> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 5. Akt 6. Szene

2019-08-10

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 5. Akt 6. Szene

                        
           
 Fünfter Akt
                       
Sechster Auftritt


                                Iphigenie. Thoas. Orest.

IPHIGENIE.
   Befreit von Sorge mich, eh' ihr zu sprechen
   Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist,
   Wenn du, o König, nicht der Billigkeit
   Gelinde Stimme hörest, du, mein Bruder,
   Der raschen Jugend nicht gebieten willst.

THOAS.
   Ich halte meinen Zorn, wie es dem Ältern
   Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit
   Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn
   Und dieser Bruder bist?

OREST.
   Hier ist das Schwert,
   Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug.
   Dies nahm ich seinem Mörder ab und bat
   Die Himmlischen, den Mut und Arm, das Glück
   Des großen Königes mir zu verleihn
   Und einen schönern Tod mir zu gewähren.
   Wähl' einen aus den Edlen deines Heers
   Und stelle mir den Besten gegenüber.
   So weit die Erde Heldensöhne nährt,
   Ist keinem Fremden dies Gesuch verweigert.

THOAS.
   Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie
   Dem Fremden hier gestattet.

OREST.
   So beginne
   Die neue Sitte denn von dir und mir!
   Nachahmend heiliget ein ganzes Volk
   Die edle Tat der Herrscher zum Gesetz.
   Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit,
   Laß mich, den Fremden für die Fremden, kämpfen!
   Fall' ich, so ist ihr Urteil mit dem meinen
   Gesprochen; aber gönnet mir das Glück,
   Zu überwinden, so betrete nie
   Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick
   Hilfreicher Liebe nicht begegnet, und
   Getröstet scheide jeglicher hinweg!

THOAS.
   Nicht unwert scheinest du, o Jüngling, mir
   Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein.
   Groß ist die Zahl der edeln, tapfern Männer,
   Die mich begleiten; doch ich stehe selbst
   In meinen Jahren noch dem Feinde, bin
   Bereit, mit dir der Waffen Los zu wagen.

IPHIGENIE.
   Mit nichten! Dieses blutigen Beweises
   Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand
   Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick.
   Der rasche Kampf verewigt einen Mann:
   Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
   Allein die Tränen, die unendlichen,
   Der überbliebnen, der verlaßnen Frau
   Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt
   Von tausend durchgeweinten Tag' und Nächten,
   Wo eine stille Seele den verlornen,
   Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich
   Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.
   Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt,
   Daß der Betrug nicht eines Räubers mich
   Vom sichern Schutzort reiße, mich der Knechtschaft
   Verrate. Fleißig hab' ich sie befragt,
   Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen
   Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz.
   Sieh hier an seiner rechten Hand das Mal
   Wie von drei Sternen, das am Tage schon,
   Da er geboren ward, sich zeigte, das
   Auf schwere Tat, mit dieser Faust zu üben,
   Der Priester deutete. Dann überzeugt
   Mich doppelt diese Schramme, die ihm hier
   Die Augenbraue spaltet. Als ein Kind
   Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig
   Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen.
   Er schlug auf einen Dreifuß auf. Er ist's
   Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters,
   Soll ich das innre Jauchzen meines Herzens
   Dir auch als Zeugen der Versichrung nennen?

THOAS.
   Und hübe deine Rede jeden Zweifel,
   Und bändigt' ich den Zorn in meiner Brust,
   So würden doch die Waffen zwischen uns
   Entscheiden müssen; Frieden seh' ich nicht.
   Sie sind gekommen, du bekennest selbst,
   Das heil'ge Bild der Göttin mir zu rauben.
   Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an?
   Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge
   Den fernen Schätzen der Barbaren zu,
   Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern;
   Doch führte sie Gewalt und List nicht immer
   Mit den erlangten Gütern glücklich heim.

OREST.
   Das Bild, o König, soll uns nicht entzweien!
   Jetzt kennen wir den Irrtum, den ein Gott
   Wie einen Schleier um das Haupt uns legte,
   Da er den Weg hierher uns wandern hieß.
   Um Rat und um Befreiung bat ich ihn
   Von dem Geleit der Furien; er sprach:
   ›Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer
   Im Heiligtume wider Willen bleibt,
   Nach Griechenland, so löset sich der Fluch.‹
   Wir legten's von Apollens Schwester aus,
   Und er gedachte dich! Die strengen Bande
   Sind nun gelöst: du bist den Deinen wieder,
   Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt,
   War ich geheilt; in deinen Armen faßte
   Das Übel mich mit allen seinen Klauen
   Zum letzten Mal und schüttelte das Mark
   Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's
   Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu
   Genieß' ich nun durch dich das weite Licht
   Des Tages. Schön und herrlich zeigt sich mir
   Der Göttin Rat. Gleich einem heil'gen Bilde,
   Daran der Stadt unwandelbar Geschick
   Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist,
   Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;
   Bewahrte dich in einer heil'gen Stille
   Zum Segen deines Bruders und der Deinen.
   Da alle Rettung auf der weiten Erde
   Verloren schien, gibst du uns alles wieder.
   Laß deine Seele sich zum Frieden wenden,
   O König! Hindre nicht, daß sie die Weihe
   Des väterlichen Hauses nun vollbringe,
   Mich der entsühnten Halle wiedergebe,
   Mir auf das Haupt die alte Krone drücke!
   Vergilt den Segen, den sie dir gebracht,
   Und laß des nähern Rechtes mich genießen!
   Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm,
   Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele
   Beschämt, und reines kindliches Vertrauen
   Zu einem edlen Manne wird belohnt.

IPHIGENIE.
   Denk' an dein Wort und laß durch diese Rede
   Aus einem graden treuen Munde dich
   Bewegen! Sieh uns an! du hast nicht oft
   Zu solcher edeln Tat Gelegenheit.
   Versagen kannst du's nicht; gewähr' es bald.

THOAS.
   So geht!

IPHIGENIE.
   Nicht so, mein König! Ohne Segen,
   In Widerwillen, scheid' ich nicht von dir.
   Verbann' uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte
   Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig
   Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer,
   Wie mir mein Vater war, so bist du's mir,
   Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
   Bringt der Geringste deines Volkes je
   Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück,
   Den ich an euch gewohnt zu hören bin,
   Und seh' ich an dem Ärmsten eure Tracht:
   Empfangen will ich ihn wie einen Gott,
   Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,
   Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden
   Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.
   O geben dir die Götter deiner Taten
   Und deiner Milde wohlverdienten Lohn!
   Leb' wohl! O wende dich zu uns und gib
   Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!
   Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,
   Und Tränen fließen lindernder vom Auge
   Des Scheidenden. Leb' wohl! und reiche mir
   Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.

THOAS.
   Lebt wohl!


Ende

Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe

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