter immer tiefer in die Urelemente dieser formenträchtigen Welt, bis am Schluß in einem ungeheuern Zusammenklang, einer „Apotheose“ sich ihm das kosmische Prinzip offenbart dem diese Welt entstammt und das sie beherrscht, das die Elemente belebt, das in ihnen die ganze Reihe der dumpfen und hellen Geschöpfe zeugt hinauf bis zur Schönheit selbst die er sucht, die ihn treibt, um deretwillen er kommt: dies Prinzip, nicht mehr als dunkler Seelendrang, sondern als überseelische Weltkraft und als offenbarte Gottheit ist Eros, die Mitte und der Urgrund der klassischen Welt deren menschlicher Gipfel Helena ist. Durch die Offenbarung des antiken Eros, des Weltenschöpfers, wird der nordische Wandrer reif für Helena, die vollkommene Schönheit. Der Weg zur vollkommenen Schönheit führt durch ein Reich der dumpfen Mächte und Kräfte, nicht durch eine schon vollendete Gestaltenreihe: darum erscheint in der klassischen Walpurgisnacht kein homerischer oder tragischer Gott und Heros, keine der klassischen und olympischen Berühmtheiten, nur die elementarischen, unteren, abseitigen Halb- und Zwischenwesen. Seismos (nicht Pluto) Nereus (nicht Poseidon) Chiron (nicht Herakles) Eros (nicht Dionysos oder Aphrodite) sind die mythischen Vertreter dieses vorgestaltlichen Kräftereiches: erst mit Helena selbst, als dem gestalthaften Gipfel und zugleich der Überwindung des bloßen Kräftereiches, sind wir im klassischen, im Homerischen Bezirk der antiken Mythenwelt.

In die klassische Walpurgisnacht, die im ganzen weniger Fausthandlung als Einlage zur Unterbringung Goethischer Bildungsschätze und Erkenntnisse ist, hat Goethe auch die Homunkulusidee verwoben. Sie ist die Einpassung eines von der Faustsage wie von Goethes Faustproblem ursprünglich unabhängigen, als Alchimisten- und Humanistentraum überlieferten Motivs in den Faustgedanken, nicht so sehr das Ergebnis geheimnisvoller Erfahrung als eines geistreichen Einfalls. Homunkulus west, strebt und vergeht als ein genaues Gegenbild des Faust. Faust ist der durch Raum, Zeit .und Leib zu seiner Qual bedingte Mensch, der nach dem Unbedingten, aus den Bedingnissen heraus strebt. Homunkulus ist der nur gedachte, unbedingte Mensch, der um jeden Preis bedingt, d. h. wirklich, lebendig werden, in Raum und Zeit und die Elemente der Leiblichkeit eingehen möchte. Das Denken — Goethe hat es öfter betont — ist absolut, d. h. es gibt nichts was sich nicht erdenken ließe, und so kann auch Wagner, der Nur-kopf-mensch, seinen Homunkulus in die Welt setzen. Das Leben dagegen, die Wirklichkeit ist immer bedingt, und nur durch Bedingtheit läßt sich das Vollkommene erreichen, und nach dieser Vollkommenheit sehnt sich das Geistmännlein, welches alle Einsicht und Durchsicht, allen Sinn der Welt in sich hat und dennoch, genau wie das absolute Denken, kein eigentliches Dasein besitzt. Danach strebt es durch alle Elemente und Gestaltenreiche hindurch, um zu entstehen, um sich zu beleihen, um Fleisch und Blut, Geschlecht, Stoff und Raum zu seiner abstrakten Idee, der Idee Mensch zu gewinnen — und muß schließlich, als nur gedachtes, nicht lebendiges Gemächte vergehen an der eigentlich leben-, leib-, gestalt- und daseinschaffen- den Gewalt des Eros. Zu dieser drängt er sich, im Besitz der vollkommenen Einsicht, mit gutem Grunde, aber alle richtige Einsicht hilft nichts zum Leben, und so wenig man mit der Einsicht in die Gesetze des Zeugens ein Kind machen kann, wenn man nur Denken und kein Leben hat, so wenig kann man mit der bloßen Einsicht in die Gesetze der Menschwerdung ein Mensch werden. Das Gehirnprodukt zerschellt tragisch infolge seiner sterilen unbedingten Weisheit selbst an der höchsten Wirklichkeit.

Faust aber hat an dem Bild des unbedingten Homunkels ein warnendes Beispiel für seinen wahnhaften Drang nach Unbedingtheit, sei es des Denkens, welche möglich, aber unvollkommen, unfruchtbar und verderblich ist, sei es des Lebens, welche an sich unmöglich ist, da Leben nur durch Bedingtheit in Raum, Zeit, Stoff überhaupt „Leben“ ist.

Die Gestalt des Homunkulus konnte von Goethe erst konzipiert werden, nachdem ihm die notwendige Bedingtheit des Menschen aufgegangen, also nachdem ihm sein ursprünglicher Unbedingtheitsdrang, aus dem die Faustgestalt stammt, als ein Wahn offenbart war. Freilich mit der Einsicht in die Unmöglichkeit der Erreichung eines Zieles erlischt das Streben nach diesem Ziel noch nicht, wenn es wie bei Faust aus dem Leben selbst stammt, und nicht aus dem Denken. Fausts Streben nach Unbedingtheit, das ihm mit seinem Dasein selbst gegeben ist, kann durch keine Belehrung, auch durch das Beispiel des Homunkulus nicht, beschwichtigt werden — auch durch die Einsicht in seine Fruchtlosigkeit nicht, sowenig wie eine Krankheit geheilt wird durch das Wissen daß sie Krankheit ist. Das Leben hat seine eigenen Mittel uns zu gestalten, und zu diesen Mitteln gehören auch die vielleicht unerreichbaren Ziele, Träume, Ideale die es in unsrem Denken als Leuchten anzündet. So ist Homunkulus als Idee zwar ein Urteil über den Unbedingtheitsdrang.. sein Schicksal und Streben (denn auch Homunkulus ist gerade als Gegenbild des Faust wesentlich „Streben“) ist ein warnendes Beispiel für Faust, nicht die Widerlegung und Aufhebung des faustischen Strebens nach Unbedingtheit, welches ihn zwar nicht zu seinem Ziel führen und von seinem Leiden erlösen kann, aber ihn gerade das erreichen läßt wozu er vom Leben, jenseits seines Wissens um sich, geformt ward: die vollkommene Menschwerdung d. h. die allseitige Bedingtheit von der durchdrungenen Welt. "

Homunkulus ist ein Zwischenspiel der klassischen Walpurgisnacht, und zwar eine gedankliche Ergänzung der Faustidee, kein selbständiger Ausdruck Goethischen Erlebens. Homunkulus will sich eben dort bedingen, um zu entstehen, wo Faust sich einem neuen Ziel des unbedingten Strebens zu nähern hofft: der Helena — und nicht zufällig suchen sie beide ihre Vollendung im Reich des Eros, der gestaltenden Weltkraft, wo Homunkulus für Leib, Raum und Zeit.. Faust für die ewige, zeitlose Idee, für die Schau des Schönen reifen will. Die klassische Walpurgisnacht ist in der Gesamt-Ökonomie des Faust II das Vorspiel der „Helena“. Diese gilt nicht der Liebesleidenschaft (etwa als bloßes klassisches Gegenstück zur Gretchentragödie) sondern der Anbetung der objektiven Schönheit: die Leidenschaft Fausts ist im Besitz Helenas gestillt, und Helena ist für Faust nicht ein Weib das ihm Zeit und Raum verdrängt, sondern eine Göttin, d. h. das Sinnbild einer Welt, eine verkörperte Weltkraft. Um sie wird für ihn Welt, zeitloser Raum: Arkadien, wo die „Natur im reinen Kreise waltet“, wo „alle Welten sich ergreifen“ d. h. ineinander übergehn, ausgeglichen im göttlichen Menschenbild. Das Reimen der Helena bedeutet ihre Angleichung an Faust wie Fausts Rede in antiken Metren seine Reife für sie. Das Schauen und Zeugen, nicht das Begehren und Opfern ist die Aufgabe die ihre Gegenwart ihm stellt, und sie ist nach ihrer Vermählung nicht, wie Gretchen, die zufällige Illusion der vorstürmenden Seele, die sich eben Illusionen erschaffen, Helena in jedem Weibe sehen muß, um sich überhaupt auszuhalten, sondern die notwendige Erfüllung des ruhenden Geistes. Das „arkadisch freie Glück“ ist nicht Genuß, nicht Betäubung, nicht Schwelgerei, nicht dunkelsdrangvolles Erlöschen des Seins im raumlos schönen Augenblick, sondern die bewußte Helle der Sinne vor dem schönen Leib im schönen freien Raum, die Ausbreitung des Geistes im Reich der reinen Formen: es ist Goethes italienische Befriedung, und für die Zeit seiner Dauer die Aufhebung des eigentlichen Fausttums. Dadurch daß das Verweilen auch hier, auch im arkadischen Raum nicht möglich ist tritt Fausts Wesen wieder in seine verhängnisvollen Rechte ein, und eben durch Fausts Wesen ist auch hier das Verweilen unmöglich. Was er besitzen kann muß er auch überwinden, und sein Gesetz (darum versinkt die Helenawelt) ist nicht das ruhige selbstgenugsame Sein im Raum — Helena und Arkadien — sondern das Werden und Wirken in der Zeit: das selbstgenugsame Sein kann er wohl begehren, mit ihm zeugen, aber nicht behalten. Die Schönheit ist ein Gut, keine Form seines Lebens.

Ist Faust nach der klassischen Walpurgisnacht der ruhige Eigner der Schönheit, so ist Lynkeus als ihr Besessener, als ihr Begehrer, als ihr Opfer in die arkadische Welt ihm gegenübergestellt, als der den der Zauber der „Schönheit“ (im Faust I gab es keine objektive Schönheit, nur Liebe und Illusion der Schönheit) aus dem Gleichgewicht bringt, seiner Pflicht entzieht. In Lynkeus Strophen hat Goethe die überwältigende Macht der wirklichen Schönheit, die Blendung des Augenmenschen durch das erste Gewahrwerden des leibhaften Ideals ausgedrückt. Lynkeus ist nicht wie Faust allmählich durch Leben und Streben ihr langsam entgegengereift: er ist der einfach Blickende, Empfängliche, und das Erscheinen des vollkommen Schönen ist ihm ein erschütterndes Übermaß. Ein früherer Goethischer Zustand, eine Vorstufe der faustischen Bereitschaft für Helena ist in Lynkeus Stimme (nicht eigentlich Gestalt) geworden: die Wirkung der Schönheit die man nicht aktiv erobert sondern passiv erfährt, die wir nicht, geheimnisvoll zu ihr hinaufgetrieben, suchen, sondern die uns begegnet. Die Schönheit nicht als Natur und Geist sondern als Schicksal, nicht als Gesetz sondern als Zufall, als Überfall, als Überraschung, nicht als durchdrungene Form sondern als Zauberkraft, nicht als Sonne sondern als Blitz: all das, mehr Erfahrungsart des werdenden, des Übergangs-Goethe als des vollendeten Goethe, klingt aus dem Munde des Lynkeus, der als der schlichte, unbefangene, rein empfängliche, aber nicht gebildete, nicht vorbereitete Sinnenmensch, als der reine Jüngling zu verstehen ist. Seine Ausbrüche sind Einlagen, wie die des Phileros in der Pandora, und gehören als Lebensausdruck (unbeschadet der begrifflichen Beziehung seiner allegorischen Figur zum Faustdrama) in denselben Bereich wie diese, genährt aus dem sprengenden Glücks- und Spannungsgefühl das Goethe immer empfand wo ihm die Wirklichkeit mit neuem Zauber als Mensch oder Idee sich plötzlich offenbarte. Goethe war ja nicht nur wie Faust Sucher der Wirklichkeit, sondern oft auch überraschter Finder wie Lynkeus, nicht nur zum Streben und Wirken, auch zum Staunen geboren. Faust staunt nicht. Das helle Zeichen dieses staunenden Goethe ist als Lynkeus in seinem Lebenswerk untergebracht. Des Lynkeus Hymnus ist die Verherrlichung des seelischen Erlebnisses „Schönheit“, wie des Faust Umgang mit Helena die Darstellung der Welt* und Lebensform „Schönheit“ ist.



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