Goethe konnte sein Werk und seine Gestalt als abgeschlossen betrachten, seine sichtbare Wirksamkeit und den Raum den sie erfüllte, sobald oder sooft er den jeweiligen Zustand seines Lebens, sei er Gefühl, Schau oder Erkenntnis des Alls, im Einzelnen oder im Ganzen, mit seinem Ausdrucksmittel, der Sprache, verewigt hatte. In diesem Sinn war er jederzeit fertig und zum Aufbruch bereit, sein Leben mochte mit dem Werther oder mit den Wanderjahren auf hören. Was ihm zum Bilde werden konnte galt ihm als vollendet, und alles zum Bild, oder wenigstens zu Zeichen und Formel, zu machen, zur Helle und Gestalt zu gelangen war Trieb und Streben seines ganzen Lebens. Dies Leben selbst, nicht in seinen sukzessiven Zuständen, sondern als Trieb, Streben und Werden, das Ganze des Stroms, das Strömen, nicht seine einzelnen Wellen und Wendungen, festzuhalten, zum Bild zu machen und damit zu vollenden: das war die einzige, als solche von vornherein unlösbare Aufgabe die Goethe mit dem Faust zu lösen gedrängt war. Unlösbar, weil sein Leben selbst, sowohl wie er es führte als wie er es empfand (als Gelebtes und als Erlebtes) solang es dauerte, ein Werden war, und er schon einen Standpunkt jenseits dieses Lebens hätte haben müssen, um es vollendet anzuschauen. In dem Augenblick da er es als Bild empfand (das heißt als Ruhendes „Verweilendes“) hatte er es bereits gefälscht, in dem Augenblick da Faust dem ewigen Werden und Drängen Stillstand gebot, um es als Schönheit jenseits seiner selbst zu betrachten, hörte er auf Faust zu sein, hörte er auf zu sein, also für ihn: zu werden, zu streben. Denn Faust ist nicht nur ein strebender Mensch der zu dieser oder jener Form, zu diesem oder jenem Ziel gelangen will, er ist die Menschwerdung des Strebens (seelisch gesprochen) oder des Werdens (kosmisch gesprochen). Zum Begriff des Werdens gehört daß es sich der Bildwerdung als Ganzes widersetzt, wie zum Begriff des Goethe-Faust gehört daß er, solang er lebt, ein menschgewordnes Werden bleibt.
Dies kosmische Werden, dem begrenzten Menschen einverleibt, droht ihn zu zersprengen und wirkt in seinem Bewußtsein als Drang nach Erlösung und als Streben nach den Mitteln oder Zielen der Erlösung, die je nach Art und Stufe des Erlösungsbedürftigen wechseln, und immer nur vorläufige Illusionen sein können, da ja eben der kosmische Grund des menschlichen Strebens, das unendliche Werden, die endlichen, d. h. menschlich zeit- und raumbedingten Mittel, wie er sie erschafft so auch vernichtet und überdauert. Goethes Drang nach Erlösung äußerte sich als Drang des Ichs nach Weltwerdung, nach Erweiterung seiner raum-zeitlichen Menschenkraft zu der ihn spannenden und sprengenden Allkraft, welche er ja eben als ewiges Werden erfuhr. Die Mittel dazu wechselten mit seinen Jahren: bald sah er im Wirken, bald im Schauen, bald im Erkennen den Weg zur erlösenden Einswerdung mit der Werde-Gottheit . . aber unabhängig von seinen wechselnden Deutungen des Erlösungswegs, von seinen Illusionen, blieb seinem Streben das Bedürfnis und die Kraft eingesenkt zu sagen was er leide, von dem Druck im Anschauen seiner Zustände, im Gestalten seiner Wirkungen für Augenblicke auszuruhen, und so auch das allüberdauernde Werden, den kosmischen Grund seines menschlichen Lebens, zu offenbaren, soweit Unendliches mit endlichen Zeichen oder Sinnbildern sich offenbaren läßt.
Daß es sich nicht ganz ins Bild, d. h. in Ruhe bannen ließ, daß sein menschliches Streben mit dem kosmischen Werden nie —weder in der Tat noch im Bild — eins, also nicht erfüllt, hienieden nicht erlöst werden könne, das hatte Goethe von Illusion zu Illusion immer wieder erfahren müssen, das ist der letzte Grund seiner Entsagung, die mit zunehmender Höhe und Helle immer endgültiger wurde. Die ihm gemäße Art der Erlösung, Einheit seines menschlichen Lebens mit dem kosmischen Leben, welches ewiges Werden ist, scheiterte an der menschlichen Bedingtheit, von der die soziale Einschränkung des Allerweiterungswillens nur ein Zeichen ist — das ist sein sittlicher Verzicht: bewußte Einordnung in die zu engen Grenzen. Und die ihm gemäße Art der gestalterischen Entladung, die Wiedergabe des kosmischen Werdens und des unendlichen Strebens in einem menschlichen Sinnbild, scheiterte an der Unzulänglichkeit der menschlichen Ausdrucksmittel und Zeichen, die nur für Gewordenes und Werdendes ausreichen, aber nicht für das ganze Werden selbst — das ist sein ästhetischer Verzicht: daß er sich begnügen mußte mit allegorischer Andeutung, statt symbolischer Gestaltung des ewigen Problems dessen Gestaltung seine Lebensaufgabe war, daß er das in sich Unendliche doch nur vorläufig äußerlich, nicht innerlich abschließen mußte, daß er das ewige Werden nur als eine Bilderreihe, das unsterbliche Streben nur als einen strebenden Sterblichen zeigen mußte. Das vielleicht unbewußte Denkmal dieses ästhetischen Verzichts ist der Faust durch seine Form, wie er das bewußte Denkmal des sittlichen Verzichtes ist durch seinen Inhalt.
Es ist (und zwar gerade von Goethes, nicht von unsrem Anspruch aus) sittlicher Verzicht und nicht Erfüllung des ursprünglichen Fausttums, wenn er, der sich zum All erweitern wollte, wenn der kosmische Titan nach unbefriedigter Weltdurchfahrung den höchsten Augenblick erlebt in einem ob auch noch so fruchtbaren Staatsdienst (1), und es ist ästhetischer Verzicht, wenn wir das Schlußwerk Fausts als vollgültiges Sinnbild für die seelische Weltdurchdringung und Weltbeherrschung nehmen sollen: Faust endet, der sinnlich dichterischen Gestaltung nach (auf die alles ankommt, mag der allegorische Hintersinn sein welcher er wolle) als Spezialist, wie Wilhelm Meister, nur mit höherer Haltung und Stellung, und er war angelegt als Allumfasser, wie seine Brüder Mahomet und Prometheus. Es ist hier nicht die Frage ob eine andre Lösung dieses Problems möglich war — wir wissen seiner Natur nach keine bessere: aber die vorliegende Lösung ist eben Verzicht. Es ist metaphysischer Verzicht, sobald man den Schluß im Himmel wörtlich nimmt, wenn der Prometheus, der Gott trotzen oder Gott werden mußte, emporgezogen und entsühnt wird durch das Ewig-Weibliche, d. h. das ewige Sehnen, in den Schoß der göttlichen Liebe, und statt durch Vergottung sich durch Verzückung, also Entselbstung erlöst, und durch Entweltlichung statt durch Weltwerdung. Und es ist ästhetischer Verzicht, falls man ihn allegorisch nimmt, wenn Goethe sich dieses christlichen Gleichnisses, des Himmels, bedienen muß um ein nichtchristliches Erlebnis zu vergegenwärtigen.
Wenn wir Fausts Ende als einen Verzicht Goethes empfinden, als Zeichen wie als Bekenntnis eines Verzichtes, so heißt das nicht daß wir etwas daran zu vermissen haben, ebenso wenig wie an Goethes Leben überhaupt, wenn wir es als entsagendes verstehen, laut Goethes Bekennen und — Verschweiß gen: es heißt nur daß das von Goethe mit Werk und Wesen Erreichte, so unerreichbar hoch es uns bleibt, seiner eignen ursprünglichen Idee vom Erreichbaren, welche Verzicht ausschloß, nicht genügte, daß er seine große Leistung empfand als sei sie durch das Opfer noch größerer dem Schicksal, den Gesetzen, dem tragischen Untergang abgekauft, als hätte er sich seiner ganzen angebornen Fülle nach auswirken können, wenn er die Grenzen gesprengt und dadurch dem tragisch-heroischen Untergang sich ausgesetzt hätte, oder wenigstens in die ganze tragische Hölle deren Grauen erahnte eingedrungen wäre wie Dante und Shakespeare, auch ohne die Vorgewißheit ob er heil wieder herauskommen werde. Da er das nicht wußte, hat er es nicht getan und lieber seine gottgegebene Kraft innerhalb der menschlichen Grenzen genutzt, ohne bis ans Ende der Leistung zu gehen die nur mit dem Weg bis ans Ende des Leidens zu erkaufen war. Er hat dafür die Qual der Entsagung auf sich genommen, die jede höchste Kraft als Preis an Eros und Daimon zahlen muß, wenn sie nicht mit ihrem Leben oder mit dem Tod zahlen will, mit Martyrium oder Untergang, wie die Heiligen und die Helden.
Der Faust ist das Gleichnis seines Lebens das mit dem Anspruch auf völlige Auswirkung seiner selbst um jeden Preis bis zum heroischen oder tragischen Untergang anhebt und das mit dem Verzicht zugunsten der begrenzten, aber menschlich nutzbaren Auswirkung schließt: er ist das nicht durch eine einmalige Konzeption die von innen her sich planmäßig entwickelt und etwa das Schicksal dieses Verzichts als einen tragischen Fall darstellt, wie der Tasso oder die Wahlverwandtschaften, vielmehr grad seine Geschichte durch zwei Menschenalter hindurch mit den Wandlungen der ursprünglichen Konzeption macht ihn zum Gleichnis. Nicht nur die Erlebnisse die es behandelt, sondern das Leben das dieses Werk als selbständiges Gebilde führt, gibt die Kunde von Goethes Verzicht. Während Goethes andre Werke die jeweiligen Probleme seiner Lebensaugenblicke oder Lebensstufen darstellen, ist der Faust das Gesamtzeugnis des Daseins kraft dessen überhaupt jene Probleme bestehen und sich wandeln . . nicht nur Probleme seines Lebens — nein, sein Leben als Problem, als Problemreihe, ja die Abwandlung der Augenblicke und Stufen mit ihren Einzelproblemen gibt ihm den Inhalt, ist seine Geschichte und bestimmt seine Form.
Der Urfaust war entstanden, als Goethes Welterweiterungsdrang, sein mit ihm selbst ein für allemal gegebenes Streben nach Allheit, Unendlichkeit, Ewigkeit, zum erstenmal in tragischen Konflikt geriet mit seinem Wunsch auszuruhen im menschlich beschränkten und beschränkenden „schönen Augenblick“ den ein geliebtes Mädchen verkörperte: die Gretchentragödie, der Kern der Fausthandlung, keimt aus dem Gefühl der Schuld über die (kraft seines Alldrangs, seines Lebensgrundes) notwendige Zerstörung oder Entwertung jedes schönen Augenblicks worin er die sprengende Ewigkeit vergebens zu fassen oder zu vergessen suchte. Damals konnte Goethe sein ganzes Leben sehen als eine einzige Spannung zwischen seinem unendlichen Streben und seinen endlichen Augenblicken, zwischen dem ewigen Trieb und den zeitlichen Werten des Menschen, und das Gretchen wuchs aus dem bürgerlichen Trauerspiel heraus zum Sinnbild für des titanischen Goethe Opfer: daß er das jeweils Liebste, was ihm das Leben erst lebenswert machte, von Augenblick zu Augenblick zerstören mußte kraft dieses Lebens selber. Mephisto war ihm damals vor allem der Zerstörer der schönen Augenblicke, d. h. der dem irdisch bedingten Menschen in ihm ebenso notwendigen als dem ewigkeitsdurstigen unendlich strebenden Menschen in ihm unerlaubten Illusion, er finde je im Augenblick die Ewigkeit . . Mephisto war der Entwerter jeden Glücks worin er sich verewigen wollte und wiederum die stets drohende Gefahr: im bedingten Glück das der arme Teufel bieten konnte, im Verzicht sich selbst, sein unsterbliches Wesen und seinen göttlichen Wert, zu verlieren: das bedeutet der Pakt.
(1) Wie es Verzicht und nicht Erfüllung ist, wenn Wilhelm Meister, nach Absolvierung seines Weltkursus zu harmonischem Menschtum, ein Wundarzt wird.
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