Wenn wir nun die Hauptfigur in diesem Sinne gefaßt haben, so können wir auf die Verhältnisse, Abstufungen und Gegensätze sämtlicher Teile des ganzen Werkes mit einem freien und sichern Blicke hinsehen.
Der gewählte Gegenstand ist einer der glücklichsten, die sich denken lassen. Menschen mit gefährlichen Tieren im Kampfe, und zwar mit Tieren, die nicht als Massen oder Gewalten, sondern als ausgeteilte Kräfte wirken, nicht von einer Seite drohen, nicht einen zusammengefaßten Widerstand fordern, sondern die nach ihrer ausgedehnten Organisation fähig sind, drei Menschen mehr oder weniger ohne Verletzung zu paralysieren. Durch dieses Mittel der Lähmung wird bei der großen Bewegung über das Ganze schon eine gewisse Ruhe und Einheit verbreitet.
Die Wirkungen der Schlangen sind stufenweise angegeben. Die eine umschlingt nur, die andere wir gereizt und verletzt ihren Gegner. Die drei Menschen sind gleichfalls äußerst weise gewählt: Ein starker, wohlgebauter Mann, aber schon über die Jahre der größten Energie hinaus, weniger fähig, Schmerz undnLeiden zu widerstehen. Man denke sich an seiner Statt einen rüstigen Jüngling, und die Gruppe wird ihren ganzen Wert verlieren. Mit ihm leiden zwei Knaben, die, selbst dem Maße nach, gegen ihn klein gehalten sind; abermals zwei Naturen empfänglich für Schmerz.
Der jüngere strebt ohnmächtig, er ist geängstigt, aber nicht verletzt; der Vater strebt mächtig, aber unwirksam, vielmehr bringt sein Streben die entgegengesetzte Wirkung hervor. Er reizt seinen Gegner und wird verwundet. Der älteste Sohn ist am leichtesten verstrickt; er fühlt weder Beklemmung noch Schmerz, er erschrickt über die augenblickliche Verwundung und Bewegung seines Vaters, er schreit auf, indem er das Schlangenende von dem einen Fuße abzustreifen sucht; hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge und Teilnehmer bei der Tat, und das Werk ist abgeschlossen.
Was ich schon im Vorbeigehen berührt habe, will ich hier noch besonders bemerken: daß alle drei Figuren eine doppelte Handlung äußern und so höchst mannigfaltig beschäftigt sind. Der jüngste Sohn will sich durch Erhöhung des rechten Arms Luft machen und drängt mit der linken Hand den Kopf der Schlange zurück, er will sich das gegenwärtige Übel erleichtern und das größere verhindern: der höchste Grad von Tätigkeit, der ihm in seiner gefangenen Lage noch übrigbleibt. Der Vater strebt, sich von den Schlangen loszuwinden, und der Körper flieht zugleich vor dem augenblicklichen Bisse. Der ältest Sohn entsetzt sich vor der Bewegung des Vaters und sucht sich von der leicht umwindenden Schlange zu befreien.
Schon oben ist der Gipfel des vorgestellten Augenblicksals ein großer Vorzug dieses Kunstwerks gerühmt, und hier ist noch besonders davon zu sprechen. Wir nahmen an, daß natürliche Schlangen einen Vater mit seinen Söhnen im Schlaf umwunden, damit wir bei Betrachtung der Momente eine Steigerung vor uns sähen. Die ersten Augenblicke des Umwindens im Schlafe sind ahndungsvoll, aber für die Kunst unbedeutend.
Man könnte vielleicht einen schlafenden jungen Herkules bilden, wie er von Schlangen umwunden wird, dessen Gestalt und Ruhe uns aber zeigte, was wir von seinem Erwachen zu erwarten hätten.
Gehen wir nun weiter und denken uns den Vater, der sich mit seinen Kindern, es sei nun, wie es sei, von Schlangen umwunden fühlt, so gibt es nur einen Moment des höchsten Interesse: wenn der eine Körper durch die Umwindung wehrlos gemacht ist, wenn der andere zwar wehrhaft, aber verletzt ist und dem dritten eine Hoffnung zur Flucht übrigbleibt. In dem ersten Falle ist der jüngere Sohn, im zweiten der Vater,
im dritten der ältere Sohn. Man versuche noch einen andern Fall zu finden! man suche die Rollen anders, als sie hier ausgeteilt sind, zu verteilen! Denken wir nun die Handlung vom Anfang herauf und erkennen, daß sie gegenwärtig auf dem höchsten
Punkt steht, so werden wir, wenn wir die nächstfolgenden und fernern Momente bedenken, sogleich gewahr werden, daß sich die ganze Gruppe verändern muß und daß kein Augenblick gefunden werden kann, der diesem an Kunstwert gleich sei. Der jüngste Sohn wird entweder von der umwindenden Schlange erstickt oder, wenn er sie reizen sollte, in seinem völlig hülflosen Zustande noch gebissen. Beide Fälle sind
unerträglich, weil sie ein Letztes sind, das nicht dargestellt werden soll. Was den Vater betrifft, so wird er entweder von der Schlange noch an andern Teilen gebissen, wodurch die ganze Lage seines Körpers sich verändern muß und die ersten Bisse für den Zuschauer, wenn sie nicht verlorengehen, doch, wenn sie angezeigt werden sollten, ekelhaft sein würden; oder die Schlange kann auch sich umwenden und den ältesten Sohn anfallen, dieser wird alsdann auf sich selbst zurückgeführt, die Begebenheit verliert ihren Teilnehmer, der letzte Schein von Hoffnung ist aus der Gruppe verschwunden, es ist keine tragische, es ist eine grausame Vorstellung. Der Vater, der jetzt in seiner Größe und in seinem Leiden auf sich ruht, müßte sich gegen den Sohn wenden, er würde teilnehmende Nebenfigur.
Der Mensch hat bei eignen und fremden Leiden nur drei Empfindungen: Furcht, Schrecken und Mitleiden, das bange Voraussehen eines sich annähernden Übels, das unerwartete Gewahrwerden gegenwärtigen Leidens und die Teilnahme am dauernden oder vergangenen; alle drei werden durch dieses Kunstwerk dargestellt und erregt, und zwar in den gehörigsten Abstufungen.
Die bildende Kunst, die immer für den Moment arbeitet, wird, sobald sie einen pathetischen Gegenstand wählt, denjenigen ergreifen, der Schrecken erweckt, dahingegen Poesie sich an solche hält, die Furcht und Mitleiden erregen. Bei der Gruppe des Laokoon erregt das Leiden des Vaters Schrecken, und zwar im höchsten Grad, an ihm hat die Bildhauerkunst ihr Höchstes getan; allein teils um den Zirkel aller menschliche Empfindungen zu durchlaufen, teils um den heftigen Eindruck des Schreckens zu mildern, erregt sie Mitleiden für den Zustand des jüngern Sohns und Furcht für den ältern, indem sie für diesen auch noch Hoffnung übrigläßt. So brachten die Künstler durch Mannigfaltigkeit ein gewisses Gleichgewicht in ihre Arbeit, milderten und erhöhten Wirkung durch Wirkungen und vollendeten sowohl ein geistiges als ein sinnliches Ganze.
Genug, wir dürfen kühnlich behaupten, daß dieses Kunstwerk seinen Gegenstand erschöpfe und alle Kunstbedingungen glücklich erfülle. Es lehrt uns: daß, wenn der Meister sein Schönheitsgefühl ruhigen und einfachen Gegenständen einflößen kann, sich doch eigentlich dasselbe in seiner höchsten Energie und Würde zeige, wenn es bei Bildung mannigfaltiger Charaktere seine Kraft beweist und die leidenschaftlichen
Ausbrüche der menschlichen Natur in der Kunstnachahmung zu mäßigen und zu bändigen versteht.
Wir geben in der Folge wohl eine genauere Beschreibung der Statuen, welche unter dem Namen der Familie der Niobe bekannt sind, sowie auch der Gruppe des Farnesischen Stiers; sie gehören unter die wenigen pathetischen Darstellungen, welche uns vonbalter Skulptur übriggeblieben sind.
Gewöhnlich haben sich die Neuern bei der Wahl solcher Gegenstände vergriffen. Wenn Milo, mit beiden Händen in einer Baumspalte gefangen, von einem Löwen angefallen wird, so wird die Kunst sich vergebens bemühen, daraus ein Werk zu bilden, das eine reine Teilnahme erregen könnte. Ein doppelter Schmerz, eine vergebliche Anstrengung, ein hülfloser Zustand, ein gewisser Untergang können nur Abscheu erregen, wenn sie nicht ganz kalt lassen.
Und zuletzt nur noch ein Wort über das Verhältnis des Gegenstandes zur Poesie.
Man ist höchst ungerecht gegen Virgil und die Dichtkunst, wenn man das geschlossenste Meisterwerk der Bildhauerarbeit mit der episodischen Behandlung
in der »Aeneis« auch nur einen Augenblick vergleicht. Da einmal der unglückliche vertriebene Aeneas selbst erzählen soll, daß er und seine Landsleute die unverzeihliche Torheit begangen haben, das bekannte Pferd in ihre Stadt zu führen, so muß der Dichter nur darauf denken, wie die Handlung zu entschuldigen sei. Alles ist auch darauf angelegt, und die Geschichte des Laokoon steht hier als ein rhetorisches Argument, bei dem eine Übertreibung, wenn sie nu zweckmäßig ist, gar wohl gebilligt werden kann. So kommen ungeheure Schlangen aus dem Meere, mit
Kämmen auf dem Haupte, eilen auf die Kinder des Priesters, der das Pferd verletzt hatte, umwickeln sie, beißen sie, begeifern sie; umwinden, umschlingen darauf Brust und Hals des zu Hülfe eilenden Vaters und ragen mit ihren Köpfen triumphierend hoch empor, indem der Unglückliche unter ihren Windungen vergebens um Hülfe schreit. Das Volk entsetzt sich und flieht beim Anblick, niemand wagt es mehr, ein Patriot zu sein, und der Zuhörer, durch die abenteuerliche und ekelhafte Geschichte erschreckt, gibt denn auch gern zu, daß das Pferd in die Stadt gebracht werde.
So steht also die Geschichte Laokoons im Virgil bloß als ein Mittel zu einem höhern Zwecke, und es ist noch eine große Frage, ob die Begebenheit an sich ein poetischer Gegenstand sei.
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Ende
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