Der Begriff vom Dasein und der
Vollkommenheit ist ein und ebenderselbe; wenn wir
diesen Begriff so weit verfolgen, als es uns möglich
ist, so sagen wir, daß wir uns das Unendliche denken. Das Unendliche aber oder die
vollständige Existenz kann von uns nicht gedacht werden.
Wir können nur Dinge denken, die
entweder beschränkt sind oder die sich unsre Seele
beschränkt. Wir haben also insofern einen Begriff
vom Unendlichen, als wir uns denken können, daß es
eine vollständige Existenz gebe, welche außer der
Fassungskraft eines beschränkten Geistes ist. Man kann nicht sagen, daß das
Unendliche Teile habe.
Alle beschränkte Existenzen sind im
Unendlichen, sind aber keine Teile des Unendlichen,
sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit. Wir können uns nicht denken, daß
etwas Beschränktes durch sich selbst existiere, und doch
existiert alles wirklich durch sich selbst,
obgleich die Zustände so verkettet sind, daß einer aus dem
andern sich entwickeln muß und es also
scheint, daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde,
welches aber nicht ist, sondern ein lebendiges Wesen gibt
dem andern Anlaß, zu sein, und nötigt es, in
einem bestimmten Zustand zu existieren.
Jedes existierende Ding hat also sein
Dasein in sich, und so auch die Übereinstimmung,
nach der es existiert. Das Messen eines Dings ist eine grobe
Handlung, die auf lebendige Körper nicht anders
als höchst unvollkommen angewendet werden kann.
Ein lebendig existierendes Ding kann
durch nichts gemessen werden, was außer ihm ist,
sondern wenn es ja geschehen sollte, müßte es den
Maßstab selbst dazu hergeben; dieser aber ist höchst
geistig und kann durch die Sinne nicht gefunden werden;
schon beim Zirkel läßt sich das Maß des
Diameters nicht auf die Peripherie anwenden. So hat man den
Menschen mechanisch messen wollen, die Maler haben den Kopf als den vornehmsten Teil zu der Einheit
des Maßes genommen, es läßt sich aber doch
dasselbe nicht ohne sehr kleine und unaussprechliche Brüche
auf die übrigen Glieder anwenden.
In jedem lebendigen Wesen sind das, was
wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom
Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen
werden können, und es können weder die Teile zum Maß
des Ganzen noch das Ganze zum Maß der
Teile angewendet werden, und so nimmt, wie wir oben gesagt haben, ein eingeschränktes lebendiges
Wesen teil an der Unendlichkeit oder vielmehr, es hat
etwas Unendliches in sich, wenn wir nicht lieber sagen
wollen, daß wir den Begriff der Existenz und der
Vollkommenheit des eingeschränktesten lebendigen
Wesens nicht ganz fassen können und es also ebenso wie
das ungeheure Ganze, in dem alle Existenzen begriffen
sind, für unendlich erklären müssen.
Der Dinge, die wir gewahr werden, ist
eine ungeheure Menge, die Verhältnisse derselben, die
unsre Seele ergreifen kann, sind äußerst
mannigfaltig. Seelen, die eine innre Kraft haben, sich
auszubreiten, fangen an zu ordnen, um sich die Erkenntnis zu
erleichtern, fangen an zu fügen und zu verbinden,
um zum Genuß zu gelangen.
Wir müssen also alle Existenz und
Vollkommenheit in unsre Seele dergestalt beschränken,
daß sie unsrer Natur und unsrer Art zu denken
und zu empfinden angemessen werden; dann sagen wir erst,
daß wir eine Sache begreifen oder sie genießen.
Wird die Seele ein Verhältnis
gleichsam im Keime gewahr, dessen Harmonie, wenn sie ganz
entwickelt wäre, sie nicht ganz auf einmal
überschauen oder empfinden könnte, so nennen wir diesen
Eindruck erhaben, und es ist der herrlichste, der einer
menschlichen Seele zuteile werden kann. Wenn wir ein Verhältnis erblicken,
welches in seiner ganzen Entfaltung zu überschauen oder
zu ergreifen das Maß unsrer Seele eben hinreicht,
dann nennen wir den Eindruck groß.
Wir haben oben gesagt, daß alle
lebendig existierende Dinge ihr Verhältnis in sich haben;
den Eindruck also, den sie sowohl einzeln als in
Verbindung mit andern auf uns machen, wenn er nur
aus ihrem vollständigen Dasein entspringt,
nennen wir wahr, und wenn dieses Dasein teils auf eine
solche Weise beschränkt ist, daß wir es leicht
fassen können, und in einem solchen Verhältnis zu unsrer
Natur stehet, daß wir es gern ergreifen mögen, nennen
wir den Gegenstand schön.
Ein Gleiches geschieht, wenn sich
Menschen nach ihrer Fähigkeit ein Ganzes, es sei so
reich oder arm als es wolle, von dem Zusammenhange der
Dinge gebildet und nunmehr den Kreis zugeschlossen
haben.
Sie werden dasjenige, was sie am
bequemsten denken, worin sie einen Genuß finden können,
für das Gewisseste und Sicherste halten, ja man wird
meistenteils bemerken, daß sie andere, welche sich
nicht so leicht beruhigen und mehr Verhältnisse
göttlicher und menschlicher Dinge aufzusuchen und zu
erkennen streben, mit einem zufriedenen Mitleid
ansehen und bei jeder Gelegenheit bescheiden
trotzig merken lassen, daß sie im Wahren eine Sicherheit
gefunden, welche über allen Beweis und Verstand erhaben
sei. Sie können nicht genug ihre innere
beneidenswerte Ruhe und Freude rühmen und diese
Glückseligkeit einem jeden als das letzte Ziel andeuten. Da
sie aber weder klar zu entdecken imstande sind, auf
welchem Weg sie zu dieser Überzeugung gelangen,
noch was eigentlich der Grund derselbigen sei, sondern bloß
von Gewißheit als Gewißheit sprechen, so bleibt auch
dem Lehrbegierigen wenig Trost bei ihnen,
indem er immer hören muß, das Gemüt müsse
immer einfältiger und einfältiger werden, sich nur auf
einen Punkt hin richten, sich aller mannigfaltigen
verwirrenden Verhältnisse entschlagen, und nur
alsdenn könne man aber auch um desto sicherer in einem
Zustande sein Glück finden, der ein freiwilliges
Geschenk und eine besondere Gabe Gottes sei.
Nun möchten wir zwar nach unsrer Art
zu denken diese Beschränkung keine Gabe nennen,
weil ein Mangel nicht als eine Gabe angesehen
werden kann, wohl aber möchten wir es als eine
Gnade der Natur ansehen, daß sie, da der Mensch nur
meist zu unvollständigen Begriffen zu gelangen imstande ist, sie
ihn doch mit einer solchen Zufriedenheit
[in] seiner Enge versorgt hat.
Goethe auf meiner Seite
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