Zweites Buch
Drittes Kapitel
Er schob indes die offen liegenden Blätter zusammen, und es war ihm lieb, sie auf eine gute Weise wegzubringen; denn es beunruhigte ihn oft der Gedanke, Werner möchte darauf bestehen, daß alles übrige Andenken Marianens vertilgt und die Reste von Briefen, die er vermuten konnte, dem Feuer aufgeopfert werden sollten. Und so ward ein Pack herbeigebracht, der, aufgebunden, in viele einzelne starke und schwache Hefte, Bogen und Blätter auseinanderfiel.
Ach, dachte Wilhelm bei sich, wie er die Schnur aufzog, so hoffte ich euch nicht wieder zu öffnen! Wie verändert ist mein Schicksal, seit ich euch zusammenband! Denn er hatte diese Sammlung mit denen übrigen Sachen, die er auf seiner Flucht mitnehmen wollte, beiseite gelegt. "Rühre mir nichts an", rief er, als der Neugierige zugreifen wollte. "bringe nichts in Unordnung. Du stellst dir wohl nicht vor, daß diese Papiere in chronologischer Reihe hintereinander liegen." – "Das ist wohlgetan, man kann desto besser sehen, wie man zunimmt."
"Ich fürchte nur, daß weder mich in der Folge noch jemanden die Schattierungen unterhalten werden. Zuvörderst muß ich dich vorbereiten, daß du viele Plane, viele einzelne Szenen, angefangene Stücke finden wirst und fast nichts geendigt." – "Wunderbar! ist es dir auch gegangen wie vielen jungen Schriftstellern, von denen ich gehört habe?" – "O daß es allen so ginge! Wir würden so viele Werkchens, die immer unfertig bleiben, wenn sie auch geendigt sind, nicht zu sehen bekommen; es würde nicht jeder, durch das kindische Beispiel gereizt, dem Gefühle, ähnliche Albernheit hervorbringen zu können, unmäßig nachhängen, und unsere Literatur würde nicht einer Schenke gleich werden, wo der Geringste mit lauter Zufriedenheit schwelgt, weil er immer seinesgleichen findet, der mit ihm anstößt. Also zuvörderst hier einige Aufzüge und Szenen im Geschmacke des Plautus." – "Des Plautus? Wie kömmst du an den?" – "Wir explizierten ihn bei dem Magister, denn ich sollte auch ein wenig Lateinisch lernen. Er war der erste Theaterdichter, den ich zu sehen bekam, und somit wurde er auf der Stelle nachgeahmt. Von unsern Puppenspielen, von unsern episch-dramatischen Impromptus, woran nichts als der Dialog fehlte, habe ich dir schon sonst erzählt." – "Lies mir etwas." – "Gott bewahre mich, es ist abscheulich. Du kannst denken: da ist ein mürrischer, geiziger Alter, der betrogen wird, ein Bedienter, der betrügt, ein verliebter junger Mensch, der sich nicht zu helfen weiß. Du kannst dir vorstellen, daß der Alte nicht alt, der Junge nicht jung, der Knecht nicht knechtisch ist, sondern daß sie ohngefähr das Gröbste von dem tun und sagen, was sie Plautus tun und sagen läßt."
Wilhelm hätte hinzusetzen können: Der Lehrling in jeder Kunst bildet im Anfange nur von dem Muster nach, was er an ihm sieht, und darin ist er um einige wenige Grade von vielen Meistern unterschieden; denn sie bilden auch nur meist ihren Vorgängern und, wenn’s hoch kommt, der Natur nach, was sie an ihr sehen. Wie selten tritt einer auf, der aus eigner innrer Kraft das Wahre verherrlicht und das Fürtreffliche hervorbringt.
"Indessen mußte ich immer", fuhr Wilhelm fort, "leiden, daß in meinem Kopfe allerlei Figuren ihr Spiel fortspielten. Denn es war gar nicht willkürlich; alles, was ich erzählt las oder erzählen hörte, ging auch gleich in mir vor, und je mehr ich in der Folge Theaterstücke verschlang, desto mehr baute, wenn ich so sagen darf, sich ein Theater in meinem Kopfe auf, in dessen Grenzen alles geschah. Hier siehst du, mein Freund, schon Musterstücke der folgenden Zeiten!"
"Wie! Was! Verse! Schäfernamen!"
"Alexandriner in aller Form und heroische Schäferspiele; dies war eine Gattung, die mich übermäßig ergötzte. Du kannst es daraus sehen, daß zwei völlig fertig sind und unvollendet eine Schar folgt." – "Du mußt mir sie zum Scherze mitgeben." – "Sehr gerne, denn du wirst über den Ernst, womit alles behandelt ist, recht herzlich lachen. Meine Hauptpersonen, aus fürstlichem Stamm geboren, durch seltsame Schicksale ihres Reiches verlustig, irrend und unbekannt, halten sich in den stillen Wohnungen gastfreier Hirten auf. Welch ein Kontrast in Leidenschaften und Charaktern! Welcher Reichtum an Bildern! Welche Abwechslungen von Erzählungen und Beschreibungen! Gewiß, diese Gattung ist recht für den Autor als Kind gemacht, der gerne alles überall anbringt. Was die Tragödie Hohes und Rührendes, was das Lustspiel Ergötzendes, was das Schäferspiel Liebliches hat, kannst du hier in einem bunt zusammenraffen." – "Sollte man denn nicht in dieser Art gute Stücke machen können?" – "Gar wohl, und man hat ihrer auch schon, nur meine waren’s nicht. Ein Knabe, der sich selbst nicht kennt, der von den Menschen nichts weiß, der von den Werken der Meister allenfalls nur sich zueignet, was ihm gefiel, was will der dichten?" – "Wo nahmst denn du nur die vielen Sachen her?" – "Woher? Aus meiner Einbildung, die wie ein lebendiges Rüsthaus von Puppen und Schattenbildern war, die sich immer durcheinander bewegten. Wie Liebhaber des Kartenspiels nicht müde werden, mit wenigen Blättern gegeneinander zu streiten, und sich an den mannigfaltigen Verbindungen ergötzen, in denen der aufgestempelte oder willkürlich angenommene Wert dieser Helden einander bald fürchterlich wird, bald wieder unter andern Umständen der Held dem Knechte zu Fuße liegt, so spielte ich auch meine wenige Figuren unaufhörlich durcheinander. Was in frühern Zeiten bloß Puppe, Theater, Maske gewesen war, wurde nun mit einem sanften Geiste angehaucht, die Gestalten wurden schöner, reizender, und du kannst denken, daß es der Geist der Liebe war, der hier auch seine belebende Kraft zeigte." – "Davon werde ich ja die Spuren in diesen Heften finden?" – "O ja, auf jeder Seite, und den Verfasser dazu. Ich fing nun an, mich selbst zu fühlen, mir Märchen über mich selbst zu erzählen, und nun ging es damit ins weite Land. Es hinderte mich nichts, so schön, so gut, so großmütig, so leidenschaftlich, so elend, so rasend zu sein, als ich wollte. Ich fädelte die Abenteuer nach Belieben ein und löste sie, wie mir gut deuchte. Und da ich mich reiner Verse befleißigte, so hatte ich ein doppelt und dreifach Vergnügen, wenn es fertig war, nur daß ich mich über der Arbeit meistens schon wieder klüger deuchte, .als ich mich hielt, wie ich den Plan machte, und so immer manches große Veränderungen erlitt und die meisten Unternehmungen gar scheiterten."
Werner hatte indes in die Stücke gesehen und einige Tiraden gelesen. "Die Verse sind nicht übel", sagte er. "Das dachte ich damals auch; da ich niemand hatte, der mir ein Wort drüber sagen konnte, so war mir Gottscheds Bühne der Maßstab, wornach ich meine Stücke maß, und mir kamen sie immer interessanter dem Inhalte nach und an Versen ebenso wohlklingend vor als jene, und damit wußte ich mir viel, weil ich in meiner Unerfahrenheit meine Muster alle für klassisch hielt." – "Hat dir niemand an diesen Versen geholfen?" – "Wer sollte? und an Versen kann man niemand helfen, das war mir das Geringste! Von Jugend auf hab ich in jedem Silbenmaße, das ich hörte oder las, gleich fortreden oder -schreiben können. Der Model war wohl in meinem Kopfe, wenn nur die Masse etwas nutze gewesen wäre, die ich hineinzugießen hatte." – "Das wird nun schon kommen, wenn du fortfährst, dich in müßigen Stunden zu üben." – "In müßigen Stunden", sagte Wilhelm und seufzte tief. "O ja", versetzte Werner, "denn du wirst immer noch Zeit finden, da du weitläufige Gesellschaften nicht liebst und nicht aufs Kaffeehaus gehst." – "Wie irre bist du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß eine solche Arbeit, deren Vorstellung die ganze Seele füllt, könne in unterbrochnen, zusammengegeizten Stunden hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinem geliebten Gegenstande leben. Er, der vom Himmel inwärts auf das köstlichste begabet ist, der einen unzerstörlichen Reichtum von der Natur erhalten hat, er muß auch inwärts ungestört mit seinen Schätzen in der Glückseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen; ihre Wünsche, ihre Mühe, Geld und Zeit jagen rastlos, und wornach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl sein selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen. Was beunruhigt die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, daß der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde sie in der Ferne ahnden ließ. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften Familien und Reiche zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsägliche und unherstellbare Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit; wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengehet, so schreitet die empfängliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag, mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freud und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie willst du, daß er sich mit einem niedrigen Gewerbe besudle, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überfliegen, in den Lüften zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?"
Werner hatte mit Verwunderung zugehört und, wie man sich leicht denken kann, wenig Realität in diesen Worten gefunden. "Wenn nur auch die Menschen", fiel er ihm ein, "wie die Vögel gemacht wären und, ohne daß sie spinnen und weben, ein holdseliges Leben in Genuß zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begeben könnten, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!"
"So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo die Natur noch ehrwürdiger war, und so sollten sie immer leben. Genüglich in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in den süßten, stimmenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für sie ein reichliches Erbteil. An der Könige Hofe, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele für alles andre verschloß, wie man sich selig preist und entzückt stille steht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervorruft! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur so viel mehr. Der Held lauschte ihren Gesängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende wünschte sich sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch, als die beseelte Lippe ihn schilderte; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine Abgötter, nicht mit eignen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanze des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?"
Es ist schade, dachte Werner bei sich selbst, daß mein Freund, der sonst so vernünftig ist, auf diesen Punkt so ausgelassen schwärmt.
"Ja, mein Liebster", fuhr der andre fort, "einem solchen Dasein sich ausschließlich zu übergeben, welche Seligkeit! Bedenke nur, wie viele Menschen sich schon begabt glauben, wenn sie mit einiger Leichtigkeit ihre Gedanken in einem Silbenmaße vortragen, mit gefälligen Reimen zieren können, wenn man gleich sonst den Geist, der den Dichter macht, bei ihnen vermißt. Wie ängstlich wünschen Tausende diesen Vorzug, und wie vergebens arbeiten sie, ihn zu erstreben." – "Ich habe von vielen vernünftigen Leuten urteilen hören, daß mancher seine Zeit und Kräfte besser hätte anwenden können." – "Ich glaube, daß sich viele betrügen, daß man sich aber auch dafür an andern betrügt. Die angeborne Leidenschaft zur Dichtkunst ist so wenig als ein anderer Naturtrieb zu hemmen, ohne das Geschöpf zugrunde zu richten. Und wie der Ungeschickte, den man straft, meistens noch einen zweiten Fehler begeht, mit dem ernstlichen Vorsatze, das Vergangne gutzumachen, so wird der Dichter, um der Dichtung zu entgehen, erst recht zum Dichter."
"Hast du denn von Jugend auf diesen unwiderstehlichen Trieb gefühlt?" – "Das kannst du von diesen Papieren sehen, und doch ist das nur der hundertste Teil, was ich geschrieben, und der tausendste des, was ich erdacht habe. Leider hat mich mein Verlangen nicht weit geführet, und ich sehe diese Reste mit Betrübnis und Verachtung an; es ist nichts drinne, was einen Wert hätte." – "Du irrst dich hierüber vielleicht." – "O nein, ich verstehe mich wohl darauf, ich konnte mir nie lange schmeicheln, außer mit der Hoffnung. Ich hoffte, daß die Begierde meines Herzens mich dem Gegenstande meines Verlangens näherbringen sollte, und ich kann dir sie nicht groß genug beschreiben. Besonders waren meine Wünsche alle aufs Trauerspiel gerichtet, dessen Würde für mich einen unglaublichen Reiz hatte. Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das irgendwo stecken muß, wo die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andre Frauensgestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zankten. Die Erfindung ist gemein, und ich erinnre mich nicht, ob die Verse was taugten; aber du sollst es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der Leidenschaft willen, die darinne herrscht. Es ist kindisch und abgeschmackt und ohne Nachdenken geschrieben, desto mehr beweist es, was es beweisen soll. Wie ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert, mit ihrem Rocken im Gürtel, Schlüssel an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich beschrieb ich den Zustand, sich unter ihrer Rute zu bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes zu verdienen! Wie anders trat jene dagegen auf! welche Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet! In ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde ohne Stolz, ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Kontrast! und auf welche Seite sich mein Herz wandte, kannst du leicht denken. Auch war nichts vergessen, um meine Muse kenntlich zu machen: Krone und Dolche, Ketten und Masken, wie sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier zugeteilt. Der Wettstreit war heftig, und du kannst dir denken, daß die Reden beider Personen kontrastierten, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das Schwarze und Weiße recht gegeneinander zu malen pflegt. Die Alte redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und jene wie eine, die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen der Alten wurden verschmäht, ich sah die mir versprochne Reichtümer schon mit dem Rücken an. Enterbt und nackt übergab ich mich der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte."
"Vergiß ja nicht, es aufzusuchen, ich bin neugierig, die beiden Frauens kennenzulernen. Was man doch in der Jugend für tolles Zeug im Kopfe hat!" – "Darf ich dir’s gestehen, mein Freund, und wirst du es nicht lächerlich finden, wenn ich dir sage, daß jene Bilder mich noch immer verfolgen, und das, wenn ich mein Herz untersuche, so ernst und noch ernster als damals. Zwar was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig übrig? Ach, wer mir’s vorausgesagt hätte, daß die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte. Wer mir dieses vorausgesagt hätte, würde mich zur Verzweiflung gebracht haben, und noch jetzo, da das Gericht über mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt jener Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüberführen sollte, was bleibt mir übrig, als mich den bittersten Schmerzen zu überlassen? O mein Bruder", fuhr er fort, "ich leugne es nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen wie der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist. Gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Füße seiner Wünsche. Es ist auch für mich kein Trost mehr, keine Hoffnung! Ich mochte", rief er aus, indem er aufsprang, "alle diese unglückselige Papiere in Stücken zerreißen und ins Feuer werfen." Er faßte in seiner Wut ein paar Hefte an, zerriß sie und warf sie an den Boden. Werner erschrak und hielt ihn kaum mit Gewalt ab. "Laß mich", sagte Wilhelm, "was sollen diese elende Blätter! Für mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr; sollen sie übrigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespötte dienen, anstatt ihr Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh über mich und über mein Schicksal! Nun versteh ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordenen Traurigen. Bisher hielt ich mich für unzerstörbar, für unverwundlich; und ach! und nun sehe ich, daß ein schwerer früher Schade nicht wieder ausgewaschen, nicht wieder hergestellt werden kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß, er kann und soll keinen Tag des Lebens von mir weichen, der Schmerz, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unwürdigen – ach, mein Geliebter! wenn ich von Herzen reden soll, der gewiß nicht ganz Unwürdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kälte, in deine Härte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinnen gefangengehalten und mich verhindert, das für sie und für mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Gott weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fällt mir’s aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verlassen habe. War’s nicht möglich, daß sie sich entschuldigen konnte? war’s nicht möglich? Wieviel Mißverständnisse können die Welt verwirren, wieviel Umstände können dem größten Fehler Vergebung erflehen! Wie oft denke ich mir sie, in der Stille für sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestützt; ,das ist’, sagt sie, ,die Treue, die Liebe, die er mir zuschwor! mit diesem unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen, das uns verband!’ " Er brach in einen Strom von Tränen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die übereinanderliegenden Papiere benetzte. Werner stand in der größten Verlegenheit dabei. Er hatte sich diesen raschen Übergang der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er ihm in die Rede fallen, etlichemal das Gespräch woandershin lenken; vergebens! er widerstand dem Strome nicht! Auch hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er ließ den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber, fing an, die Papiere zu ordnen, legte sie zusammen, machte ein Zeichen, wo sie geblieben waren, steckte einige Hefte zu sich und ließ sich von Wilhelmen versprechen, daß er sie wohl aufbewahren und bei Gelegenheit weiter mit ihm durchgehen wolle. Und so schieden sie wieder voneinander. Wilhelm ins stille Nachgefühl des Schmerzens versenkt und der andre erschröckt von dem neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch seinen guten Rat und Zureden überwältigt glaubte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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