> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 4. Akt 5. Szene

2019-08-10

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 4. Akt 5. Szene

             
           
Vierter Akt
                                 
Fünfte Szene



IPHIGENIE allein.
   Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen
   Seh' ich in dringender Gefahr. Doch ach!
   Mein eigen Schicksal macht mir bang und bänger.
   O soll ich nicht die stille Hoffnung retten,
   Die in der Einsamkeit ich schön genährt?
   Soll dieser Fluch denn ewig walten? Soll
   Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen
   Sich wieder heben? Nimmt doch alles ab!
   Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft
   Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch?
   So hofft' ich denn vergebens, hier verwahrt,
   Von meines Hauses Schicksal abgeschieden,
   Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen
   Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen.
   Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder
   Vom grimm'gen Übel wundervoll und schnell
   Geheilt, kaum naht ein lang' erflehtes Schiff,
   Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten,
   So legt die taube Not ein doppelt Laster
   Mit ehrner Hand mir auf: das heilige,
   Mir anvertraute, viel verehrte Bild
   Zu rauben und den Mann zu hintergehn,
   Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke.
   O daß in meinem Busen nicht zuletzt
   Ein Widerwillen keime! Der Titanen,
   Der alten Götter tiefer Haß auf euch,
   Olympier, nicht auch die zarte Brust
   Mit Geierklauen fasse! Rettet mich
   Und rettet euer Bild in meiner Seele!
   Vor meinen Ohren tönt das alte Lied
   Vergessen hatt' ich's und vergaß es gern –,
   Das Lied der Parzen, das sie grausend sangen,
   Als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel:
   Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig
   War ihre Brust, und furchtbar ihr Gesang.
   In unsrer Jugend sang's die Amme mir
   Und den Geschwistern vor, ich merkt' es wohl.

Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht! 
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen,
Und können sie brauchen,
Wie's ihnen gefällt.

Der fürchte sie doppelt,
Den je sie erheben!
Auf Klippen und Wolken
Sind Stühle bereitet
Um goldene Tische.

Erhebet ein Zwist sich,
So stürzen die Gäste,
Geschmäht und geschändet,
In nächtliche Tiefen
Und harren vergebens,
Im Finstern gebunden,
Gerechten Gerichtes.

Sie aber, sie bleiben
In ewigen Festen
An goldenen Tischen.
Sie schreiten vom Berge
Zu Bergen hinüber:
Aus Schlünden der Tiefe
Dampft ihnen der Atem
Erstickter Titanen,
Gleich Opfergerüchen,
Ein leichtes Gewölke.

Es wenden die Herrscher
Ihr segnendes Auge
Von ganzen Geschlechtern
Und meiden, im Enkel
Die ehmals geliebten,
Still redenden Züge
Des Ahnherrn zu sehn.

So sangen die Parzen;
Es horcht der Verbannte
In nächtlichen Höhlen,
Der Alte, die Lieder,
Denkt Kinder und Enkel
Und schüttelt das Haupt.



Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe

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