Siebenter Brief
Abermals ein Blatt von Juliens Hand! Sie sehen diese Federzüge wieder, von denen Sie einmal physiognomisierten, daß sie einen leicht fassenden, leicht mitteilenden, über die Gegenstände hinschwebenden und bequem bezeichnenden Geist andeuteten. Gewiß, diese Eigenschaften sind mir heute nötig, wenn ich eine Pflicht erfüllen soll, die mir im eigentlichsten Sinne aufgedrungen worden: denn ich fühle mich weder dazu bestimmt noch fähig; aber die Herren wollen es so, und da muß es ja wohl geschehen. Die Geschichte des gestrigen Tages soll ich aufzeichnen! die Personen schildern, die gestern unser Kabinett besuchten, und zuletzt Ihnen Rechenschaft von dem allerliebsten Fachwerk geben, worin künftig alle und jede Künstler und Kunstfreunde, die an einem einzelnen Teile festhalten, die sich nicht zum Ganzen erheben, eingeschachtelt und aufgestellt werden sollen. Jenes erste, insofern es historisch ist, will ich wohl übernehmen, an das letztere kommt es heute ohnehin nicht, und morgen will ich schon sehen, wie ich diesen Auftrag ablehne. Damit Sie nun aber wissen, wie ich gerade diesmal dazu komme, Sie zu unterhalten, so will ich Ihnen nur kürzlich erzählen, was gestern abend beim Abschied vorgefallen.
Wir hatten lange beisammen gesessen (versteht sich: der Oheim, der junge Freund, der nicht mehr als Philosoph aufgeführt sein will, und die beiden Schwestern), wir hatten uns über die Begebenheiten des Tages unterhalten, uns selbst sowie auch alle bekannten Freunde in die verschiedenen Rubriken eingeteilt. Als wir auseinandergehen wollten, fing der Oheim an: »Nun, wer gibt unsern abwesenden Freunden, die wir heute so oft zu uns gewünscht, deren wir so oft gedacht haben, nunmehr auch schnell Nachricht von den heutigen Vorfällen und von den Vorschritten, die wir in Kenntnis und Beurteilung sowohl unserer selbst als anderer gemacht haben? An dieser Mitteilung muß es nicht fehlen, damit wir auch bald wieder etwas von dorther erhalten und so der Schneeball sich immer fortwälze und vergrößere.«
Ich versetzte darauf: »Mich sollte dünken, daß dieses Geschäft nicht in bessern Händen sein könnte, als wenn unser Oheim die Geschichte des Tags aufzeichnete und unser Freund über die neue Theorie und deren Anwendung einen kurzen Aufsatz zu machen sich entschlösse.« »Eben da Sie das Wort Theorie nennen«, versetzte der Freund, »muß ich schon mit Entsetzen zurücktreten und mich lossagen, so gern ich Ihnen auch in allem gefällig sein wollte. Ich weiß nicht, was mich diese Tage von einem Fehler zum andern verleitet! Kaum habe ich mein Stillschweigen gebrochen und über bildende Kunst geschwatzt, die ich erst studieren sollte, so lasse ich mich bereden, etwas, das theoretisch scheinen könnte, über einen Gegenstand aufzusetzen, den ich nicht übersehe. Lassen Sie mir das süße Gefühl, daß ich diese Schwachheiten aus Neigung gegen meine wertesten Freunde begangen habe; aber sparen Sie mir die Beschämung, mich mit diesen Unvollkommenheiten vor Personen sehen zu lassen, vor denen ich als ein Fremder nicht so ganz im Nachteil erscheinen möchte.«
Hierauf versetzte sogleich der Oheim: »Was mich betrifft, so bin ich nicht imstande, unter den ersten acht Tagen an einen Brief zu denken; meine einheimischen und auswärtigen Patienten fordern meine ganze Aufmerksamkeit, ich muß besuchen, Konsultationen schreiben, aufs Land fahren. Seht, liebe Kinder, wie ihr zusammen übereinkommt. Ich dächte, Julie ergriffe kurz und gut die Feder, finge mit dem Historischen an und endigte mit dem Spekulativen. Sie erinnert sich des Geschehenen recht gut, und an ihren Späßen habe ich gesehen, daß sie auch im Räsonnement uns manchmal zuvorläuft. Es kommt nur auf guten Willen an, und den hat sie meist.« So ward von mir gesprochen, und so muß ich von mir schreiben. Ich verteidigte mich, so gut ich konnte, doch mußte ich zuletzt nachgeben, und ich leugne nicht, daß ein paar gute, freundliche Worte des jungen Mannes, der ich weiß nicht was für eine Gewalt über mich ausübt, mich eigentlich zuletzt noch determinierten. Nun sind also meine Gedanken an Sie gerichtet, meine Herren, meine Feder eilt gleichsam zu Ihnen hin, es scheint mir, als wenn ich, indem ich schreibe, nach und nach den Weg zurücklege, der uns trennt. Schon bin ich bei Ihnen! lassen Sie mich und meine Erzählung eine freundliche Aufnahme finden! Wir hatten gestern mittag kaum abgegessen, als man uns schon zwei Fremde meldete; es war ein Hofmeister mit seinem jungen Herrn.
Schalkhaft gesinnt und begierig auf die Beute des Tags, eilten wir sogleich sämtlich nach dem Kabinette. Der junge Herr war ein hübscher, stiller junger Mann, der Hofmeister hatte nicht eben feine, aber doch gute Sitten. Nach dem gewöhnlichen allgemeinen Eingang sah er sich unter den Gemälden um, bat sich die Erlaubnis aus, die vorzüglichsten schriftlich anzumerken. Mein Oheim zeigte ihm gutmütig die besten Stücke jedes Zimmers, der Fremde notierte sich mit einigen Worten den Namen des Malers und den Gegenstand, dabei wünschte er zu wissen, wieviel das Stück gekostet haben machte? wieviel es wohl allenfalls an barem Gelde wert sei? worin man ihm denn, wie natürlich, nicht immer willfahren konnte. Der junge Herr war mehr nachdenklich als aufmerksam, er schien bei einsamen Landschaften, felsigen Gegenden und Wasserfällen am meisten zu verweilen. Nun kam auch der Gast des vorigen Tages, den ich künftig den Charakteristiker nennen werde. Er war heiter und guter Laune, scherzte mit dem Oheim und dem Freunde über den gestrigen Streit und versicherte, daß er sie noch zu bekehren hoffe. Der Oheim führte ihn gleich gesprächig vor ein interessantes Gemälde, der Freund schien düster und verdrießlich, worüber er von mir ausgescholten wurde. Er gestand, daß ihn die Behaglichkeit seines Gegners einen Augenblick verstimmt habe, und versprach mir, heiter zu sein.
Wir konnten bemerken, daß der Oheim mit seinem Gaste sich recht behaglich unterhielt, als eine Dame hereintrat, mit zwei Reisegefährten. Wir Mädchen, die wir uns in Erwartung dieses Besuches zum besten geputzt hatten, eilten ihr sogleich entgegen und hießen sie willkommen. Sie war freundlich und gesprächig, und ein gewisser Ernst befremdete uns nicht, der ihrem Stand und ihrem Alter angemessen war. Um einen Kopf kleiner als meine Schwester und ich, schien sie doch auf uns herabzusehen und sich der Superiorität ihres Geistes und ihrer Erfahrungen zu freuen.
Wir fragten sie, was sie zu sehen beliebe? Sie versicherte, daß sie in einer Galerie, in einem Kabinett am liebsten allein herumgehe, sich ihren Gefühlen zu überlassen. Wir überließen sie ihren Gefühlen und hielten uns in einer anständigen Entfernung. Als ich hörte, daß sie über einige niederländische Bilder und deren unedle Gegenstände sich gegen ihren Begleiter mit Tadel herausließ, glaubte ich meine Sache recht gut zu machen, indem ich ein Kästchen auf die Staffelei hob, worin sich eine köstliche liegende Venus befindet. Man ist über den Meister nicht einig, aber einig, daß sie vortrefflich sei. Ich öffnete die Türen und bat sie, ins rechte Licht zu treten. Jedoch wie übel kam ich an! Kaum hatte sie einen Blick auf die Tafel geworfen, als sie die Augen niederschlug und mich alsdann sogleich mit einigem Unwillen ansah. »Ich hätte«, rief sie aus, »von einem jungen bescheidenen Mädchen nicht erwartet, daß sie mir einen solchen Gegenstand gelassen vor die Augen stellen würde.« - »Wieso?« fragte ich. - »Und Sie können fragen!« versetzte die Dame. Ich nahm mich zusammen und sagte mit scheinbarer Naivetät: »Gewiß, gnädige Frau, ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen dieses Bild nicht vorstellen sollte, vielmehr, indem ich diesen Schatz unserer Sammlung, den man gewöhnlich nur erst spät zeigt, gleich vom Anfang vorstelle, glaubte ich einen Beweis meiner Achtung abzulegen.«
DIE DAME: Also diese Nacktheit beleidiget Sie nicht? JULIE: Ich wüßte nicht, wie mich das Schönste beleidigen sollte, was das Auge sehen kann; und überdies ist mir der Gegenstand nicht fremd, ich habe ihn von Jugend auf gesehen. DAME: Ich kann die Erzieher nicht loben, die solche Gegenstände nicht vor Ihren Augen verheimlichten. JULIE: Um Vergebung! wie hätten sie das sollen? und wie hätten sie's gekonnt? Man lehrte mich die Naturgeschichte, man zeigte mir die Vögel in ihren Federn, die Tiere in ihren Fellen, man erließ mir die Schuppen der Fische nicht, und man hätte mir sollen ein Geheimnis aus der Gestalt des Menschen machen, wohin alles weist, deutet und drängt ! Sollte das wohl möglich gewesen sein? Gewiß! hätte man mir alle Menschen mit Kutten zugedeckt, mein Geist hätte nicht eher gerastet und geruht, bis ich mir eine menschliche Gestalt selbst erfunden hätte, und bin ich nicht auch ein Mädchen! wie kann man den Menschen vor dem Menschen verheimlichen? und ist es nicht eine gute Schule der Bescheidenheit, wenn man uns, die wir uns überhaupt noch immer für hübsch genug halten, das wahre Schöne kennen lehrt?
DAME: Die Demut wirkt eigentlich von innen heraus, Mademoiselle, und die reine Bescheidenheit braucht keinen äußern Anlaß. Auch gehört es, dünkt mich, zu den Tugenden eines Frauenzimmers, wenn man seine Neugierde bezähmen lernt, wenn man seinen Vorwitz zu bändigen weiß und ihn wenigstens von Gegenständen ablehnt, die in so manchem Sinne gefährlich werden können. JULIE: Es kann Menschen geben, gnädige Frau, die zu solchen negativen Tugenden bildsam sind. Was meine Erziehung betrifft, so müßten Sie darüber meinen werten Oheim tadeln. Er sagte mir oft, da ich anfangen konnte, über mich selbst zu denken: »Gewöhne dich ans freie Anschauen der Natur, sie wird dir immer ernsthafte Betrachtungen erwecken: und die Schönheit der Kunst möge die Empfindungen heiligen, die daraus entstehen.« Die Dame wendete sich um und sprach englisch zu ihrem stummen Begleiter. Sie schien, wie mir es vorkam, mit meiner Freiheit nicht ganz zufrieden, sie kehrte sich um, und da sie nicht weit von einer Verkündigung stand, so begleitete ich sie dahin. Sie betrachtete das Bild mit Aufmerksamkeit und bewunderte zuletzt die Flügel des Engels und deren besonders natürliche Abbildung.
Nachdem sie sich lange dabei aufgehalten, eilte sie endlich zu einem Ecce-Homo, bei dem sie mit Entzücken verweilte. Da mir aber diese leidende Miene keinesweges wohltätig ist, suchte ich Karolinen an meine Stelle zu schieben; ich winkte ihr, und sie verließ den jungen Baron, mit dem sie im Fenster stand und der eben ein Blatt Papier wieder einsteckte. Auf meine Frage: womit sie dieser junge Herr unterhalten habe? versetzte sie: »Er hat mir Gedichte an seine Geliebte vorgelesen, Lieder, die er auf Reisen aus der größten Entfernung an sie gerichtet. Die Verse sind recht hübsch«, sagte Karoline, »laß dir sie nur auch zeigen.«
Ich fand keine Ursache, ihn zu unterhalten, denn er war eben zur Dame getreten und hatte sich ihr als ein weitläuftiger Verwandter vorgestellt. Sie kehrte, wie billig, dem Herrn Christus sogleich den Rücken, um den Herrn Vetter zu begrüßen, die Kunst schien auf eine Weile vergessen zu sein, und es entspann sich ein lebhaftes Welt- und Familiengespräch. Unser junger philosophischer Freund hatte sich indessen an den einen Begleiter der Dame angeschlossen, er hatte an ihm einen Künstler entdeckt und ging mit ihm ein Gemälde nach dem andern durch, in der Hoffnung, etwas zu lernen, wie er nachher versicherte; allein er fand seine Wünsche nicht befriedigt, obgleich der Mann schöne Kenntnisse zu haben schien. Seine Unterhaltung führte auf manches Tadelnswürdige im einzelnen. Hier war die Zeichnung, hier die Perspektiv nicht richtig, hier fehlte die Haltung, hier konnte man den Auftrag der Farben, hier den Pinsel nicht loben. Eine Schulter saß nicht gut am Rumpf. Hier war eine Glorie zu weiß, hier das Feuer zu rot, hier stand eine Figur nicht auf dem rechten Plan, und was für Bemerkungen noch alles den Genuß der Bilder störten.
Um meinen Freund zu befreien, der, wie ich merkte, nicht sehr erbaut war, rief ich den Hofmeister herbei und sagte zu ihm: »Sie haben die vorzüglichsten Bilder auf ihren Wert bemerkt, hier ist ein Kenner, der Sie auch mit den Fehlern bekannt machen kann, und es ist wohl interessant, auch diese zu notieren.« Kaum hatte ich meinen Freund losgewickelt, als wir fast in einen schlimmern Zustand gerieten. Der andere Begleiter der Dame, ein Gelehrter, der bisher ernst und einsam in den Zimmern auf und ab gegangen war und mit einer Lorgnette die Bilder betrachtet hatte, fing an, mit uns zu sprechen, und bedauerte, daß in so wenig Bildern das Kostüm beobachtet sei! Besonders, sagte er, seien ihm die Anachronismen unerträglich! Denn wie könne man ausstehen, daß der heilige Joseph in einem gebundenen Buche lese, Adam mit einer Schaufel grabe, die Heiligen Hieronymus, Franz, Katharina mit dem Christkinde auf einem Bilde stehen! Dergleichen Fehler kämen zu oft vor, als daß man in einer Gemäldesammlung sich mit Behaglichkeit umsehen könnte.
Der Oheim hatte sich zwar, der Höflichkeit gemäß, sowohl mit der Dame als den übrigen von Zeit zu Zeit unterhalten; allein mit dem Charakteristiker schien er sich doch am besten zu vertragen. Dieser erinnerte sich dann auch, der Dame schon in irgendeinem Kabinett begegnet zu sein. Man fing an, auf und ab zu gehen, von fremden Dingen zu sprechen, die Mannigfaltigkeit der übrigen Zimmer nur zu durchlaufen, so daß man zuletzt mitten unter Kunstwerken sich von der Kunst um hundert Meilen entfernt fühlte. Die größte Aufmerksamkeit zog endlich gar unser alter Bedienter auf sich. Diesen könnte man wohl den Unterkustode unserer Sammlung nennen. Er zeigt sie vor, wenn der Oheim verhindert ist oder wenn man gewiß weiß, daß die Leute bloß aus Neugierde kommen. Dieser hat sich bei verschiedenen Gemälden gewisse Späße ausgedacht, die er jedesmal anbringt. Er weiß die Fremden durch hohe Preise der Bilder in Erstaunen zu setzen, er führt die Gäste zu den Vexierbildern, zeigt einige merkwürdige Reliquien und ergötzt die Zuschauer besonders durch die Künste der Automaten. Diesmal hatte er die Dienerschaft der Dame herumgeführt, mit noch einigen Personen dieses Schlags, und sie auf seine Art besser unterhalten, als unsere Weise uns bei den übrigen Gästen gelingen wollte. Er ließ zuletzt einen künstlichen Trommelschläger, den mein Oheim schon lange in eine Nebenkammer verbannt hatte, vor seinem Publico ein Stückchen aufspielen, die vornehme Gesellschaft versammelte sich auch umher, das Abgeschmackte setzte jedermann in einen behaglichen Zustand, und so ward es Nacht, ehe man den dritten Teil der Sammlung gesehen hatte. Die Reisenden konnten sich nicht einen Tag länger aufhalten, eilten sämtlich ins Wirtshaus zurück, und wir blieben abends allein.
Nun ging es an ein Erzählen, an eine Rekapitulation boshafter Bemerkungen, und wenn unsere Gäste nicht immer liebevoll mit den Gemälden verfuhren, so will ich nicht leugnen, daß wir dafür mit den Beschauern ziemlich lieblos umgingen. Karoline besonders ward sehr geplagt, daß sie die Aufmerksamkeit des jungen Herrn nicht von seiner entfernten Geliebten ab und auf sich zu ziehen gewußt. Ich behauptete: es könne einem Mädchen nichts schrecklicher sein, als ein Gedicht auf eine andere vorlesen zu hören! Sie aber versicherte das Gegenteil und behauptete: daß es ihr schön, ja erbaulich vorgekommen sei. Sie habe auch einen abwesenden Liebhaber und wünsche nichts mehr, als daß sich derselbe in Gegenwart anderer Mädchen auch so musterhaft wie der junge Fremde betrage. Bei einer kalten Kollation, bei der wir Ihre Gesundheit zu trinken nicht vergaßen, ward der junge Freund nun aufgefordert, seine Übersicht über Künstler und Liebhaber vorzulegen, und er tat es mit einigem Zögern. Wie das nun eigentlich klingt, kann ich heute unmöglich überliefern. Meine Finger sind müde geworden, und mein Geist ist abgespannt. Auch muß ich sehen, ob ich nicht etwa dieses Geschäft von mir abschütteln kann. Die Erzählung der Eigenheiten unseres Besuches mochte hingehen, allein mich tiefer einzulassen, finde ich bedenklich, und für heute erlauben Sie, daß ich ganz stille aus Ihrer Gegenwart wegschlüpfe.
Julie
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