> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 3. Akt 3. Szene

2019-08-10

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 3. Akt 3. Szene

             
           

                                 
Dritter Akt

Dritte Szene



                                Orest. Iphigenie. Pylades.

OREST.
   Seid ihr auch schon herabgekommen?
   Wohl, Schwester, dir! Noch fehlt Elektra:
   Ein güt'ger Gott send' uns die eine
   Mit sanften Pfeilen auch schnell herab.
   Dich, armer Freund, muß ich bedauern!
   Kommt mit! Kommt mit! zu Plutos Thron,
   Als neue Gäste den Wirt zu grüßen.

IPHIGENIE.
   Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
   Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
   Den Menschen bringet, und den Abgeschiednen
   Nicht leuchten dürfet, rettet uns Geschwister!
   Du liebst, Diane, deinen holden Bruder
   Vor allem, was dir Erd' und Himmel bietet,
   Und wendest dein jungfräulich Angesicht
   Nach seinem ew'gen Lichte sehnend still.
   O laß den einz'gen, spätgefundnen mir
   Nicht in der Finsternis des Wahnsinns rasen!
   Und ist dein Wille, da du hier mich bargst,
   Nunmehr vollendet, willst du mir durch ihn
   Und ihm durch mich die sel'ge Hilfe geben,
   So lös' ihn von den Banden jenes Fluchs,
   Daß nicht die teure Zeit der Rettung schwinde.

PYLADES.
   Erkennst du uns und diesen heil'gen Hain
   Und dieses Licht, das nicht den Toten leuchtet?
   Fühlst du den Arm des Freundes und der Schwester,
   Die dich noch fest, noch lebend halten? Fass'
   Uns kräftig an: wir sind nicht leere Schatten.
   Merk' auf mein Wort! Vernimm es! Raffe dich
   Zusammen! Jeder Augenblick ist teuer,
   Und unsre Rückkehr hängt an zarten Fäden,
   Die, scheint es, eine günst'ge Parze spinnt.

OREST zu Iphigenien.
   Laß mich zum ersten Mal mit freiem Herzen
   In deinen Armen reine Freude haben!
   Ihr Götter, die mit flammender Gewalt
   Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt
   Und gnädig-ernst den lang' erflehten Regen
   Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen
   In wilden Strömen auf die Erde schüttet,
   Doch bald der Menschen grausendes Erwarten
   In Segen auflöst und das bange Staunen
   In Freudeblick und lauten Dank verwandelt,
   Wenn in den Tropfen frisch erquickter Blätter
   Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt
   Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand
   Den grauen Flor der letzten Wolken trennt:
   O laßt mich auch in meiner Schwester Armen,
   An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt,
   Mit vollem Dank genießen und behalten!
   Es löset sich der Fluch, mir sagt's das Herz.
   Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,
   Zum Tartarus und schlagen hinter sich
   Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu.
   Die Erde dampft erquickenden Geruch
   Und ladet mich auf ihren Flächen ein,
   Nach Lebensfreud' und großer Tat zu jagen.

PYLADES.
   Versäumt die Zeit nicht, die gemessen ist!
   Der Wind, der unsre Segel schwellt, er bringe
   Erst unsre volle Freude zum Olymp.
   Kommt! Es bedarf hier schnellen Rat und Schluß.


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