»Propyläen« Eine periodische Schrift, herausgegeben von Goethe Ersten Bandes erstes Stück. Tübingen 1798 In der J. G. Cottaschen Buchhandlung
Einleitung
Veranlassung des symbolischen Titels - Das Werk soll eigentlich Bemerkungen und Betrachtungen harmonisch verbundner Freunde über Natur und Kunst enthalten - Aufmerksamkeit des Künstlers auf die Gegenstände - Bemerkungen - Praktischer Gebrauch - Mitteilung - Betrachtungen - Gefahr der Einseitigkeit - durch Verbindung mit mehrern Gleichdenkenden vermindert - Freundschaftliche Verbindung zu fortschreitender Ausbildung - Vorteile des Gesprächs - eines Briefwechsels - kurzer Aufsätze - Verhältnis des Schriftstellers zum Publikum - in früherer Zeit - in späterer - Wünsche Übereinstimmung der Verfasser im ganzen - Abweichung im einzelnen - Harmonie mit einem Teil des Publikums - Disharmonie mit einem andern - Beharrlichkeit auf einem Bekenntnisse Natur - Forderung an den Künstler, daß er sich an die Natur halten solle - Größe dieser Forderung - Naturstoffe - praktische Ausbildung, sie zu beherrschen - theoretische Ausbildung - Nötige Kenntnisse - Schwierigkeit, aus der Schule des Anatomen, des Naturbeschreibers, des Naturlehrers aufzusuchen, was zum Zweck des Künstlers dient - Die menschliche Gestalt kann nicht allein durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden - in der Kenntnis liegt die Vollendung des Anschauens - Beispiel vom Naturbeschreiber, der zugleich Zeichner ist - Überblick über organische Naturen Überhaupt - die vergleichende Anatomie erleichtert ihn - organisches Verfahren der Natur - organisierendes Verfahren des Künstlers - Unorganische Naturen - Kenntnis derselben erleichtert - Allgemeine Naturwirkungen - Nötige Einsicht in ihre Gesetze - Töne - Farben Kunst - Aufsatz über bildende Kunst zunächst versprochen - Natur als Schatzkammer der Stoffe im allgemeinen - Gegenstand durch den Künstler ergriffen - Kunstkreis abgeschlossen - Fabel, Inhalt des Kunstwerks - Sorgfalt bei der Wahl - ausführliche Abhandlung zunächst - Behandlung - geistige - sinnliche - mechanische
Der Mensch leidet von seinem Zeitalter, wie er von demselben Vorteil zieht - Einfluß des Publikum auf die Kunst - Einstimmung des Künstlers - Zufriedenheit beider miteinander - Einzelnes Beispiel, Schwierigkeit, von dem Formlosen zur Gestalt überzugehen - Wirkung eines Aufenthalts in Italien auf den Künstler - Sein Schicksal nach seiner Zurückkunft - Wirkung schlechter und guter Kunstwerke auf Empfindung und Einbildungskraft - Die Neueren nennen die Alten ihre Lehrer und entfernen sich von ihren Maximen - einzelne Beispiele - Vermischung der Kunstarten, als Zeichen des Verfalls - Beispiel von der Bildhauerkunst - Auszusprechende Maximen - Sie sind aus den Kunstwerken gezogen - sind von dem Künstler praktisch zu prüfen - sind bei Beurteilung alter und neuer Kunstwerke zum Grunde zu legen - Eine genaue Kritik der ältern sowohl als neuern Kunstwerke nötig - Beispiel von der wachsenden Kenntnis des Liebhabers in der plastischen Kunst - Höchster Grad der Einsicht - nach streben Von Kunstwerken sollte man eigentlich nur in ihrer Gegenwart sprechen - doch läßt sich auch für solche Leser schreiben, welche die Werke gesehen haben und sehen werden - Wie man auch den übrigen nützlich sein kann? - Nur auf dem höchsten und genausten Begriff von Kunst kann eine Kunstgeschichte ruhen - Psychologisch-chronologischer Gang des Auf- und Absteigens der bildenden Kunst - Beurteilung der alten und neuern Kunst nach Grundsätzen - Maximen am nötigsten bei Beurteilung der gleichzeitigen Künstler Ausdehnung des Werks auf andre Gegenstände - Theorie und Kritik der Dichtkunst wird sich besonders an diese Arbeit anschließen Über Kunstlokal - Italien als ein großer Kunstkörper, wie er vor kurzem noch bestand - Zerstücklung desselben - Kunstkörper in Paris - Was Deutschland und England tun sollte, einen idealen Kunstkörper bilden zu helfen - Die ausführlichen Vorschläge künftig.
Der Jüngling, wenn Natur und Kunst ihn anziehen, glaubt mit einem lebhaften Streben bald in das innerste Heiligtum zu dringen; der Mann bemerkt nach langem Umherwandeln, daß er sich noch immer in den Vorhöfen befinde.
Eine solche Betrachtung hat unsern Titel veranlaßt. Stufe, Tor, Eingang, Vorhalle, der Raum zwischen dem Innern und Äußern, zwischen dem Heiligen und Gemeinen kann nur die Stelle sein, auf der wir uns mit unsern Freunden gewöhnlich aufhalten werden. Will jemand noch besonders bei dem Worte Propyläen sich jener Gebäude erinnern, durch die man zur atheniensischen Burg, zum Tempel der Minerva gelangte, so ist auch dies nicht gegen unsre Absicht, nur daß man uns nicht die Anmaßung zutraue, als gedächten wir ein solches Werk der Kunst und Pracht hier selbst aufzuführen. Unter dem Namen des Orts verstehe man das, was daselbst allenfalls hätte geschehen können, man erwarte Gespräche, Unterhaltungen, die vielleicht nicht unwürdig jenes Platzes gewesen wären.
Werden nicht Denker, Gelehrte, Künstler angelockt, sich in ihren besten Stunden in jene Gegenden zu versetzen, unter einem Volke wenigstens in der Einbildungskraft zu wohnen, dem eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natürlich war, bei dem in einer Folge von Zeit und Leben sich eine Bildung in schöner und stetiger Reihe entwickelt, die bei uns nur als Stückwerk vorübergehend erscheint?
Welche neuere Nation verdankt nicht den Griechen ihre Kunstbildung? und, in gewissen Fächern, welche mehr als die deutsche?
Soviel zur Entschuldigung des symbolischen Titels, wenn sie ja nötig sein sollte. Er stehe uns zur Erinnerung, daß wir uns so wenig als möglich vom klassischen Boden entfernen, er erleichtere durch seine Kürze und Bedeutsamkeit die Nachfrage der Kunstfreunde, die wir durch gegenwärtiges Werk zu interessieren gedenken, das Bemerkungen und Betrachtungen harmonisch verbundner Freunde über Natur und Kunst enthalten soll.
Derjenige, der zum Künstler berufen ist, wird auf alles um sich her lebhaft achtgeben, die Gegenstände und ihre Teile werden seine Aufmerksamkeit an sich ziehen, und indem er praktischen Gebrauch von solchen Erfahrungen macht, wird er sich nach und nach üben, immer schärfer zu bemerken, er wird in seiner frühern Zeit alles soviel möglich zu eignem Gebrauch verwenden, später wird er sich auch andern gerne mitteilen. So gedenken auch wir manches, was wir für nützlich und angenehm halten, was unter mancherlei Umständen von uns seit mehrern Jahren aufgezeichnet worden, unsern Lesern vorzulegen und zu erzählen. Allein wer bescheidet sich nicht gern, daß reine Bemerkungen seltner sind, als man glaubt? Wir vermischen so schnell unsere Empfindungen, unsere Meinung, unser Urteil mit dem, was wir erfahren, daß wir in dem ruhigen Zustande des Beobachters nicht lange verharren, sondern bald Betrachtungen anstellen, auf die wir kein größer Gewicht legen dürfen, als insofern wir uns auf die Natur und Ausbildung unsers Geistes einigermaßen verlassen möchten.
Was uns hierin eine stärkere Zuversicht zu geben vermag, ist die Harmonie, in der wir mit mehrern stehen, ist die Erfahrung, daß wir nicht allein, sondern gemeinschaftlich denken und wirken. Die zweifelhafte Sorge, unsere Vorstellungsart möchte uns nur allein angehören, die uns so oft überfällt, wenn andere gerade das Gegenteil von unserer Überzeugung aussprechen, wird erst gemildert, ja aufgehoben, wenn wir uns in mehreren wiederfinden; dann fahren wir erst mit Sicherheit fort, uns in dem Besitze solcher Grundsätze zu erfreuen, die eine lange Erfahrung uns und andern nach und nach bewährt hat. Wenn mehrere vereint auf diese Weise zusammenleben, daß sie sich Freunde nennen dürfen, indem sie ein gleiches Interesse haben, sich fortschreitend auszubilden, und auf nahverwandte Zwecke losgehen, dann werden sie gewiß sein, daß sie sich auf den vielfachsten Wegen wieder begegnen und daß selbst eine Richtung, die sie voneinander zu entfernen schien, sie doch bald wieder glücklich zusammenführen wird.
Wer hat nicht erfahren, welche Vorteile in solchen Fällen das Gespräch gewährt! Allein es ist vorübergehend, und indem die Resultate einer wechselseitigen Ausbildung unauslöschlich bleiben, geht die Erinnerung der Mittel verloren, durch welche man dazu gelangt ist.
Ein Briefwechsel bewahrt schon besser die Stufen eines freundschaftlichen Fortschrittes: jeder Moment des Wachstums ist fixiert, und wenn das Erreichte uns eine beruhigende Empfindung gibt, so ist ein Blick rückwärts auf das Werden belehrend, indem er uns zugleich ein künftiges, unablässiges Fortschreiten hoffen läßt.
Kurze Aufsätze, in die man von Zeit zu Zeit seine Gedanken, seine Überzeugungen und Wünsche niederlegt, um sich nach einiger Zeit wieder mit sich selbst zu unterhalten, sind auch ein schönes Hülfsmittel eigner und fremder Bildung, deren keines versäumt werden darf, wenn man die Kürze der dem Leben zugemessenen Zeit und die vielen Hindernisse bedenkt, die einer jeden Ausführung im Wege stehen. Daß hier besonders von einem Ideenwechsel solcher Freunde die Rede sei, die sich im allgemeinen zu Künsten und Wissenschaften auszubilden streben, versteht sich von selbst, obgleich ein Welt- und Geschäftsleben auch eines solchen Vorteils nicht ermangeln sollte.
Bei Künsten und Wissenschaften aber ist nicht allein eine solche engere Verbindung, sondern auch das Verhältnis zu dem Publikum ebenso günstig, als es ein Bedürfnis wird. Was man irgend Allgemeines denkt oder leistet, gehört der Welt an, und das, was sie von den Bemühungen der einzelnen nutzen kann, bringt sie auch selbst zur Reife. Der Wunsch nach Beifall, welchen der Schriftsteller fühlt, ist ein Trieb, den ihm die Natur eingepflanzt hat, um ihn zu etwas Höherem anzulocken; er glaubt den Kranz schon erreicht zu haben und wird bald gewahr, daß eine mühsamere Ausbildung jeder angebornen Fähigkeit nötig ist, um die öffentliche Gunst festzuhalten, die wohl auch durch Glück und Zufall auf kurze Momente erlangt werden kann.
So bedeutend ist für den Schriftsteller in einer frühern Zeit sein Verhältnis zum Publikum, und selbst in spätern Tagen kann er es nicht entbehren. So wenig er auch bestimmt sein mag, andere zu belehren, so wünscht er doch sich denen mitzuteilen, die er sich gleichgesinnt weiß, deren Anzahl aber in der Breite der Welt zerstreut ist; er wünscht sein Verhältnis zu den ältesten Freunden dadurch wieder anzuknüpfen, mit neuen es fortzusetzen und in der letzten Generation sich wieder andere für seine übrige Lebenszeit zu gewinnen. Er wünscht der Jugend die Umwege zu ersparen, auf denen er sich selbst verirrte, und, indem er die Vorteile der gegenwärtigen Zeit bemerkt und nützt, das Andenken verdienstlicher früherer Bemühungen zu erhalten.
In diesem ernsten Sinne verband sich eine kleine Gesellschaft; eine heitere Stimmung möge unsere Unternehmungen begleiten, und wohin wir gelangen, mag die Zeit lehren.
Die Aufsätze, welche wir vorzulegen gedenken, werden, ob sie gleich von mehrern verfaßt sind, in Hauptpunkten hoffentlich niemals miteinander in Widerspruch stehen, wenn auch die Denkart der Verfasser nicht völlig die gleiche sein sollte. Kein Mensch betrachtet die Welt ganz wie der andere, und verschiedene Charaktere werden oft den gleichen Grundsatz, den sie sämtlich anerkennen, verschieden anwenden. Ja, der Mensch ist sich in seinen Anschauungen und Urteilen nicht immer selbst gleich: frühere Überzeugungen müssen spätern weichen. Möge immerhin das Einzelne, was man denkt und äußert, nicht alle Proben aushalten, wenn man nur auf seinem Wege gegen sich selbst und gegen andre wahr bleibt! So sehr nun auch die Verfasser untereinander und mit einem großen Teil des Publikums in Harmonie zu stehen wünschen und hoffen, so dürfen sie sich doch nicht verbergen, daß ihnen von verschiedenen Seiten mancher Mißton entgegenklingen wird. Sie haben dies um so mehr zu erwarten, als sie von den herrschenden Meinungen in mehr als einem Punkte abweichen. Weit entfernt, die Denkart irgendeines Dritten meistern oder verändern zu wollen, werden sie ihre eigne Meinung fest aussprechen und, wie es die Umstände geben, einer Fehde ausweichen oder sie aufnehmen, im ganzen aber immer auf einem Bekenntnisse halten und besonders diejenigen Bedingungen, die ihnen zu Bildung eines Künstlers unerläßlich scheinen, oft genug wiederholen. Wem um die Sache zu tun ist, der muß Partei zu nehmen wissen, sonst verdient er nirgends zu wirken.
Wenn wir nun Bemerkungen und Betrachtungen über Natur vorzulegen versprechen, so müssen wir zugleich anzeigen, daß es besonders solche sein werden, die sich zunächst auf bildende Kunst sowie auf Kunst überhaupt, dann aber auch auf allgemeine Bildung des Künstlers beziehen.
Die vornehmste Forderung, die an den Künstler gemacht wird, bleibt immer die: daß er sich an die Natur halten, sie studieren, sie nachbilden, etwas, das ihren Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle. Wie groß, ja wie ungeheuer diese Anforderung sei, wird nicht immer bedacht, und der wahre Künstler selbst erfährt es nur bei fortschreitender Bildung. Die Natur ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft getrennt, welche das Genie selbst ohne äußere Hülfsmittel zu überschreiten nicht vermag. Alles, was wir um uns her gewahr werden, ist nur roher Stoff, und wenn sich das schon selten genug ereignet, daß ein Künstler durch Instinkt und Geschmack, durch Übung und Versuche dahin gelangt, daß er den Dingen ihre äußere schöne Seite abzugewinnen, aus dem vorhandenen Guten das Beste auszuwählen und wenigstens einen gefälligen Schein hervorzubringen lernt, so ist es, besonders in der neuern Zeit, noch viel seltner, daß ein Künstler sowohl in die Tiefe der Gegenstände als in die Tiefe seines eignen Gemüts zu dringen vermag, um in seinen Werken nicht bloß etwas leicht- und oberflächlich Wirkendes, sondern, wetteifernd mit der Natur, etwas geistig Organisches hervorzubringen und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich und übernatürlich erscheint.
Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst; um ihn zu verstehen, um sich aus dem Labyrinthe seines Baues herauszuwickeln, ist eine allgemeine Kenntnis der organischen Natur unerläßlich. Auch von den unorganischen Körpern sowie von allgemeinen Naturwirkungen, besonders wenn sie, wie z.B. Ton und Farbe, zum Kunstgebrauch anwendbar sind, sollte der Künstler sich theoretisch belehren; allein welchen weiten Umweg müßte er machen, wenn er sich aus der Schule des Zergliederers, des Naturbeschreibers, des Naturlehrers dasjenige mühsam aussuchen sollte, was zu seinem Zwecke dient; ja es ist die Frage, ob er dort gerade das, was ihm das wichtigste sein muß, finden würde? Jene Männer haben ganz andere Bedürfnisse ihrer eigentlichen Schüler zu befriedigen, als daß sie an das eingeschränkte, besondere Bedürfnis des Künstlers denken sollten. Deshalb ist unsere Absicht, hier ins Mittel zu treten und, wenn wir gleich nicht voraussehen, die nötige Arbeit selbst vollenden zu können, dennoch teils im ganzen eine Übersicht zu geben, teils im einzelnen die Ausführung einzuleiten. Die menschliche Gestalt kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden, man muß ihr Inneres entblößen, ihre Teile sondern, die Verbindungen derselben bemerken, die Verschiedenheiten kennen, sich von Wirkung und Gegenwirkung unterrichten, das Verborgene, Ruhende, das Fundament der Erscheinung sich einprägen, wenn man dasjenige wirklich schauen und nachahmen will, was sich als ein schönes ungetrenntes Ganze in lebendigen Wellen vor unserm Auge bewegt. Der Blick auf die Oberfläche eines lebendigen Wesens verwirrt den Beobachter, und man darf wohl hier, wie in andern Fällen, den wahren Spruch anbringen: Was man weiß, sieht man erst! Denn wie derjenige, der ein kurzes Gesicht hat, einen Gegenstand besser sieht, von dem er sich wieder entfernt als einen, dem er sich erst nähert, weil ihm das geistige Gesicht nunmehr zu Hülfe kommt, so liegt eigentlich in der Kenntnis die Vollendung des Anschauens.
Wie gut bildet ein Kenner der Naturgeschichte, der zugleich Zeichner ist, die Gegenstände nach, indem er das Wichtige und Bedeutende der Teile, woraus der Charakter des Ganzen entspringt, einsieht und den Nachdruck darauf legt.
So wie nun eine genauere Kenntnis der einzelnen Teile menschlicher Gestalt, die er zuletzt wieder als ein Ganzes betrachten muß, den Künstler äußerst fördert, so ist auch ein Überblick, ein Seitenblick über und auf verwandte Gegenstände höchst nützlich, vorausgesetzt, daß der Künstler fähig ist, sich zu Ideen zu erheben und die nahe Verwandtschaft entfernt scheinender Dinge zu fassen. Die vergleichende Anatomie hat einen allgemeinen Begriff über organische Naturen vorbereitet; sie führt uns von Gestalt zu Gestalten, und indem wir nah oder fern verwandte Naturen betrachten, erheben wir uns über sie alle, um ihre Eigenschaften in einem idealen Bilde zu erblicken.
Halten wir dasselbe fest, so finden wir erst, daß unsere Aufmerksamkeit bei Beobachtung der Gegenstände eine bestimmte Richtung nimmt, daß abgesonderte Kenntnisse durch Vergleichung leichter gewannen und festgehalten werden und daß wir zuletzt beim Kunstgebrauch nur dann mit der Natur wetteifern können, wenn wir die Art, wie sie bei Bildung ihrer Werke verfährt, ihr wenigstens einigermaßen abgelernt haben.
Muntern wir ferner den Künstler auf, auch von unorganischen Naturen einige Kenntnis zu nehmen, so können wir es um so eher tun, als man sich gegenwärtig von dem Mineralreich bequem und schnell unterrichtet. Der Maler bedarf einiger Kenntnis der Steine, um sie charakteristisch nachzuahmen, der Bildhauer und Baumeister, um sie zu nutzen; der Steinschneider kann eine Kenntnis der Edelsteine nicht entbehren, der Kenner und Liebhaber wird gleichfalls darnach streben. Haben wir nun zuletzt dem Künstler geraten, sich von allgemeinen Naturwirkungen einen Begriff zu machen, um diejenigen kennenzulernen, die ihn besonders interessieren, teils um sich nach mehr Seiten auszubilden, teils um das, was ihn betrifft, besser zu verstehen, so wollen wir auch über diesen bedeutenden Punkt noch einiges hinzufügen.
Bisher konnte der Maler die Lehre des Physikers von den Farben nur anstaunen, ohne daraus einigen Vorteil zu ziehen; das natürliche Gefühl des Künstlers aber, eine fortdauernde Übung, eine praktische Notwendigkeit führte ihn auf einen eignen Weg: er fühlte die lebhaften Gegensätze, durch deren Vereinigung die Harmonie der Farben entsteht, er bezeichnete gewisse Eigenschaften derselben durch annähernde Empfindungen, er hatte warme und kalte Farben, Farben, die eine Nähe, andere, die eine Ferne ausdrücken, und was dergleichen Bezeichnungen mehr sind, durch welche er diese Phänomene den allgemeinsten Naturgesetzen auf seine Weise näher brachte. Vielleicht bestätigt sich die Vermutung, daß die farbigen Naturwirkungen so gut als die magnetischen, elektrischen und andere auf einem Wechselverhältnis, einer Polarität, oder wie man die Erscheinungen des Zwiefachen, ja Mehrfachen in einer entschiedenen Einheit nennen mag, beruhen.
Diese Lehre umständlich und für den Künstler faßlich vorzulegen, werden wir uns zur Pflicht machen, und wir können um so mehr hoffen, hierin etwas zu tun, das ihm willkommen sei, als wir nur dasjenige, was er bisher aus Instinkt getan, auszulegen und auf Grundsätze zurückzuführen bemüht sein werden. So viel von dem, was wir zuerst in Absicht auf Natur mitzuteilen hoffen; und nun das Notwendigste in Absicht auf Kunst.
Da die Einrichtung des gegenwärtigen Werks von der Art ist, daß wir einzelne Abhandlungen, ja dieselben sogar teilweise vorlegen werden, dabei aber unser Wunsch ist, nicht ein Ganzes zu zerstücken, sondern aus mannigfaltigen Teilen endlich ein Ganzes zusammenzusetzen, so wird es nötig sein, baldmöglichst allgemein und summarisch dasjenige vorzulegen, worüber der Leser nach und nach im einzelnen unsere Ausarbeitungen erhalten wird. Daher wird uns zunächst ein Aufsatz über bildende Kunst beschäftigen, worin die bekannten Rubriken nach unserer Vorstellungsart und Methode vorgetragen werden sollen. Dabei werden wir vorzüglich darauf bedacht sein, die Wichtigkeit eines jeden Teils der Kunst vor Augen zu stellen und zu zeigen, daß der Künstler keinen derselben zu vernachlässigen habe, wie es leider so oft geschehen ist und geschieht. Wir betrachteten vorhin die Natur als die Schatzkammer der Stoffe im allgemeinen, nun gelangen wir aber an den wichtigen Punkt, wo sich zeigt, wie die Kunst ihre Stoffe sich selbst näher zubereite.
Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen, daß der Künstler ihn in diesem Augenblicke erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höhern Wert hineinlegt. Auf diese Weise werden der menschlichen Gestalt die schönern Proportionen, die edlern Formen, die höhern Charaktere gleichsam erst aufgedrungen, der Kreis der Regelmäßigkeit, Vollkommenheit, Bedeutsamkeit und Vollendung wird gezogen, in welchem die Natur ihr Bestes gerne niederlegt, wenn sie übrigens in ihrer großen Breite leicht in Häßlichkeit ausartet und sich ins Gleichgültige verliert.
Goethe auf meiner Seite
weiter
alle philosophischen Schriften
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen