> Gedichte und Zitate für alle: Goethe. Des Knaben Wunderhorn S 2

2019-06-22

Goethe. Des Knaben Wunderhorn S 2

 



Desgleichen, mehr ins Zarte geleitet. »Der verlorne Schwimmer«. (236.) Anmutig und voll Gefühl. »Die Prager Schlacht«. (237.) Rasch und knapp, eben als wenn es drei Husaren gemacht hätten. »Frühlingsblumen«. (239.) Wenn man die Blumen nicht so entsetzlich satt hätte, so möchte dieser Kranz wohl artig sein. »Guckguck«. (241.) Neckisch bis zum Fratzenhaften, doch gefällig. »Die Frau von Weißenburg«. (242.) Eine gewaltige Fabel, nicht ungemäß vorgetragen. »Soldatentod«. (245.) Möchte vielleicht im Frieden und beim Ausmarsch erbaulich zu singen sein. Im Krieg und in der ernsten Nähe des Unheils wird so etwas greulich, wie das neuerlich belobte Lied: »Der Krieg ist gut«. »Die Rose«. (251.) Liebliche Liebesergebenheit. »Die Judentochter«. (252.) Passender seltsamer Vortrag zu konfusem und zerrüttetem Gemütswesen. »Drei Reiter«. (253.) Ewiges und unzerstörliches Lied des Scheidens und Meidens. »Schlachtlied«. (254.) In künftigen Zeiten zu singen. »Herr von Falkenstein«. (255.) Von der guten, zarten, innigen Romanzenart. »Das römische Glas«. (257.) Desgleichen. Etwas rätselhafter. »Rosmarin«. (258.) Ruhiger Blick ins Reich der Trennung. »Der Pfalzgraf am Rhein«. (259.) Barbarische Fabel und gemäßer Vortrag. »Vogel Phönix«. (261.) Nicht mißlungene christliche Allegorie. »Der unterirdische Pilger«. (262.) Müßte in Schächten, Stollen und auf Strecken gesungen und empfunden werden. Über der Erde wird's einem zu dunkel dabei. »Herr Olof«. (261 b.) Unschätzbare Ballade. »Ewigkeit«. (263 b.) Katholischer Kirchengesang. Wenn man die Menschen konfus machen will, so ist dies ganz der rechte Weg. »Der Graf und die Königstochter«. (265b.) Eine Art von Pyramus und Thisbe. Die Behandlung solcher Fabeln gelang unsern Voreltern nicht. »Moritz von Sachsen«. (270.) Ein ahnungsvoller Zustand und großes trauriges Ereignis mit Phantasie dargestellt. »Ulrich und Ännchen«. (274.) Die Fabel vom Blaubart, in mehr nördlicher Form, gemäß dargestellt. »Vom vornehmen Räuber«. (276.) Sehr tüchtig, dem »Lindenschmied« (125) zu vergleichen. »Der geistliche Kämpfer«. (277.) »Christ Gottes Sohn allhie« hätte durch sein Leiden wohl einen besseren Poeten verdient. »Dusle und Babely«. (281.) Köstlicher Abdruck des schweizerbäurischen Zustandes und des höchsten Ereignisses dort zwischen zwei Liebenden. »Der eifersüchtige Knabe«. (282.) Das Wehen und Weben der rätselhaft mordgeschichtlichen Romanzen ist hier höchst lebhaft zu fühlen. »Der Herr am Ölberg«. (283.) Diesem Gedicht geschieht Unrecht, daß es hier steht. In dieser, meist natürlichen Gesellschaft wird einem die Allegorie der Anlage sowie das poetisch Blumenhafte der Ausführung unbillig zuwider. »Abschied von Bremen«. (289.) Handwerksburschenhaft genug, doch zu prosaisch. »Aurora«. (291.) Gut gedacht, aber doch nur gedacht. »Werd ein Kind«. (291.) Ein schönes Motiv, pfaffenhaft verschoben. »Der ernsthafte Jäger«. (292.) Ein bißchen barsch, aber gut. »Der Mordknecht«. (294.) Bedeutend, seltsam und tüchtig. »Der Prinzenraub«. (296.) Nicht gerade zu schelten, aber nicht befriedigend. »Nächten und Heute«. (298.) Ein artig Lied des Inhalts, der so oft vorkommt: Cosi fan tutte und tutti. »Der Spaziergang«. (299.) Mehr Reflexion als Gesang. »Das Weltende«. (300.) Deutet aufs Quodlibet, läßt was zu wünschen übrig. »Bayrisches Alpenlied«. (301.) Allerliebst, nur wird man vornherein irre, wenn man nicht weiß, daß unter dem Palmbaum die Stechpalme gemeint ist. Mit einem Dutzend solcher Noten wäre manchem Liede zu mehrerer Klarheit zu helfen gewesen.

 »Jäger Wohlgemut«. (303.) Gut, aber nicht vorzüglich. »Der Himmel hängt voll Geigen«. (304.) Eine christliche Cocagne, nicht ohne Geist. »Die fromme Magd«. (306.) Gar hübsch und sittig. »Jagdglück«. (306.) Zum Gesang erfreulich, im Sinne nicht besonders. Überhaupt wiederholen die Jägerlieder, vom Tone des Waldhorns gewiegt, ihre Motive zu oft ohne Abwechseln. »Kartenspiel«. (308.) Artiger Einfall und guter Humor. »Für funfzehn Pfennige«. (309.) Von der allerbesten Art, einen humoristischen Refrain zu nutzen. »Der angeschossene Guckguck«. (311.) Nur Schall, ohne irgendeine Art von Inhalt. »Warnung«. (313.) Ein »Guckguck« von einer viel besseren Sorte. »Das große Kind«. (314.) Höchst süße. Wäre wohl wert, daß man ihm das Ungeschickte einiger Reime und Wendungen benähme. »Das heiße Afrika«. (315.) Spukt doch eigentlich nur der Halberstädter Grenadier. »Das Wiedersehn am Brunnen«. (317.) Voll Anmut und Gefühl. »Das Haßlocher Tal«. (319.) Seltsame Mordgeschichte, gehörig vorgetragen. »Abendlied«. (321.) Sehr lobenswürdig, von der recht guten lyrisch-episch-dramatischen Art. »Der Scheintod«. (322.) Sehr schöne wohlausgestattete Fabel, gut vorgetragen. »Die drei Schneider«. (325.) Wenn doch einmal eine Gilde vexiert werden soll, so geschieht's hier lustig genug. »Nächtliche Jagd«. (327.) Die Intention ist gut, der Ton nicht zu schelten, aber der Vortrag ist nicht hinreichend. »Spielmanns Grab«. (328.)

 Ausgelassenheit, unschätzbarer sinnlicher Bauernhumor. »Knabe und Veilchen«. (329.) Zart und zierlich. »Der Graf im Pfluge«. (330.) Gute Ballade, doch zu lang. »Drei Winterrosen«. (339.) Zu sehr abgekürzte Fabel von dem Wintergarten, der schon im Boiardo vorkommt. »Der beständige Freier«. (341.) Echo, versteckter Totentanz, wirklich sehr zu loben. »Von Hofleuten«. (343.) Wäre noch erfreulicher, wenn nicht eine, wie es scheint, falsche Überschrift auf eine Allegorie deutete, die man im Lied weder finden kann noch mag. »Lied beim Heuen«. (345.) Köstliches Vaudeville, das unter mehreren Ausgaben bekannt ist. »Fischpredigt«. (347.) Unvergleichlich, dem Sinne und der Behandlung nach. »Die Schlacht bei Sempach«. (349.) Wacker und derb, doch nahe zu chronikenhaft prosaisch. »Algerius«. (353.) Fromm, zart und voll Glaubenskraft. »Doppelte Liebe«. (354.) Artig, könnte aber der Situation nach artiger sein. »Manschettenblume«. (356.) Wunderlich romantisch, gehaltvoll. »Der Fähndrich«. (358.) Mit Eigenheit; doch hätte die Gewalt, welche der Fähndrich dem Mädchen angetan, müssen ausgedrückt werden, sonst hat es keinen Sinn, daß er hängen soll. »Gegen die Schweizer Bauern«. (360.) Tüchtige und doch poetische Gegenwart. Der Zug, daß ein Bauer das Glas in den Rhein wirft, weil er in dessen Farbenspiel den Pfauenschwanz zu sehen glaubt, ist höchst revolutionär und treffend. »Kinder still zu machen«. (362.) Recht artig und kindlich. 

»Gesellschaftslied«. (363.) In Tillen-Art kapital. »Das Gnadenbild«. (366.) Ist hübsch, wenn man sich den Zustand um einen solchen Wallfahrtsort vergegenwärtigen mag. »Geh du nur hin«. (371.) Frank und frech. »Verlorne Mühe«. (372.) Treffliche Darstellung weiblicher Betulichkeit und täppischen Männerwesens. »Starke Einbildungskraft«. (373.) Zarter Hauch, kaum festzuhalten. »Die schlechte Liebste«. (374.) Innig gefühlt und recht gedacht. »Maria auf der Reise«. (375.) Hübsch und zart, wie die Katholiken mit ihren mythologischen Figuren das gläubige Publikum gar zweckmäßig zu beschäftigen und zu belehren wissen. »Der geadelte Bauer«. (376.) Recht gut gesehen und mit Verdruß launisch dargestellt. »Abschiedszeichen«. (378.) Recht lieblich. »Die Ausgleichung«. (379.) Die bekannte Fabel vom Becher und Mantel, kurz und bedeutend genug dargestellt. »Petrus«. (382.) Scheint uns gezwungen freigeistisch. »Gott grüß euch, Alter«. (384.) Modern und sentimental, aber nicht zu schelten. »Schwere Wacht«. (386.) Zieht schon in das umständliche klang- und sangreiche Minnesängerwesen herüber. 1) »Jungfrau und Wächter«. Gar liebreich, doch auch zu umständlich. 2)»Der lustige Geselle«. Ist uns lieber als die vorhergehenden. 3) »Variation«. Macht hier zu großen Kontrast: denn es gehört zu der tiefen, wunderlichen, deutschen Balladenart. 4) »Beschluß«. Paßt nicht in diese Reihe. »Der Pilger und die fromme Dame«. (396.) Ein guter, wohldargestellter Schwank. »Kaiserliches Hochzeitlied«. (397.) Barbarisch-pedantisch und doch nicht ohne poetisches Verdienst. »Antwort Mariä auf den Gruß der Engel«. (406.) Das liebenswürdigste von allen christ-katholischen Gedichten in diesem Bande. »Stauffenberg und die Meerfeie«. (407.) Recht lobenswerte Fabel, gedrängt genug vorgetragen, klug verteilt. Würde zu kurz scheinen, wenn man nicht an lauter kürzere Gedichte gewöhnt wäre. »Des Schneiders Feierabend«. (418.) In der Holzschnittsart, so gut als man es nur wünschen kann. 

Mit dieser Charakterisierung aus dem Stegreife: denn wie könnte man sie anders unternehmen? gedenken wir niemand vorzugreifen, denen am wenigsten, die durch wahrhaft lyrischen Genuß und echte Teilnahme einer sich ausdehnenden Brust viel mehr von diesen Gedichten fassen werden, als in irgendeiner lakonischen Bestimmung des mehr oder minderen Bedeutens geleistet werden kann. Indessen sei uns über den Wert des Ganzen noch folgendes zu sagen vergönnt. Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk noch fürs Volk gedichtet sind, sondern weil sie so etwas Stämmiges, Tüchtiges in sich haben und begreifen, daß der kern- und stammhafte Teil der Nationen dergleichen Dinge faßt, behält, sich zueignet und mitunter fortpflanzt - dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend fürs Alter hat. Hier ist die Kunst mit der Natur im Konflikt, und eben dieses Werden, dieses wechselseitige Wirken, dieses Streben scheint ein Ziel zu suchen, und es hat sein Ziel schon erreicht. Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet; mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik, oder was sonst will, entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht, und wirkt selbst im dunkeln und trüben Elemente oft herrlicher, als es später im klaren vermag. 

Das lebhafte poetische Anschauen eines beschränkten Zustandes erhebt ein Einzelnes zum zwar begrenzten, doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Raume die ganze Welt zu sehen glauben. Der Drang einer tiefen Anschauung fordert Lakonismus. Was der Prose ein unverzeihliches Hinterstzuvörderst wäre, ist dem wahren poetischen Sinne Notwendigkeit, Tugend, und selbst das Ungehörige, wenn es an unsere ganze Kraft mit Ernst anspricht, regt sie zu einer unglaublich genußreichen Tätigkeit auf. Durch die obige einzelne Charakteristik sind wir einer Klassifikation ausgewichen, die vielleicht künftig noch eher geleistet werden kann, wenn mehrere dergleichen echte, bedeutende Grundgesänge zusammengestellt sind. Wir können jedoch unsere Vorliebe für diejenigen nicht bergen, wo lyrische, dramatische und epische Behandlung dergestalt ineinandergeflochten ist, daß sich erst ein Rätsel aufbaut und sodann mehr oder weniger, und wenn man will, epigrammatisch auflöst. Das bekannte: »Dein Schwert, wie ist's vom Blut so rot, Eduard, Eduard!« ist besonders im Originale das Höchste, was wir in dieser Art kennen. Möchten die Herausgeber aufgemuntert werden, aus dem reichen Vorrat ihrer Sammlungen, so wie aus alten vorliegenden schon gedruckten, bald noch einen Band folgen zu lassen, wobei wir denn freilich wünschen, daß sie sich vor dem Singsang der Minnesinger, vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersänger, so wie vor allem Pfäffischen und Pedantischen, höchlich hüten mögen. Brächten sie uns noch einen zweiten Teil dieser Art deutscher Lieder zusammen, so wären sie wohl aufzurufen, auch was fremde Nationen, Engländer am meisten, Franzosen weniger, Spanier in einem andern Sinne, Italiener fast gar nicht, dieser Liederweise besitzen, auszusuchen und sie im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen.

 Haben wir gleich zu Anfang die Kompetenz der Kritik, selbst im höheren Sinn, auf diese Arbeit gewissermaßen bezweifelt, so finden wir noch mehr Ursache, eine sondernde Untersuchung, inwiefern das alles, was uns hier gebracht ist, völlig echt oder mehr und weniger restauriert sei, von diesen Blättern abzulehnen. Die Herausgeber sind im Sinne des Erfordernisses so sehr, als man es in späterer. Zeit sein kann, und das hie und da seltsam Restaurierte, aus fremdartigen Teilen Verbundene, ja das Untergeschobene ist mit Dank anzunehmen. Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den Mund des Volkes, und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht! Warum soll der, der es in letzter Instanz aufzeichnet, mit andern zusammenstellt, nicht auch ein gewisses Recht daran haben? Besitzen wir doch aus früherer Zeit kein poetisches und kein heiliges Buch, als insofern es dem Auf- und Abschreiber solches zu überliefern gelang oder beliebte. Wenn wir in diesem Sinne die vor uns liegende gedruckte Sammlung dankbar und läßlich behandeln, so legen wir den Herausgebern desto ernstlicher ans Herz, ihr poetisches Archiv rein, streng und ordentlich zu halten. Es ist nicht nütze, daß alles gedruckt werde; aber sie werden sich ein Verdienst um die Nation erwerben, wenn sie mitwirken, daß wir eine Geschichte unserer Poesie und poetischen Kultur, worauf es denn doch nunmehr nach und nach hinausgehen muß, gründlich, aufrichtig und geistreich erhalten.
Goethe auf meiner Seite 


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