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2019-06-23

Goethe: Über Laokoon Seite 2




Die alten Vasen geben uns hundert Beispiele einer solchen anmutigen Gruppierung, und es würde vielleicht möglich sein, stufenweise von der ruhigsten Vasengruppe bis zu der höchst bewegten des Laokoon die schönsten Beispiele einer symmetrisch künstlichen, den Augen gefälligen Zusammensetzung darzulegen.

Ich getraue mir daher nochmals zu wiederholen:

daß die Gruppe des Laokoon neben allen übrigen anerkannten Verdiensten zugleich ein Muster sei von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen, die sich zusammen teils sinnlich, teils geistig dem Beschauer darbieten, bei dem hohen Pathos der Vorstellung eine angenehme Empfindung erregen und den Sturm der Leiden und Leidenschaft durch Anmut und Schönheit mildern.

Es ist ein großer Vorteil für ein Kunstwerk, wenn es selbständig, wenn es geschlossen ist. Ein ruhiger Gegenstand zeigt sich bloß in seinem Dasein, er ist
also durch und in sich selbst geschlossen. Ein Jupiter mit einem Donnerkeil im Schoß, eine Juno, die auf ihrer Majestät und Frauenwürde ruht, eine in sich versenkte
Minerva sind Gegenstände, die gleichsam nach außen keine Beziehung haben, sie ruhen auf und in sich und sind die ersten, liebsten Gegenstände der Bildhauerkunst. Aber in dem herrlichen Zirkel des mythischen Kunstkreises, in welchem die einzelnen
selbständigen Naturen stehen und ruhen, gibt es kleinere Zirkel, wo die einzelnen Gestalten in bezug auf andere gedacht und gearbeitet sind. 

Zum Exempel, die neun Musen mit ihrem Führer Apoll, ist jede für sich gedacht und ausgeführt, aber in dem ganzen mannigfaltigen Chor wird sie noch interessanter. Geht die Kunst zum leidenschaftlich Bedeutenden über, so kann sie wieder auf dieselbe Weise handeln: sie stellt uns entweder einen Kreis von Gestalten dar, die untereinander einen leidenschaftlichen Bezug haben, wie Niobe mit ihren Kindern, verfolgt von Apoll und Diana, oder sie zeigt uns in einem Werke die Bewegung
zugleich mit ihrer Ursache. Wir gedenken hier nur des anmutigen Knaben, der sich den Dorn aus dem Fuße zieht, der Ringer, zweier Gruppen von Faunen und Nymphen in Dresden und der bewegten herrlichen Gruppe des Laokoon.

Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Darstellung auf ihren höchsten Gipfel bringen kann und muß, weil sie den Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt. So ist auch bei dieser Gruppe Laokoon ein bloßer Name; von seiner Priesterschaft, von seinem Trojanisch-Nationellen, von allem poetischen und mythologischen Beiwesen haben ihn die Künstler entkleidet; er ist
nichts von allem, wozu ihn die Fabel macht, es ist ein Vater mit zwei Söhnen, in Gefahr, zwei gefährlichen Tieren unterzuliegen. So sind auch hier keine göttergesandten, sondern bloß natürliche Schlangen, mächtig genug, einige Menschen zu überwältigen, aber keineswegs, weder in ihrer Gestalt noch Handlung, außerordentliche, rächende, strafende Wesen. Ihrer Natur gemäß schleichen sie heran, umschlingen, schnüren zusammen, und die eine beißt erst gereizt. Sollte ich diese Gruppe, wenn mir keine weitere Deutung derselben bekannt wäre, erklären, so würde ich sie eine tragische Idylle nennen. Ein Vater schlief neben seinen beiden Söhnen, sie wurden von Schlangen umwunden und streben nun, erwachend, sich aus dem lebendigen Netze loszureißen.

Äußerst wichtig ist dieses Kunstwerk durch die Darstellung des Moments. Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz nachher muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu
lebendig sein.

Um die Intention des Laokoon recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung mit geschlossenen Augen davor; man öffne sie und schließe sie sogleich
wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da sie gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Gruppe nachts bei der Fackel sieht.

Der Zustand der drei Figuren ist mit der höchsten Weisheit stufenweise dargestellt; der älteste Sohn ist nur an den Extremitäten verstrickt, der zweite öfters umwunden, besonders ist ihm die Brust zusammengeschnürt; durch die Bewegung des rechten Arms sucht er sich Luft zu machen, mit der Linken drängt er sanft den Kopf der Schlange zurück, um sie abzuhalten, daß sie nicht noch einen Ring um die Brust ziehe; sie ist im Begriff, unter der Hand wegzuschlüpfen, keinesweg aber beißt sie. 

Der Vater hingegen will sich und die Kinder von diesen Umstrickungen mit Gewalt
befreien, er preßt die andere Schlange, und diese, gereizt, beißt ihn in die Hüfte. Um die Stellung des Vaters sowohl im ganzen als nach allen Teilen des Körpers zu erklären, scheint es mir am vorteilhaftesten, das augenblickliche Gefühl der Wunde als die Hauptursache der ganzen Bewegung anzugeben. Die Schlange hat nicht gebissen, sondern sie beißt, und zwar in den weichen Teil des Körpers, über und etwas hinter der Hüfte. Die Stellung des restaurierten Kopfes der Schlange hat den
eigentlichen Biß nie recht angegeben, glücklicherweise haben sich noch die Reste der beiden Kinnladen an dem hintern Teil der Statue erhalten, wenn nur nicht diese höchst wichtigen Spuren bei der jetzigen traurigen Veränderung auch verlorengehen! Die Schlange bringt dem unglücklichen Manne eine Wunde an dem Teile bei, wo der Mensch gegen jeden Reiz sehr empfindlich ist, wo sogar ein geringer Kitzel jene Bewegung hervorbringt, welche wir hier durch die Wunde bewirkt sehen: der Körper flieht auf die entgegengesetzte Seite, der Leib zieht sich ein, die Schulter drängt sich herunter, die Brust tritt hervor, der Kopf senkt sich nach der berührten Seite; da sich nun noch in den Füßen, die gefesselt, und in den Armen, die ringend sind, der Überrest der vorhergehenden Situation oder Handlung zeigt, so entsteht eine Zusammenwirkung von Streben und Fliehen, von Wirken und Leiden, von Anstrengen und Nachgeben, die vielleicht unter keiner andern Bedingung möglich wäre. Man verliert sich in Erstaunen über die Weisheit der Künstler, wenn man versucht, den Biß an einer andern Stelle anzubringen, die ganze Gebärde würde verändert sein, und auf keine Weise ist sie schicklicher denklich. Es ist also dieses ein Hauptsatz: der Künstler hat uns eine sinnliche Wirkung dargestellt, er zeigt uns auch die sinnliche Ursache. Der Punkt des Bisses, ich wiederhole es, bestimmt die gegenwärtigen Bewegungen der Glieder: das Fliehen des Unterkörpers, das Einziehen des Leibes, das Hervorstreben der Brust, das Niederzucken der Achsel und des Hauptes, ja alle die Züge des Angesichts seh ich durch diesen augenblicklichen, schmerzlichen, unerwarteten Reiz entschieden.

Fern aber sei es von mir, daß ich die Einheit der menschlichen Natur trennen, daß ich den geistigen Kräften dieses herrlich gebildeten Mannes ihr Mitwirken ableugnen, daß ich das Streben und Leiden einer großen Natur verkennen sollte. Angst, Furcht, Schrecken, väterliche Neigung scheinen auch mir sich durch diese Adern zu bewegen, in dieser Brust aufzusteigen, auf dieser Stirn sich zu furchen; gern gesteh
ich, daß mit dem sinnlichen auch das geistige Leiden auf der höchsten Stufe dargestellt sei, nur trage mann die Wirkung, die das Kunstwerk auf uns macht, nicht
zu lebhaft auf das Werk selbst über, besonders sehe man keine Wirkung des Gifts bei einem Körper, den erst im Augenblicke die Zähne der Schlange ergreifen; man sehe keinen Todeskampf bei einem herrlichen, strebenden, gesunden, kaum verwundeten Körper. Hier sei mir eine Bemerkung erlaubt, die für die bildende Kunst von Wichtigkeit ist; der höchste pathetische Ausdruck, den sie darstellen kann, schwebt auf dem Übergange eines Zustandes in den andern. Man sehe ein lebhaftes Kind, das mit aller Energie und Lust des Lebens rennt, springt und sich ergötzt, dann aber etwa unverhofft von einem Gespielen hart getroffen oder sonst physisch oder moralisch heftig verletzt wird; diese neue Empfindung teilt sich wie ein elektrischer Schlag allen Gliedern mit, und ein solcher Übersprung ist im höchsten Sinne pathetisch, es ist ein Gegensatz, von dem man ohne Erfahrung keinen Begriff hat. Hier wirkt nun offenbar der geistige sowohl als der physische Mensch. Bleibt alsdann bei einem solchen Übergange noch die deutliche Spur vom vorhergehenden Zustande, so entsteht der herrlichste Gegenstand für die bildende Kunst, wie beim Laokoon der Fall ist, wo Streben und Leiden in einem Augenblick vereinigt sind. So würde z.B. Eurydike, die im Moment, da sie mit gesammelten Blumen fröhlich über die Wiese geht, von einer getretenen Schlange in die Ferse gebissen wird, eine sehr pathetische Statue machen, wenn nicht allein durch die herabfallenden Blumen, sondern durch die Richtung aller Glieder und das Schwanken der Falten der doppelte Zustand des fröhlichen Vorschreitens und des schmerzlichen Anhaltens ausgedrückt werden könnte.

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