> Gedichte und Zitate für alle: F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Weltliteratur Seite 161

2016-04-06

F. Gundolf: "Goethe"- Biographie- Weltliteratur Seite 161


Nur noch ein fremder Dichter, den er persönlich nie sah, hat ihm lebendige, ja sogar tätige Teilnahme und unermüdliche Bewunderung durch seine Werke, und Erwiderung seines Huldigens entlockt: der Italiener Alessanaro Manzoni. Das in seiner Heimat als Neuerer von dem herrschenden Klassizismus (ähnlich wie Hugo in Frankreich) befehdete Haupt der italienischen romantischen Schule war Goethe nahgekommen durch einige strenge und farbig dichte Tragödien, durch seine anschaulich erhabene Ode auf Napoleons Tod und durch seinen großen historischen Roman I promessi sposi. Goethe hat mit empfehlenden Anzeigen, die zugleich als Verteidigung Manzonis gegen seine heimischen Angreifer gemeint waren und wirkten, Proben aus Adelchi und dem Carmagnola übersetzt, er gab eine skizzenhaft flüchtige, aber großartig sichere Verdeutschung der Napoleons-nänie, und er dachte sogar an eine Bearbeitung des Romans, in der Art von Cellinis Leben. I promessi sposi erweckten in gleichem Maß seine Bewunderung des Könnens und seine Rührung über den Gehalt, der weniger dem Stoff als der wahrhaft schönen Seele des Dichters angehörte. Und wirklich: Scott war hier auf seinem eigensten Gebiet, dem historischen Roman, von seinem Schüler erreicht, in der poetischen Evokation der Geschichte, in der farbigen Wiedergabe ferner Zustände und dem harmonischen Aufbau eines weitschichtigen Materials von Begebenheiten, und er war übertroffen durch die Beseeltheit und tiefe Menschlichkeit der Gestalten. Denn Manzoni war mehr als ein großer Erzähler, die Einbildungskraft war bei ihm mit einer lyrischen Innigkeit durchdrungen und von einem dramatischen Nerv gespannt, welche dem behäbigen, erfindungsreichen und kräftigen, aber allerdings im Grund trotz aller Romantik prosaischen Schotten fehlten. Manzoni war nicht nur ein tüchtiger Charakter, sondern eine schöne und innige Seele, und sein Roman wird durch diese lyrisch dramatischen Tugenden nicht verweichlicht, sondern gehoben: es ist vielleicht der einzige historische Roman, der in dem Sinne Dichtung bleibt wie Goethes Romane, dem die Zwitterhaftigkeit zwischen Geschichte und Poesie nicht anhaftet, und den man nicht nur aus stofflichen Interesse lesen kann, sondern mit Anteil an dem Menschtum des Dichters. Goethe hat mit sicherem Auge in dem jungen Manzoni den großen italienischen Dichter seines Zeitalters herausgefunden (den einzigen außer Leopardi, den er nicht kannte, und den er wohl, als krank und verzerrt, nicht geduldet hätte). Den erhabenen und dabei gefüllten, nicht hohlgeblähten, Schwung der Innisacri, insbesondere der Napoleonsfeier, diese weltfreudige und gottinnige, im reinsten Sinn katholische Hymnik hat kein zweiter Romane erreicht, und Goethe war froh eine solche Meisterschaft bei so schönem Gemüt zu finden. Und derselbe Mann erstaunte ihn zugleich durch Sachreichtum, Gegenständlichkeit und solide Erdnähe. So sah Goethe am Abend seines Lebens auch in der Sprache seines gelobten Landes eine Erneuerung in seinem Zeichen und einen großen Dichter der sein Jünger war. Von wo er einst auszog, um sich selbst heimzubringen zu reinerer Bildung, dahin kehrte er jetzt fern wirkend als Fürst der Weltliteratur zurück.

Die Namen Victor Hugo, Scott, Byron, Manzoni bezeichnen die Gipfel der werdenden Weltliteratur die Goethe übersah oder ahnte, wie ihm die Namen Hafis, Dante, Calderon die Gipfel der exotischen, die Bibel, Homer und Sophokles, Shakespeare und Moliere die Gipfel der klassischen Weltliteratur bezeichneten. Außer dieser dichterischen gab es noch eine wissenschaftliche Weltliteratur, welche aber nicht von Goethe erst begründet zu werden brauchte: denn sie beruht auf dem Austausch sachlicher Wahrheiten und Erkenntnisse, nicht auf der Aneignung des eigentümlichen Seelenausdrucks der Menschen und Völker, der nationalen Sprachen. Der Erkenntnisaustausch ist so alt wie der Sachentausch . . der Seelen- und Formenaustausch setzt eine lange Kultur voraus, und es kommt dabei auf die dunklen Kräfte des Menschtums, nicht auf seine Zwecke und seinen Nutzen an. Auch in die Mitte der wissenschaftlichen Weltliteratur, namentlich der naturwissenschaftlichen, hatte sich Goethe gestellt, aber nicht als anerkannter oder wirksamer Herrscher, sondern als Beobachter, und allenfalls mit Widerspruch oder Nachsicht bewundert wegen der Vielseitigkeit die den Verfasser des Werther auch dazu Zeit finden ließ. Seine Naturwissenschaft erhöhte im Ausland den Glanz seiner Person, ohne als solche dort Macht auszuüben. Hatte er doch selbst im Vaterlande als Naturforscher nur vereinzelte Anhänger, und auch diese waren meist nicht anerkannte Fachleute, sondern Naturphilosophen wie er selbst —oder seine unmittelbaren Gehilfen.

Goethes „Weltliteratur“ läßt uns einen Blick auf sein Übersetzertum werfen, denn eben auf dem Sprachaustausch der Völker beruht ja diese ganze Idee, und wie jede literarische Weltaneignung ist auch die Goethes mit Übersetzungen eingeleitet und ausgedrückt worden. Er hat sein ganzes Leben lang viel übersetzt, unmittelbar Werke aus Sprachen in der sie geschrieben waren, mittelbar, wenn er die Ursprache nicht kannte aus Sprachen in die sie bereits übersetzt waren. Seine Übersetzermotive, und demgemäß Methoden, waren verschiedener Art: beim Knaben war es reine Sprachübung, angewandte Grammatik, beim Jüngling der Herderzeit dichterische Freude am Formen, dem das Original nur als Vorwand und Stoff diente, als überwundener Widerstand, woran die eigene sprachlustige Seele und Zunge ihre formende Kraft erproben könne: so sind die Übersetzungen aus dem hohen Lied, aus den Völkerstimmen zu verstehen. Eine dritte Gruppe von Übersetzungen, aus seinen klassischen Mannesjahren, dankt Goethes Theater- oder Redakteurtätigkeit ihren Ursprung, seinem Bedürfnis das Repertoire oder die Zeitschriften mit wertvollem Zuwachs von draußen zu bereichern, wenn die heimische Produktion nicht genügte: dahin gehören seine umfangreichsten Übersetzungen, Tancred, Mahomet, Cellini, Rameau, sowie etliche Opernfragmente aus dem Italienischen. Freilich mußte hier dem äußern Bedürfnis innere Teilnahme an dem betreffenden Werk, der Glaube an seine Würdigkeit entsprechen: aber auch in diesem Fall hatte der fremde Autor mehr dem Interesse Goethes zu dienen als umgekehrt. Nicht die Einführung eines fremden Werks als solchen, sondern die Ernährung des Goethischen Publikums durch wertvolle Lektüre, einerlei woher sie grade Goethe in die Hand fiel, war der Grund dieser Dolmetschung. Voltaire, Diderot, Cellini, so wertvoll an sich sie sein mochten — ihr Wert war ja selbstverständliche Voraussetzung — boten doch nur Stoff worin Goethe sich und seine Richtung auslebte, waren nur fremdsprachige Medien Goethischen Geistes.

Eine vierte Gruppe von Übertragungen endlich diente wesentlich der Einführung des fremden Geistes, oder wenigstens dem Hinweis darauf, und nur hier fühlte sich Goethe weniger als Bearbeiter denn als Dolmetsch, Interpret, ja Impresario. Diese stammen alle aus seiner späteren Zeit, und eigentlich nur sie gehören zu seiner bewußt weltliterarischen Tätigkeit. In den andren ist er Schüler, Sprachbildner, Benutzer, unverantwortlich (wenn auch gewissenhaft) gegenüber dem fremden Gebilde, nur hier übers setzt er nicht um seinetwillen, sondern um des Fremden willen, freilich auch hier nicht als Diener am fremden Wort wie Luther, Voß, Schlegel, sondern als sein Herr, als sein Gönner, der künftigen Fachübersetzern rasche Winke gibt was und wie sie etwa zur Erweiterung der Weltliteratur dolmetschen könnten. Dahin gehören fast alle Übersetzungen aus seinem Alter, im Anhang zum Westöstlichen Divan, die Proben aus Byron, Manzoni und der übrigen Weltliteratur.

Niemals ist Goethe ein Übersetzer gewesen der sich in das fremde Original bis zur Selbstaufgabe eingetaucht hat, der hineingekrochen ist, um von innen heraus eins mit ihm zu werden oder auch nur sich mit ihm zu vermählen, wie Schlegel, oder um ganz in seinem Dienste sich zu vergessen, mit wie großem Eigensinn er auch die Arbeit leiste, wie Luther. Übersetzen war für Goethe immer nur eine beiläufige Aufgabe und stand stets im Dienst einer eignen produktiven oder belehrenden Hauptpflicht. Und alle Goethischen Übersetzungen lesen sich zunächst als Goethische Werke mit den eigentümlichen Zeichen des jeweiligen Goethischen Stils — Jugend-, Mannes- oder Alterstils — so daß wer es nicht wüßte Herkunft und Sonderart der Originale nicht ohne weiteres erkennen könnte.

Goethe unterschied drei Arten dichterischer Übersetzungen: die prosaische, welche einfach den fremden Inhalt bekannt macht, die parodistische, welche ihn mit eignem Sinn wieder darzustellen bemüht ist, und die wo man die Übersetzung dem Original auch der Form nach identisch machen möchte. Seine Übersetzungen hat er wohl der dritten Art beizählen wollen, aber auch hier gibt es Grade, je nachdem man den Begriff der Form die man eindeutschen will äußerlicher oder innerlicher faßt. Die äußere Form, d.h. die Metrik, und den Gedanken-oder Bildinhalt, hat Goethe wiedergeben wollen, aber nicht die innere Rhythmik, den Tonfall jedes Verses bis ins Einzelne hinein. Er überblickte einen Vers, eine Strophe, einen Abschnitt, nahm aus einer gewissen Distanz das Ganze seines Inhalts auf und formte diesen in Goethische Sprache um, ohne innerhalb dieser Einheiten noch nach Unter- und Nebentönen zu lauschen. „Beim Übersetzen muß man sich nur ja nicht in unmittelbaren Kampf mit der fremden Sprache einlassen. Man muß bis an das Unübersetzbare herangehen und dieses respektieren“. Diese Lehre, die Goethe gegen den Kanzler Müller ausspricht, ist richtig und gilt für jeden Übersetzer: nur ist die Grenze zwischen Übersetzbarem und Unübersetzbarem jeder Sprache nicht ein für allemal gegeben, sondern wechselt mit den verschiedenen Sprachzeitaltern, genau wie das Sagbare und das Unsagbare selbst, da jedes neue Zeitalter einen neuen bisher unausdrückbaren Lebensgehalt in den Sagbereich des Geistes heraufhebt —das gehört ja zum Begriff des „Zeitalters“. So haben in unsren Tagen Nietzsche und Stefan George in deutscher Sprache Dinge sagbar gemacht die zu Goethes Zeit noch im sprachlosen Chaos ruhten, und damit auch in fremden Sprachen die Grenzen des Unübersetzbaren weiter zurückgeschoben als sie damals lagen.

Übrigens hat Goethe selbst schon als Übersetzer vor der zu seiner Zeit durch Schlegel bereits erreichten Grenze des Unübersetzbaren halt gemacht nicht aus Mangel an Sprachgewalt, sondern aus Absicht, weil er nur Winke und Skizzen, keine durchgeführten Umdichtungen geben wollte und es vorzog über die fremden Vorlagen Goethisch zu phantasieren. Nur so war es ihm ja auch möglich auf Grund fremder oder sogar deutscher Bearbeitungen, bei Unkenntnis der Ursprache, so meisterliche halb exotische, halb Goethische Annäherungen an ein Original zu schaffen, wie z. B. die Stücke aus dem Moallakat im Anhang des Divan. Wo er aber die fremde Sprache kannte, und nicht nur skizzenhafte, sondern ausgeführte Übersetzungen geben wollte, wie bei Tancred, Mahomet, Cellini und Rameau, da „übersetzte“ er das Original in seinen Tonfall, Stil, selbst in das ihm gemäße Metrum. Wir haben so einige halbgoethische Werke erhalten, zu denen er selbst nicht den Stoff zu bringen und zu gestalten brauchte, sondern nur die Sprache als sinnliches Element. Wie er bei dieser Arbeit im einzelnen verfuhr, kann hier ergiebig nicht gezeigt werden und bleibe einer eigenen Untersuchung aufgespart, von der hier nur das Ergebnis festgestellt wird. Alles in allem hat Goethe unmittelbar als Übersetzer keine Epoche gemacht, wenn er auch mittelbar die Sprache bereitet hat in der die epochemachenden Übersetzer seines Zeitalters, Voß und Schlegel, wirken konnten. Er ist als Dolmetsch der Schüler Herders geblieben, und seine Verdeutschungen ziehen ihren Wert nicht so sehr aus ihrer übersetzerischen Treue (wie die Schlegels) als aus ihrer Goethischen Eigenart. Auch war er zu sehr Urgeist, als daß das Übersetzen selbst in seinem Leben eine entscheidende Bedeutung gewonnen hätte: es war für ihn ein Dichten dritten Grades, ein Sprechen aus vorgegebnem Gehalt, oder eine Nebenpflicht seiner weltliterarischen Stellung.

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