Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schloßhofes, als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde und zu Fuß durcheinander bewegt sah. Die eiligen Beschäftigungen der Nächsten ließen sich erkennen: man verlängerte, man verkürzte die Steigbügel, man reichte sich Büchse und Patrontäschchen, man schob die Dachsranzen zurecht, indes die Hunde ungeduldig am Riemen den Zurückhaltenden mit fortzuschleppen drohten. Auch hie und da gebärdete ein Pferd sich mutiger, von feuriger Natur getrieben oder von dem Sporn des Reiters angeregt, der selbst hier in der Halbhelle eine gewisse Eitelkeit, sich zu zeigen, nicht verleugnen konnte. Alle jedoch warteten auf den Fürsten, der, von seiner jungen Gemahlin Abschied nehmend, allzulange zauderte.
Erst vor kurzer Zeit zusammen getraut, empfanden
sie schon das Glück übereinstimmender Gemüter;
beide waren von tätig lebhaftem Charakter, eines
nahm gern an des andern Neigungen und Bestrebungen
Anteil. Des Fürsten Vater hatte noch den Zeitpunkt
erlebt und genutzt, wo es deutlich wurde, daß
alle Staatsglieder in gleicher Betriebsamkeit ihre Tage
zubringen, in gleichem Wirken und Schaffen jeder
nach seiner Art erst gewinnen und dann genießen
sollte. Wie sehr dieses gelungen war, ließ sich in diesen
Tagen gewahr werden, als eben der Hauptmarkt sich
versammelte, den man gar wohl eine Messe nennen
konnte. Der Fürst hatte seine Gemahlin gestern durch
das Gewimmel der aufgehäuften Waren zu Pferde geführt
und sie bemerken lassen, wie gerade hier das
Gebirgsland mit dem flachen Lande einen glücklichen
Umtausch treffe; er wußte sie an Ort und Stelle auf
die Betriebsamkeit seines Länderkreises aufmerksam
zu machen.
Wenn sich nun der Fürst fast ausschließlich in diesen Tagen mit den Seinigen über diese zudringenden Gegenstände unterhielt, auch besonders mit dem Finanzminister anhaltend arbeitete, so behielt doch auch der Landjägermeister sein Recht, auf dessen Vorstellung es unmöglich war, der Versuchung zu widerstehen, an diesen günstigen Herbsttagen eine schon verschobene Jagd zu unternehmen, sich selbst und den vielen angekommenen Fremden ein eignes und seltnes Fest zu eröffnen.
Die Fürstin blieb ungern zurück; man hatte sich vorgenommen, weit in das Gebirg hineinzudringen, um die friedlichen Bewohner der dortigen Wälder durch einen unerwarteten Kriegszug zu beunruhigen. Scheidend versäumte der Gemahl nicht, einen Spazierritt vorzuschlagen, den sie im Geleit Friedrichs, des fürstlichen Oheims, unternehmen sollte. »Auch lasse ich«, sagte er, »dir unsern Honorio als Stall- und Hofjunker, der für alles sorgen wird.« Und im Gefolg dieser Worte gab er im Hinabsteigen einem wohlgebildeten jungen Mann die nötigen Aufträge, verschwand sodann bald mit Gästen und Gefolge.
Die Fürstin, die ihrem Gemahl noch in den Schloßhof
hinab mit dem Schnupftuch nachgewinkt hatte,
begab sich in die hintern Zimmer, welche nach dem
Gebirg eine freie Aussicht ließen, die um desto schöner
war, als das Schloß selbst von dem Flusse herauf
in einiger Höhe stand und so vor- als hinterwärts
mannigfaltige bedeutende Ansichten gewährte. Sie
fand das treffliche Teleskop noch in der Stellung, wo
man es gestern abend gelassen hatte, als man, über
Busch, Berg und Waldgipfel die hohen Ruinen der uralten
Stammburg betrachtend, sich unterhielt, die in
der Abendbeleuchtung merkwürdig hervortraten,
indem alsdann die größten Licht- und Schattenmassen
den deutlichsten Begriff von einem so ansehnlichen
Denkmal alter Zeit verleihen konnten. Auch zeigte
sich heute früh durch die annähernden Gläser recht
auffallend die herbstliche Färbung jener mannigfaltigen
Baumarten, die zwischen dem Gemäuer ungehindert
und ungestört durch lange Jahre emporstrebten.
Die schöne Dame richtete jedoch das Fernrohr etwas
tiefer nach einer öden, steinigen Fläche, über welche
der Jagdzug weggehen mußte. Sie erharrte den Augenblick
mit Geduld und betrog sich nicht, denn bei
der Klarheit und Vergrößerungsfähigkeit des Instruments
erkannten ihre glänzenden Augen deutlich den
Fürsten und den Oberstallmeister; ja sie enthielt sich
nicht, abermals mit dem Schnupftuche zu winken, als
sie ein augenblickliches Stillhalten und Rückblicken
mehr vermutete als gewahr ward.Fürst Oheim, Friedrich
mit Namen, trat sodann, angemeldet, mit seinem
Zeichner herein, der ein großes Portefeuille unter dem
Arm trug. »Liebe Cousine,« sagte der alte, rüstige
Herr, »hier legen wir die Ansichten der Stammburg
vor, gezeichnet, um von verschiedenen Seiten anschaulich
zu machen, wie der mächtige Trutz- und
Schutzbau von alten Zeiten her dem Jahr und seiner
Witterung sich entgegenstemmte und wie doch hie
und da sein Gemäuer weichen, da und dort in wüste
Ruinen zusammenstürzen mußte. Nun haben wir
manches getan, um diese Wildnis zugänglicher zu
machen, denn mehr bedarf es nicht, um jeden Wanderer,
jeden Besuchenden in Erstaunen zu setzen, zu
entzücken.«
Indem nun der Fürst die einzelnen Blätter deutete, sprach er weiter: »Hier, wo man, den Hohlweg durch die äußern Ringmauern heraufkommend, vor die eigentliche Burg gelangt, steigt uns ein Felsen entgegen von den festesten des ganzen Gebirgs; hierauf nun steht gemauert ein Turm, doch niemand wüßte zu sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen. Ferner sieht man seitwärts Mauern angeschlossen und Zwinger terassenmäßig herab sich erstreckend. Doch ich sage nicht recht, denn es ist eigentlich ein Wald, der diesen uralten Gipfel umgibt. Seit hundertundfunfzig Jahren hat keine Axt hier geklungen, und überall sind die mächtigsten Stämme emporgewachsen. Wo ihr euch an den Mauern andrängt, stellt sich der glatte Ahorn, die rauhe Eiche, die schlanke Fichte mit Schaft und Wurzeln entgegen; um diese müssen wir uns herumschlängeln und unsere Fußpfade verständig führen. Seht nur, wie trefflich unser Meister dies Charakteristische auf dem Papier ausgedrückt hat, wie kenntlich die verschiedenen Stamm- und Wurzelarten zwischen das Mauerwerk verflochten und die mächtigen Äste durch die Lücken durchgeschlungen sind! Es ist eine Wildnis wie keine, ein zufällig einziges Lokal, wo die alten Spuren längst verschwundener Menschenkraft mir der ewig lebenden und fortwirkender Natur sich in dem ernstesten Streit erblicken lassen.«
Ein anderes Blatt aber vorlegend, fuhr er fort: »Was sagt Ihr nun zum Schloßhofe, der, durch das Zusammenstürzen des alten Torturmes unzugänglich, seit undenklichen Jahren von niemand betreten ward? Wir suchten ihm von der Seite beizukommen, haben Mauern durchbrochen, Gewölbe gesprengt und so einen bequemen, aber geheimen Weg bereitet. Inwendig bedurft es keines Aufräumens, hier findet sich ein flacher Felsgipfel von der Natur geplättet, aber doch haben mächtige Bäume hie und da zu wurzeln Glück und Gelegenheit gefunden; sie sind sachte, aber entschieden aufgewachsen, nun erstrecken sie ihre Äste bis in die Galerien hinein, auf denen der Ritter sonst auf und ab schritt, ja durch Türen durch und Fenster in die gewölbten Säle, aus denen wir sie nicht vertreiben wollen; sie sind eben Herr geworden und mögens bleiben. Tiefe Blätterschichten wegräumend, haben wir den merkwürdigsten Platz geebnet gefunden, dessengleichen in der Welt vielleicht nicht wieder zu sehen ist.
Nach allem diesem aber ist es immer noch bemerkenswert und an Ort und Stelle zu beschauen, daß auf den Stufen, die in den Hauptturm hinaufführen, ein Ahorn Wurzel geschlagen und sich zu einem so tüchtigen Baume gebildet hat, daß man nur mit Not daran vorbeidringen kann, um die Zinne, der unbegrenzten Aussicht wegen, zu besteigen. Aber auch hier verweilt man bequem im Schatten, denn dieser Baum ist es, der sich über das Ganze wunderbar hoch in die Luft hebt.
Danken wir also dem wackern Künstler, der uns so löblich in verschiedenen Bildern von allem überzeugt, als wenn wir gegenwärtig wären; er hat die schönsten Stunden des Tages und der Jahreszeit dazu angewendet und sich wochenlang um diese Gegenstände herumbewegt. In dieser Ecke ist für ihn und den Wächter, den wir ihm zugegeben, eine kleine, angenehme Wohnung eingerichtet. Sie sollten nicht glauben, meine Beste, welch eine schöne Aus- und Ansicht er ins Land, in Hof und Gemäuer sich dort bereitet hat! Nun aber, da alles so rein und charakteristisch umrissen ist, wird er es hier unten mit Bequemlichkeit ausführen. Wir wollen mit diesen Bildern unsern Gartensaal zieren, und niemand soll über unsere regelmäßige Parterre, Lauben und schattigen Gänge seine Augen spielen lassen, der nicht wünschte, dort oben in dem wirklichen Anschauen des Alten und Neuem, des Starren, Unnachgiebigen, Unzerstörlichen und des Frischen, Schmiegsamen, Unwiderstehlichen seine Betrachtungen anzustellen.«
Honorio trat ein und meldete, die Pferde seien vorgeführt: da sagte die Fürstin, zum Oheim gewendet: »Reiten wir hinauf, und lassen Sie mich in der Wirklichkeit sehen, was Sie mir hier im Bilde zeigten! Seit ich hier bin, hör ich von diesem Unternehmen und werde jetzt erst recht verlangend, mit Augen zu sehen, was mir in der Erzählung unmöglich schien und in der Nachbildung unwahrscheinlich bleibt.« - »Noch nicht, meine Liebe,« versetzte der Fürst; »was Sie hier sahen, ist, was es werden kann und wird; jetzt stockt noch manches, die Kunst muß erst vollenden, wenn sie sich vor der Natur nicht schämen soll.« - »Und so reiten wir wenigstens hinaufwärts, und wär es nur bis an den Fuß; ich habe große Lust, mich heute weit in der Welt umzusehen.« - »Ganz nach Ihrem Willen.« versetzte der Fürst. - »Lassen Sie uns aber durch die Stadt reiten,« fuhr die Dame fort, »über den großen Marktplatz, wo eine zahllose Menge von Buden die Gestalt einer kleinen Stadt, eines Feldlagers angenommen hat. Es ist, als wären die Bedürfnisse und Beschäftigungen sämtlicher Familien des Landes umher nach außen gekehrt, in diesem Mittelpunkt versammelt, an das Tageslicht gebracht worden, denn hier sieht der aufmerksame Beobachter alles, was der Mensch leistet und bedarf; man bildet sich einen Augenblick ein, es sei kein Geld nötig, jedes Geschäft könne hier durch Tausch abgetan werden, und so ist es auch im Grunde. Seitdem der Fürst gestern mir Anlaß zu diesen Übersichten gegeben, ist es mir gar angenehm zu denken, wie hier, wo Gebirg und flaches Land aneinandergrenzen, beide so deutlich aussprechen, was sie brauchen und was sie wünschen. Wie nun der Hochländer das Holz seiner Wälder in hundert Formen umzubilden weiß, das Eisen zu einem jeden Gebrauch zu vermannigfaltigen, so kommen jene drüben mit den vielfältigsten Waren ihm entgegen, an denen man den Stoff kaum unterscheiden und den Zweck oft nicht erkennen mag.«
»Ich weiß,« versetzte der Fürst, »daß mein Neffe
hierauf die größte Aufmerksamkeit wendet, denn gerade
zu dieser Jahreszeit kommt es hauptsächlich darauf
an, daß man mehr empfange als gebe; dies zu bewirken,
ist am Ende die Summe des ganzen Staatshaushaltes
so wie der kleinsten häuslichen Wirtschaft.
Verzeihen Sie aber, meine Beste, ich reite niemals
gern durch den Markt und Messe; bei jedem Schritt
ist man gehindert und aufgehalten, und dann flammt
mir das ungeheure Unglück wieder in die Einbildungskraft,
das sich mir gleichsam in die Augen eingebrannt,
als ich eine solche Güter- und Warenbreite
in Feuer aufgehen sah. Ich hatte mich kaum -«
»Lassen Sie uns die schönen Stunden nicht versäumen!
« fiel ihm die Fürstin ein, da der würdige Mann
sie schon einigemal mit ausführlicher Beschreibung
jenes Unheil geängstigt hatte, wie er sich nämlich, auf
einer großen Reise begriffen, abends im besten Wirtshause
auf dem Markte, der eben von einer Hauptmesse
wimmelte, höchst ermüdet zu Bette gelegt und
nachts durch Geschrei und Flammen, die sich gegen
seine Wohnung wälzten, gräßlich aufgeweckt worden.
Die Fürstin eilte, das Lieblingspferd zu besteigen,
und führte, statt zum Hintertore bergauf, zum Vordertore bergunter ihren widerwillig bereiten Begleiter;
denn wer wäre nicht gern an ihrer Seite geritten,
wer wäre ihr nicht gern gefolgt! Und so war auch
Honorio von der sonst so ersehnten Jagd willig zurückgeblieben,
um ihr ausschließlich dienstbar zu
sein.
Wie vorauszusehen, durften sie auf dem Markte nur
Schritt vor Schritt reiten; aber die schöne Liebenswürdige
erheiterte jeden Aufenthalt durch eine geistreiche
Bemerkung. »Ich wiederhole«, sagte sie,
»meine gestrige Lektion, da denn doch die Notwendigkeit
unsere Geduld prüfen will.« Und wirklich
drängte sich die ganze Menschenmasse dergestalt an
die Reitenden heran, daß sie ihren Weg nur langsam
fortsetzen konnten. Das Volk schaute mit Freuden die
junge Dame, und auf so viel lächelnden Gesichtern
zeigte sich das entschiedene Behagen, zu sehen, daß
die erste Frau im Lande auch die schönste und anmutigste
sei.
Untereinander gemischt standen Bergbewohner, die
zwischen Felsen, Fichten und Föhren ihre stillen
Wohnsitze hegten, Flachländer von Hügeln, Auen
und Wiesen her, Gewerbsleute der kleinen Städte, und
was sich alles versammelt hatte. Nach einem ruhigen
Überblick bemerkte die Fürstin ihrem Begleiter, wie
alle diese, woher sie auch seien, mehr Stoff als nötig
zu ihren Kleidern genommen, mehr Tuch und Leinwand, mehr Band zum Besatz. »Ist es doch, als
ob die Weiber nicht brauschig und die Männer nicht
pausig genug sich gefallen könnten!«
»Wir wollen ihnen das ja lassen,« versetzte der
Oheim; »wo auch der Mensch seinen Überfluß hinwendet,
ihm ist wohl dabei, am wohlsten, wenn er
sich damit schmückt und aufputzt.« Die schöne Dame
winkte Beifall.
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