Die zweite Schicht der Wanderjahre sind diejenigen Teile die unmittelbar an den Gestaltenkreis der Lehrjahre anknüpfen, und die dort noch Lernenden als Ausgelernte durch die Welt führen. Hier überwiegt das Pädagogische schon weit mehr. Die Leidenschaft und alle daraus hervorgehenden Verwicklungen sind völlig ausgeschieden: nur das Streben und das Leisten bestimmen die Handlung, und anstelle der Konflikte finden wir Aufgaben, anstelle der Gefahren Hindernisse, anstelle der dunklen Schicksale geheimnisvolle Anstalten, alle aber für die Vernunft als lösbar gedacht. Alle Personen in diesem Bereich, einerlei welchen Temperaments, sind mehr oder minder wissend, auch die noch nicht gereiften wenigstens willig und lenkbar — von dem Musterzögling Felix und seiner mutwilligen und einsichtigen Freundin Hersilie bis hinauf zu Makarie. Diese anerkennt nicht nur die Gesetze und Pflichten, sondern lebt bewußt in den ewigen Naturgesetzen selbst, gleichsam im Reich der Ideen, im Überpersönlichen, und ist über den praktischen Berufsverstand wie über die Weisheit hinaus bis zur Erleuchtung gelangt vor welcher die Trübungen der Materie und des Zufalls, der Empirie wie der Theorie verschwinden. Sie sieht quer durch alle Lebensverflechtungen, subjektiven Gründe und objektiven Beschränkungen der Menschen die geistigen Prinzipien des Geschehens und Handelns, wie astronomische oder mathematische Gesetze. Die „schöne Seele“ ist hier erhöht bis zur vollkommen reinen Schau nicht mehr der Erscheinungen, der Kräfte und der Gründe, sondern der Seelengesetze selbst. Alle andren Figuren sind mit der Menschenlenkung zu praktischen Zwecken beschäftigt, Makarie reicht darüber hinaus und redet und rät aus der zwecklos-reinen Gottesschau. Mit gutem Grund hat daher Goethe seine Weisheit, seine überpraktische Kenntnis der Gesetze, als Bruchstücke aus Makariens Archiv gegeben. Nur Makarie lebt in der Sphäre derselben Einsicht kraft welcher Goethe sich zum Erzieher endlich reif fühlte. Die anderen Figuren sind die vernünftigeren Exekutoren der aus Goethes Gottesschau abgeleiteten Winke, Makarie ist die Vertraute dieser Gottesschau selbst, seine eigentliche „Eingeweihte“.
Auch hier haben wir die Erklärung dafür daß er seine damalige Idee der heiligen Weisheit als Frau verkörpert in dem mehrfach erwähnten Prinzip seiner Natur, das durch die Schlußverse des Faust besiegelt wird. Makarie gehört in die Reihe der Seherfrauen die im europäischen Schrifttum mit Platos Diotima anhebt. In dem Erziehungsroman, der den Gesetzen der werktätigen und entsagenden Gemeinschaft gewidmet ist, ist sie zugleich inmitten der verschiedenen Fach- und Führergestalten, der Spezialisten, Kenner und Ordner, der Zöglinge und Erzieher, die ruhende Mitte der alldurchdringenden Schau die jedem vernünftigen Tun vorangehen muß, und durch völlige Kontemplation der Allempfindenden, daher Leidenden, zugleich der Gipfel der Entsagung. Sie allein wandert nicht sondern ruht, wirkt nicht sondern schaut, und will nicht sondern empfindet, durch alles Einseitige hindurch. Ihr physisches Leiden hat einen ähnlichen Sinn wie Ottiliens Kopfschmerzen, und sie muß in ihrer Jugend ein Ottilien-artiges Geschöpf gewesen sein . . wie Ottilie, wenn man sie sich als überlebend denken dürfte, zu einer Makarie reifen müßte. Das körperliche Leiden ist bei Goethe ein Zeichen für das wehrlos wissende Mitschwingen eines einzelnen gebrechlichen Organismus mit den Gesetzen des Weltganzen. Wo viel Weisheit ist viel Leiden, und die Überwindung des seelischen Leidens durch passive Weisheit läßt dem Körper die Empfindlichkeit zurück.
Im „Mann von fünfzig Jahren“ erscheint Makarie nicht nur um die Novelle aus technischen Gründen mit der Haupthandlung zu verflechten, sondern weil die zweite Sphäre des Romans, die Vernunftsphäre, mit der ersten, der Leidenschaftsphäre unmittelbar verbunden werden kann nur durch sie, die allein in beide zugleich, als Wissende in die Vernunftsphäre, und als Allempfindende, Allmitschwingende in die Leidensphäre hineinreicht, obwohl sie über beide hinausreicht in die Erleuchtung, worin Vernunft und Leben, cogitatio und extensio, keine Gegensätze mehr sind. Makarie ist Gipfel und Überwindung, Treffpunkt und Gleichungspunkt beider Sphären.
Was sonst aus den Lehrjahren übernommen wird, ist durchweg aus dem Bereich der Leidenschaft, der Irrnis und des Abenteuers in den Bereich der vernünftigen Pflicht, des Berufs, des Strebens gehoben (was gewiß keine eigentlich dichterische Hebung ist) . . selbst der Schelm Friedrich und die Sünderin Philine sind Pflicht- und Berufsmenschen geworden. Dem Theater, dem sinnlichen Bereich des Abenteuers und der Leidenschaft, dem pflichtlosen Zauber, wird in den Wanderjahren geradezu eine Absage erteilt, mit wehmütiger doch entschlossener Strenge. Und die dämonisch-poetische Welt Mignons spielt nur als ferner matter Abglanz, als landschaftlicher Schimmer noch herein, bei der (nicht sehr glücklich, weil allzu absichtlich um der Vollständigkeit willen) in die Mignongegend verlegten Begegnung der schönen Witwe, des Malers und Wilhelms. Das Bedürfnis die selbständige Novelle Der Mann von fünfzig Jahren, die zu umfangreich und zu gewichtig war um wie die anderen bloß als erzählende Einlage behandelt zu werden, mit der Haupthandlung zuverflechten, und Mignon, jenes zauberhafte, schon mythisch gewordene Element der Lehrjahre, welches dort wesentlich und unentbehrlich, hier aber der ganzen Anlage nach nicht unterzubringen war, für die Wanderjahre zu retten, hat dadurch gleichzeitig befriedigt werden sollen. Ein Wilhelm Meisterroman ohne Mignon schien undenkbar, aber Goethe konnte nicht mit seinem technischen Vorsatz ein Leben wieder bannen das diesem Kreis schon entrückt war. Mignon, das Schicksalsgeheimnis, hatte im Bereich der Erziehung keine Stelle mehr.
Die dritte Schicht der Wanderjahre hat, obwohl sie den eigentlichen Sinn des Werks enthält, wozu das andre mehr Rahmen und Beispiel ist, mit Dichtung fast nichts mehr zu tun: sie stammt völlig aus dem erzieherischen Zweck und bedient sich der Phantasie nur, um theoretische Erkenntnisse und praktische Forderungen einigermaßen im Zusammenhang mit einer Romanhandlung zu veranschaulichen: die pädagogische Provinz. Sie gehört zu Goethes Weisheit, nicht zu seiner Dichtung, und ihren Platz haben wir bestimmt durch unser Urteil über die Wanderjahre als Erziehungsbuch.
Nicht einmal mehr die Mühe einer gleichnishaften Einkleidung der Erkenntnisse und Forderungen gibt Goethe sich bei der vierten Schicht der Wanderjahre: bei den Maximen, Reflexionen oder Lehrgedichten die Anhang oder Einlage des Werkes bilden. Hier ist der Weg von Erlebnis zu Bild, von Bild zu Gleichnis, von Gleichnis zu Lehrsatz, die dreistufige Sublimierung und Extrahierung des geistigen Zwecks aus dem sinnlichen Stoff, der theoretischen Formel aus der dichterischen Schau, vollendet. Aus dem breiten Unterbau der Wanderjahre, der dichterische Elemente enthält, über die kaum noch dichterische Utopie, erhebt sich zuletzt die körper- und gewandlose Spruchweisheit welche die Mitte und der Grund des Werkes ist. Denn die Weisheit ist in Goethes Alter früher da als die dichterische Einkleidung. Handlung und Charaktere sind jetzt eigens erfunden, oder in früheren Jahren rein dichterisch konzipierte sind benutzt worden, um einem schon selbständig gewordenen, aus Goethes Gesamtdasein losgelösten Wissen und Wollen als allegorisches Gleichnis und Schmuck, als gefälliges Vehikel zu dienen. Während Goethe früher in Gestalten und Bildern lebte und dachte aus denen dann sich der Geist entwickelte, der Sinn gleichsam herausstrahlte oder sprühte in Spruchweisheit, während die Weisheit also nur eine Begleitung, eine Folge, eine Funktion seines ursprünglich dichterischen Erlebens und Schauens war, ist es jetzt umgekehrt, und das dichterische Vermögen, das Bedürfnis nach Bild und Bau — noch immer mächtig und dringlich genug um Goethe bis zum letzten Atem zu beschäftigen — steht doch im Dienst seiner verselbständigten Weisheit, als Allegorie und Dekoration.
So sind die Wanderjahre von einem Weisen geschrieben der dichten kann, nicht von einem Dichter der weise ist: sie sind durchaus ein reines Alterswerk Goethes, d.h. ihre Gesamtkonzeption, nicht nur ihre Ausführung, gehört schon derjenigen Stufe Goethes an auf der er vor allem Weiser, und als Bildner ein reiner Allegoriker und Dekorateur war. Auch das unterscheidet sie sehr vom zweiten Teil des Faust, dessen Konzeption noch in die dichterisch-symbolische Stufe Goethes fällt, wenn auch die Ausführung im Einzelnen sich in die allegorische Zeit hineinzieht und deren vielfache Spuren trägt. Faust ist ein Gesamtlebenswerk des Dichters Goethe an dem auch seine Alters Weisheit mitgearbeitet hat, und mindestens die beiden Hauptgestalten und Träger auch des zweiten Teils sind dichterische Sinnbilder und nicht Allegorien, nicht bloß herübergenommen und benutzt zu neuen, ihrem Ursinn fremden, nur der Altersweisheit gemäßen Zwecken, wie der Wilhelm Meister der Wanderjahre. Diese sind nur scheinbar, nicht wie der Faust wirklich, die Weiterbildung eines dichterisch entstandenen Gebildes. Im Faust II gehören Einzelheiten, nicht die Grundzüge, dem Alter an, in den Wanderjahren ist es umgekehrt. Darum bleiben die Wanderjahre das eigentlich bildnerische Alterswerk Goethes, das umfassende Ganze worin wir Goethes Altersart am selbständigsten, am wenigsten durch „zweite Jugend“ verwandelt und durchglüht (wie im Divan) und am wenigsten durch das alterlos Goethische Gesamtwesen getragen und gehoben (wie im Faust II) begreifen können: vor allem ist die Prosa der Wanderjahre das vollkommenste Beispiel für den prosaischen Altersstil Goethes.
Der wird bestimmt durch die fast übersichtige Helligkeit des Durchblickens, den Willen zur Distanz von den Gegenständen um jeden Preis und die entrückte Höhe seines Standpunktes bei dem Bedürfnis nach eindringlicher, lehrhafter, erzieherischer Deutlichkeit. Als Nebenfaktoren mögen noch an dieser Prosa mitgewirkt haben: die langjährige Amtspflicht einer nicht vom Menschlichen sondern vom Sachlichen bedingten formelhaften, umständlich abwägenden, gemessen kühlen Sprache .. die Notwendigkeit sich gegen den immer häufigeren Andrang der Außenwelt bei wachsendem Ruhm und zunehmender innerer Vereinsamung durch seelisches Zeremoniell zu sichern . . und die Gewohnheit des Diktierens. Begriffliche Klarheit, da es sich nicht mehr um Gefühlsausdruck sondern um Mitteilung, Belehrung und Ordnung handelte, da Goethe nicht für sich sondern für andre seine Einsichten veröffentlichte .. dabei gehaltene Kühle, da es nicht galt Fremde ins Vertrauen zu ziehn, zu überwältigen, zu gewinnen, sondern von oben herab innerhalb ihrer Grenzen aufzuklären, da der alte Goethe als Meister und nicht als Seelenfreund sprach, und (als natürliches Ergebnis von Deutlichkeit und Distanz) zeremoniöse Umständlichkeit sind schon aus der Einstellung Goethes bei seinen Alterswerken erklärlich. Denn wer eindringlich wirken will, ohne das Gegenüber bis an die eigene Seele heranzulassen, ohne sich ihm als verwandtes Ich aufzuschließen oder sich in die fremde Seele hinzugeben, ihr nah- und nachzugehen: der muß durch feierliche und bedeutsame Haltung, durch Autorität und Zeremoniell die Geister beeindrucken, die er nicht erwärmen oder umwerben mag. Und wer deutlich werden will, ohne Glut, Spannung und Lebhaftigkeit der Sprechweise, rein durch das Gesagte selbst, der muß auseinanderlegen, darlegen, durch Extensität einholen was ihm an gesammelter Intensität abgeht.
Jeder Stil, jeder Tonfall entspricht einer körperlichen Haltung und Gebärde und verrät nicht nur das Wissen, die Gefühle oder Gedanken des Urhebers, sondern auch sein Gehaben und darüber hinaus die Herkunft und Seelenschicht, Adel oder Niedrigkeit jenseits seiner Begabung oder seines Umfangs. Was sieht man für einen Menschen vor sich als Erzähler der Wanderjahre? Einen hohen Herrn der sich herabläßt, der uns in respektvoller Ferne hält, manchmal leutselig, nie vertraulich, manchmal lebhaft, nie warm, niemals aus dem Stegreif sprechend, sondern stets nach reiflicher Überlegung und beim Beginn jedes Satzes den ganzen Zusammenhang fast pedantisch vorausmessend.. einen Mann der weiß was seine Hörer nicht wissen können und nur durch ihn (aber auch nicht ganz) erfahren können, der viel für sich behält, der sich scheut sich etwas zu vergeben oder Perlen vor die Säue zu werfen, aber zu höflich, zu vornehm und zu gütig zugleich um seine Überlegenheit auszunützen oder geradezu fühlen zu lassen, vielmehr bereit soweit als möglich entgegenzukommen, und seine Macht, sein Geheimwissen, mehr als Reiz seiner Mitteilungen nutzend denn als Schranke. Er behandelt den Hörer nicht als Luft und zeigt daß er Wert darauf legt von ihm verstanden zu werden, wenn er auch nicht ganz verhehlen kann daß der Hörer vielleicht noch nicht ganz dafür reif ist. Er gibt sich eine Haltung die ihm nicht gemäß ist wann er mit sich allein ist, und die Höflichkeit, leise Starre, betontes Würdegefühl und erzwungene Beweglichkeit und Heiterkeit vereinigt: kurz, man merkt daß dieser Sprecher nicht zu seinesgleichen sondern zu tieferstehenden spricht, über Dinge die ihn bewegen, die er aber doch in der Sprache der Hörer künden muß, ohne zugleich zu verraten wie sehr sie ihn bewegen, oder wie sehr sie sein Eigenstes angingen.
Die Zwiefalt der Wanderjahre, daß sie Bekenntnisse eines einsamen Herzens und Lehren eines verantwortlichen Gemeinschaftsbildners zugleich sind, beherrscht auch ihren Stil: sein dämonisches Wissen soll er anwendbar machen, erzieherisch ausdrücken in der Sprache der Gesellschaft zu der er redet. Seine Weisheit reicht weiter als die gesellschaftlichen Sprachmittel deren er sich als Erzieher notgedrungen bedienen muß, und so erleben wir auch und grad an Goethes Altersprosa (also wo er nicht als Seher und Sänger übergesellschaftlich-rhythmisch reden darf oder kosmisch-bewegt sich zweckelos ausdrücken muß) das zugleich rührende und manch; mal ungeduldsweckende Schauspiel, daß der geheimnisvolle Zeus sich in den Galarock des Geheimrats zwängt, um überhaupt vor seinem Publikum gesellschaftlich erscheinen zu können. Die Geheimrätlichkeit ist halb freiwilliger Zwang, halb willkommner Vorwand (der schließlich ihm zur zweigten Natur geworden) um sein eignes Unantastbares mit einer gesellschaftlichen Schranke zu sichern und doch innerhalb der Gesellschaft sich nötigenfalls mitteilen zu können, nachdem er nun einmal zugunsten der Gesellschaft auf das sprengende Titanentum verzichtet hatte, und zugunsten seines expansiven und sympathetischen Menschtums auf die einsam nackte Göttlichkeit verzichten mußte. Den Zeus konnte die Gesellschaft weder verstehen noch ertragen, den Geheimrat mußte sie schließlich ehren und konnte sie zur Not begreifen, und drum bediente er sich der Geheimratsmaske gern auch da wo es Übergeheimrätliches zu künden oder wenigstens ahnen zu lassen galt. Das ist seine Altersprosa: gesellschaftliche Distanz als Vorwand einer übergesellschaftlichen, die er nicht mehr geltend machen durfte wenn er überhaupt auf Verständnis rechnete, und widerum gesellschaftliches Entgegenkommen und Herablassen als Form eines übergesellschaftlichen Mitteilungsbedürfnisses für das er keine Herzensvertrauten, keine Mitfühler mehr um sich sah. Zu göttlich um seinesgleichen zu finden, zu menschlich um selbstgenugsam zu schweigen, zu vornehm um unter seinem Niveau zu reden, schuf er sich eine künstliche Sprache aus Elementen seines Dichtertums und den vornehmsten Formen gesellschaftlicher Mitteilung, aus geistiger und sozialer Entrücktheit.
Ein wichtigstes grammatisches Zeichen dieses Zustandes ist zunächst der Gebrauch bestimmter Lieblingsworte als Chiffern: sie werden in Goethes Altersprosa eingesetzt wo er bestimmte typische Erfahrungen bekunden will für deren individuellen Gefühlsausdruck ihm die Sprache nicht genügt oder fehlt. Solche Worte sind: „heiter“, die schon erstarrte Formel für jede Art optisch-seelischen Glücks . . „geistreich“, die Formel für die Durchdringung der Materie durch die Vernunft, ungefähr was wir heute durchgeistigt, beseelt, genial nennen . . „angenehm“, die Formel für jede Art sinnlicher Anziehung, ebenso sehr unsrem „reizend“ „verlockend“ „hold“ „süß“ als unsrem „freundlich“ „gefällig“, selbst „entzückend“ verwandt.. „behaglich“, die Formel für alles Genügen im gegebenen Zustand, die breite Ruhe im eignen Sein und seiner Umgebung, endlich „bedeutend“.. die Formel für jeden die sinnliche Gegenwart überragenden, vertiefenden Eindruck, für das Ahnungsvolle, Sinnbildliche, Typische wie für das Wichtige, Auffallende, Erstaunliche.
An solchen Lieblingsformeln wird nur besonders klar was fast dem gesamten Wortgebrauch des alten Goethe eignet: der typische, chiffernhafte, uneigentliche Gebrauch der geistigen Wendungen, die Kluft zwischen dem Gesagten und dem Gedachten, die Erstarrung der lebendig geprägten Sprache zu Zeichen für nicht mehr unmittelbar Auszudrückendes, zur „Koteriesprache“. Der Leser muß es hinnehmen daß die und die Wendung bei Goethe auf einen eignen Hintersinn weist den er verschweigt, daß Goethe bestimmte Dinge nicht einmalig ausdrückt sondern durch Chiffern andeutet als vorhanden, wie es ja das Wesen jeder Amtssprache, jeder Kultsprache und jeder Konventionssprache ist: fast alle Titel, Anreden, Gruß- und Unterschriftsphrasen, wie alle Liturgien sind erstarrte Formeln in denen nicht mehr die Vorstellung, Geste, Gesinnung die ihren Wortinhalt bildet eingefangen, ausgedrückt, gefühlt ist, sondern eine andere vorgerufen wird: z. B. „Durchlaucht“ oder „Geheimer Hofrat“ oder „ihr ergebenster“, oder im Mund deutscher Beter „ora pro nobis“ . . das sind feste Zeichen, keine unmittelbaren Sprachbewegungen mehr — wie das Kreuz, die Svastika oder die Planetenzeichen keine Bilder, sondern Erkennungsmarken sind. Diesen zeichenhaften Charakter hat Goethes Altersprosa überhaupt, besonders in den Wanderjahren. Auch seine Sprache ist also allegorisch.
Damit verwandt ist die Freude an schnörkelhaften Umschreibungen, Hilfszeitworten und Hilfskonstruktionen, die nichts Eigenes und Neues enthalten, nur zwischen Vorstellung und Darstellung eine Art Puffer legen, damit Erzähler und Hörer sich nicht zu nah auf den Leib rücken: ein Zeremoniell des Sagens, ein weiteres Zeichen für Goethes Entrücktheit, für die Spannung zwischen Göttlichkeit und Geheimrätlichkeit. Selten wird der Inhalt einer Bemerkung hingesetzt ohne die Präambeln „ich bemerkte“ „ich glaubte zu bemerken“ „mir schien“ „es war nicht zu leugnen“ „ich ward aufmerksam“ „es drängte sich auf“ „es ist bekannt“ usw. Hilfsverben als Würdeschnörkel, breite Ausladungen mit „dürfte“ „möchte“ „pflegte“ „sollte“ „suchte“ und behagliche Umstandsworte wie „völlig“ „endlich“ „besonders“ „entschieden“ „tätig“ „trefflich“ legen sich vor das entscheidende Verb .. unbestimmte, mehr wertende, deutende als bezeichnende, malende, aktivierende Adjektive schieben sich vor die entscheidenden Hauptworte. Überall mußte Goethe den Leser zugleich festhalten und fernhalten, gegenständlich beschreiben und umständlich vermitteln, und seine Altersgrammatik bedient sich der Mittel der distanzierenden Amts- und Höflichkeitssprache, um sein unsagbar Eigenes hinter Formeln zu verbergen, sein Mitteilbares durch Formeln gewichtiger zu machen.
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