> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe : Des Epimenides Erwachen 1.Akt 15.Szene

2019-08-20

Johann Wolfgang Goethe : Des Epimenides Erwachen 1.Akt 15.Szene



                           
Funfzehnter Auftritt

Hoffnung erscheint auf der Ruine linker Hand des Zuschauers, bewaffnet mit Helm, Schild
und Speer.

DÄMON DER UNTERDRÜCKUNG. 
   Sie kommt! sie ist's! Ich will sie kirren:
   's ist auch ein Mädchenhaupt, ich will's verwirren.
   Sie sieht mich, bleibt gelassen stehn,
   Sie soll mir diesmal nicht entgehn.
                                 
Sanft teilnehmend.

   Im Gedränge hier auf Erden
   Kann nicht jeder, was er will;
   Was nicht ist, es kann noch werden,
   Hüte dich und bleibe still.
   
Sie hebt den Speer gegen ihn auf und steht in drohender Gebärde unbeweglich.

   Doch welch ein Nebel, welche Dünste
   Verbergen plötzlich die Gestalt!
   Wo find' ich sie? Ich weiß nicht, wo sie wallt:
   An ihr verschwend' ich meine Künste.
   Verdichtet schwankt der Nebelrauch und wächst
   Und webt, er webt undeutliche Gestalten,
   Die deutlich, doch undeutlich, immerfort
   Das Ungeheure mir entfalten.
   Gespenster sind's, nicht Wolken, nicht Gespenster,
   Die Wirklichen, sie dringen auf mich ein.
   Wie kann das aber wirklich sein,
   Das Webende, das immer sich entschleiert?
   Verschleierte Gestalten, Ungestalten,
   In ewigem Wechseltrug erneuert!
   Wo bin ich? Bin ich mir bewußt?
   Sie sind's! sie sind auch nicht, und aus dem Grauen
   Muß ich voran lebendig Kräft'ge schauen;
   Fürwahr, es drängt sich Brust an Brust
   Voll Lebensmacht und Kampfeslust;
   Die Häupter in den Wolken sind gekrönt,
   Die Füße schlangenartig ausgedehnt,
   Verschlungen schlingend,
   Mit sich selber ringend,
   Doch alle klappernd nur auf mich gespitzt.
   Die breite Wolke senkt sich, eine Wolke
   Lebendig tausendfach, vom ganzen Volke,
   Von allen Edlen schwer; sie sinkt, sie drückt,
   Sie beugt mich nieder, sie erstickt!

Er wehrt sich gegen die von der Einbildungskraft ihm vorgespiegelte Vision, weicht ihr aus,
wähnt, in die Enge getrieben zu sein, ist ganz nahe, zu knien. Die Hoffnung nimmt ihre ruhige Stellung wieder an. Er ermannt sich.


    Aufgeregte Höllenbilder,
    Zeigt euch wild und immer wilder,
   Und ihr fechtet mich nicht an!
   Euer Wanken, euer Weben
   Sind Gedanken; sollt' ich beben
   Vor dem selbstgeschaffnen Wahn?
   Euer Lasten, euer Streben,
   Ihr Verhaßten, ist kein Leben;
   Eure Häupter, eure Kronen
   Sind nur Schatten, trübe Luft.
   Doch ich wittre Grabesduft:
   Unten schein' ich mir zu wohnen,
   Und schon modert mir die Gruft.
 
Er entflieht mit Grauen. Hoffnung ist nicht mehr zu sehen. Der Vorhang fällt. 
                                                                  

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