> Gedichte und Zitate für alle: F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Faust II Seite 173

2016-04-17

F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Faust II Seite 173


Diese tragische Spannung zwischen seinen Bedürfnissen und seinen Kräften, seinem Lieben und seinem Streben, seinen Wünschen und seinem Wissen, seinen Augenblicken und seiner Dauer ließ nach, sobald Goethe seinen Drang nach Allwerdung nicht mehr im gefühlsmäßig leidenschaftlich ergriffenen Augenblick ausleben, das All nicht mehr umsonst und enttäuscht oder zerstörend im einzelnen Seelenerlebnis ungeduldig erfahren wollte, sondern als geordneten Kosmos allmählich zu schauen und zu durchdringen bereit war . . sobald die Relativität der schönen Augenblicke für ihn keine Erschütterung, Qual, Tragik mehr bedeutete und ihr repräsentativer Wert ihm genügte. Mit der italienischen Reise war der Tragik des Urfaust die Spitze abgebrochen: diese Tragik hatte den Titanismus Goethes zur Voraussetzung, die Ungeduld, das Ungenügen am Wissen und Forschen, die Alles- oder -Nichts-Stimmung des Gefühlsüberschwanges, dem alle Weisheit Seele und Selbstgefühl werden soll, alle Seele Wirkung und Welt. Diese Voraussetzung hatte die weimarisch-italienische Enttitanisierung Goethes aufgehoben. Sein Streben nach Allwerdung und seine Bedingtheit im Irdischen waren geblieben, aber die Mittel zur Verwirklichung hatten sich gewandelt und konnten ihn nicht mehr zu Gretchentragödien führen. Faust und Mephisto, die verkörperten Pole seines Lebens, waren noch nicht ausgeschöpft, aber ihre Spannung und der Raum zwischen ihnen war nach der italienischen Reise anders geworden. Was Goethe in und hinter Italien noch am ersten Teil des Faust gearbeitet hat, außer dem stilistischen Umguß, war nicht nur die nachträgliche Ausfüllung von Umrissen die ihm seit der Konzeption der Gretchentragödie vorgeschwebt hatten, Voraussetzungen und Ergänzungen der Gretchentragödie, sondern vor allem Erweiterungen der Gretchentragödie zum Faustdrama, der Fausttragödie zu seinem Lebensgleichnis, seines Lebensgedichtes zum Weltmysterium.


Erst in der Zeit zwischen dem Urfaust und dem Fragment 1790 ist Goethe die ganze Fruchtbarkeit der Faustidee, ihre Sinnbildlichkeit nicht nur für eine Krise seines Lebens, sondern für dies sein Leben selbst, voll bewußt geworden, und jetzt erst arbeitet er am Faust mit dem vorausschauenden, langatmigen, durchhaltenden Willen darin sein ganzes Leben auszudrücken. Denn der Urfaust ist noch die einmalige Beichte einer Herzenskrise wie der Werther und enthält nur den tragischen Seelenzustand des jungen Titanen. Das Friederikes Gretchenerlebnis war für den Dichter des Urfaust wenn nicht der Hauptgrund und Inhalt seines Faustgedichtes so doch der Antrieb zur Beichte und der Gegenstand woran ihm seine Fausttragik als Schuld und Lebensfluch erst deutlich ward. Einmal herausgestellt, ward ihm freilich die Gretchentragödie — ursprünglich das Sinnbild seines Lebensfluchs — zu einem Gleichnis unter anderen und zog nicht mehr die ganze Problematik Fausts allein auf sich: die Schuld Fausts an Gretchen wird eingeordnet einer umfassenden Weltschau in der alles auf Faust, wenig mehr auf Gretchen ankommt.

Schon die Zusätze die das Fragment über den Urfaust hinaus enthält sind Verselbständigungen des Faustproblems gegenüber dem Gretchenstück, in dessen dramatischen Dienst fast die ganze Szenenführung des Urfaust steht. Das Gespräch zwischen Faust und Mephistopheles „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“ enthält zum erstenmal die bewußte Ausfaltung des Urgegensatzes der beiden, ohne Rücksicht auf das Gretchenstück, der Höhlenmonolog zieht die Naturschau des Faust in den dumpferen Bereich seiner bloßen Leidenschaft herein und erweitert die dramatische Beichte einer Schuld zum philosophischen Bekenntnis eines Glaubens. Überhaupt erst im Fragment wird aus dem Urfaust der geistige Grund von Goethes Leidenschaft, sei sie Weltschmerz oder Liebe, dichterisch herausgehoben, der dramatische Ausbruch als Ausdruck von Seelenkräften, als Weltgefühl, als Glaube begriffen und gezeigt, die einmalige Krise zum ewigen Sinnbild, dramatisch gesprochen: verblaßt, philosophisch gesprochen: verklärt — kurz, der Faust wird zum bewußt-philosophischen Gedicht. Denn erst in den Jahren zwischen Urfaust und Fragment war Goethe von der gefühlsmäßigen Vorwegnahme seines Welt-und Lebenssinnes zur bewußten Deutung, vom Weltgefühl zur „Weltschau“, über den naiven Selbstausdruck hinaus zur Selbstschau und Selbstwertung gelangt.

Dieser Prozeß, dessen Anfänge wir in den Zusätzen des Fragments schon erkennen, ist vollendet beim Abschluß des ersten Teils. Was im Urfaust dumpf keimhaft in den Gestalten angelegt war, was zum erstenmal im Fragment als Bewußtsein hervorgeholt wird, die eigentliche Idee des Faust als philosophisches Weltgedicht und Selbstdarstellung des Goethischen GesamtsSeins, ist im I. Teil entfaltet, ausgesprochen, abgerundet: Die Einordnung der ursprünglich selbständigen Gretchentragödie ins Ganze der ewigen Spannung deren dumpfes Symptom sie war, die allseitige Durchbildung und Durchleuchtung des Kampfs zwischen Faust und Mephisto, die Erhebung des Seelendramas, des Menschengeschehens, zum kosmischen Mysterium. Faust und Mephisto sind jetzt erst als Weltkräfte gedacht und gedeutet, und ihr Gegensatz — ursprünglich das Sinnbild einer leidenschaftlichen Seelenspannung des jungen Goethe — hat sich ausgeweitet zum Weltgeschehen, wie ja jedes Weltbild die Projektion einer menschlichen Erfahrung ins All, jede Weltdeutung nur die Ausstrahlung einer Erlebnisart ist. Diese Erhöhung des Faust zum Mysterium (einer Dichtung die nicht nur von der menschlichen Seele sondern von den göttlichen Mächten handelt) wird vollzogen und sichtbar durch den philosophisch weitaus wichstigsten Zusatz des vollendeten ersten Teils: den Prolog im Himmel. Die andren Zusätze, der zweite große Monolog, der Osterspaziergang, der Fluch und der Pakt, die Walpurgisnacht, sind nur weitere philosophische Vertiefungen oder sinnliche Füllungen des Fragments, ändern aber dessen Grundanlage nicht mehr, wie die Zusätze des Fragments zum Urfaust Anlage und Sinn verändert hatten. Es sind, für sich betrachtet, weitere entscheidende Bekenntnisse aus dem einen Grundkonflikt, die verschiedenen Wendungen der allsdurstigen Seele gegen die Erscheinungsformen der Welt die jetzt nicht mehr in Bausch und Bogen als Ganzes genommen oder verworfen, sondern eben — kraft des neuen in Italien erlangten Verhältnisses zum Augenblick — am Einzelnen geprüft und von dem absoluten Streben gerichtet wird: die Natur als Schöpfung und als Landschaft, der Glaube, Ruhm, Reichtum, Macht, Schönheit, der Rausch, Traum, Zauber und Wahn, kurz alle Güter, Verführungen, Betäubungen, Erhebungen, alle Formen und alle Surrogate des schönen Augenblicks werden jetzt im ersten Teile als Erlebnisse wie als Werte, vom Wunsch wie,vom Wissen und Streben aus herangeführt, als Stoffe, Bilder und Opfer des Faustwesens, während im Urfaust noch das enttäuschte Suchen und die geopferte Liebe fast die einzigen Repräsentanten des ungenügenden Alls, die zwei Grundformen des Weltschmerzes erschienen waren.. und erst im Fragment erweitert der Sinn für die Natur und für die Gottheit den Bereich dieses Weltschmerzes. Doch während jene neuen Szenen, Ergebnisse des italienischen Objektivierungsprozesses, nur den im Fragment eroberten Bereich erweitern und füllen, dadurch zugleich die Symbolik verdeutlichend und die sinnlich- seelischen Keime des Faust entfaltend, verändert der Prolog im Himmel die ganze Perspektive dieses Bereichs selbst, und ist nicht ein einzelner Zusatz zum Vorhandnen, sondern eine Umdeutung des Ganzen.

Mit dem Prolog im Himmel hat Goethe einen archimedischen Punkt jenseits des ursprünglichen Faustproblems erreicht und schaut die seelische Spannung als einen kosmischen Vorgang. Sein eignes Leben, dessen innerer Druck, dessen äußerer Gang ihn zu Beichte und Bild drängte, wird hier gleichsam mit den Augen Gottes betrachtet . . was ihm die Welt bis zum Rand ausgefüllt hat wird eingereiht in einen göttlichen Plan, das menschliche Leiden, Streben, Irren wird überwölbt von der göttlichen Vorsehung (Voraussehung) und der Bekenner selbst ist es der sich den göttlichen Blick über all seinem menschlich zu Bekennenden errungen, der den ewigen Sinn seiner Erdenbahn sich erschlossen hat.

Die erhabenen Engelchöre vernehmen zu können, in die Wette zwischen Gott und dem Teufel, dem Schöpferischen und dem Begrenzenden, dem unbedingten Ja und dem bedingenden Nein, eingeweiht zu sein, den Plan und den Sinn des faustischen Drängens und Ringens in ewiger Ruh vorauszuwissen: das setzt bereits die Entrücktheit Goethes über die tragische Grundspannung voraus aus welcher der Urfaust empfangen, in welcher das Fragment fortgesetzt, zu deren Verewigung der erste Teil vollendet wurde. Hätte der Prolog im Himmel, so wie er dasteht, auch nur gedacht werden können vor dem Abschluß des ersten Teils, so wäre die ganze Gretchentragödie und das Fragment als Bekenntnis, als dramatische Selbstgestaltung, weil als Erlebnis, nicht möglich gewesen. Der Prolog und der Urfaust als gleichzeitige Konzeptionen schließen sich gegenseitig aus, weil nur aus dem absoluten Gefühl seines faustischen Leidens und Fluchs, aus dem allausfüllenden, allartigen Druck der Urfaust, nur aus der überlegenen Einsicht in die Relativität dieses Drucks der Prolog entstehen konnte. Aus dem suchenden Blick von innen nach außen ist das Weltbild des Urfaust entstanden, und das allmähliche Hell-und-weitwerden, die raumöffnende Gewalt dieses Sucherblicks erkennen wir an den Erweiterungen des Fragments und des ersten Teils. Mit dem Prolog im Himmel ist der Blick von außen nach innen, von oben herab erreicht, und das Faustdrama aus dem Ausdruck eines unvergänglichen, d.h. als allhaft empfundenen Menschenerlebens zum Gleichnis eines göttlichen Geschehens, zu dem vor Gott vergänglichen Gleichnis, geworden. Der Prolog im Himmel ist künstlerisch die verklärende Überwölbung des bewegten Faustdramas, das Paradiso des Goethischen Inferno, der ruhevolle Regenbogen über oder vor dem tosenden Wasserfall der faustischen Tragik. Er ist philosophisch die endgültige Maßgebung von der ewigen Gottesidee aus, die Wertung des Faustproblems von den göttlichen Gesetzen, vom unbedingten Ja aus(1).

Das Faustische selbst war freilich mit dem ersten Teil so wenig erledigt wie Goethes Leben, dessen Abdruck er ist. Doch wie sein Raum, seine Gegenstände und Außerungsarten sich enttitanisiert, objektiviert, auseinandergelegt, panoramisiert hatten, so mußte der Faust als Sinnbild des neuen Goethe jetzt nicht nur eine andre Welt um sich her suchen, finden oder schaffen als der titanische, sondern dieser Welt selbst auf eine neue, durch das Relativnehmen des schönen Augenblicks bedingte Weise begegnen. Das metaphysische Zeugnis für diesen Relativismus ist der Prolog: schon er verkündigt einen Zustand und eine Gesinnung welche den Faustgedanken, das wenn auch verwandelte so doch unverminderte Streben nach Allwerdung, nicht mehr als einmaligen tragischen Vorgang, sondern nur als vielfältige Bilderreihe, als Maskenzug würde auswirken können. Wir haben aber auch noch ein ästhetisches Zeugnis für diesen Relativismus gegenüber dem schönen Augenblick, gegenüber dem eignen Faustgedicht als dem Bekenntnis des nun überwundenen tragisch-titanischen Weltgefühls: das Vorspiel auf dem Theater.

(1) Wie im Westöstlichen Divan das Buch des Paradieses die Wertung der Hafishaltung und der Suleika-erlebnisse enthält.



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