> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 4. Akt 4. Szene

2019-08-10

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris- 4. Akt 4. Szene

                    
           
Vierter Akt
                          
Vierter Szene

                                   Iphigenie. Pylades.

PYLADES.
   Wo ist sie? daß ich ihr mit schnellen Worten
   Die frohe Botschaft unsrer Rettung bringe!

IPHIGENIE.
   Du siehst mich hier voll Sorgen und Erwartung
   Des sichern Trostes, den du mir versprichst.

PYLADES.
   Dein Bruder ist geheilt! Den Felsenboden
   Des ungeweihten Ufers und den Sand
   Betraten wir mit fröhlichen Gesprächen;
   Der Hain blieb hinter uns, wir merkten's nicht.
   Und herrlicher und immer herrlicher
   Umloderte der Jugend schöne Flamme
   Sein lockig Haupt; sein volles Auge glühte
   Von Mut und Hoffnung, und sein freies Herz
   Ergab sich ganz der Freude, ganz der Lust,
   Dich, seine Retterin, und mich zu retten.

IPHIGENIE.
   Gesegnet seist du, und es möge nie
   Von deiner Lippe, die so Gutes sprach,
   Der Ton des Leidens und der Klage tönen!

PYLADES.
   Ich bringe mehr als das; denn schön begleitet,
   Gleich einem Fürsten, pflegt das Glück zu nahn.
   Auch die Gefährten haben wir gefunden.
   In einer Felsenbucht verbargen sie
   Das Schiff und saßen traurig und erwartend.
   Sie sehen deinen Bruder, und es regten
   Sich alle jauchzend, und sie baten dringend,
   Der Abfahrt Stunde zu beschleunigen.
   Es sehnet jede Faust sich nach dem Ruder,
   Und selbst ein Wind erhob vom Lande lispelnd,
   Von allen gleich bemerkt, die holden Schwingen.
   Drum laß uns eilen, führe mich zum Tempel,
   Laß mich das Heiligtum betreten, laß
   Mich unsrer Wünsche Ziel verehrend fassen!
   Ich bin allein genug, der Göttin Bild
   Auf wohlgeübten Schultern wegzutragen:
   Wie sehn' ich mich nach der erwünschten Last!

Er geht gegen den Tempel unter den letzten Worten, ohne zu bemerken, daß Iphigenie nicht
folgt; endlich kehrt er sich um.

   Du stehst und zauderst sage mir du schweigst!
   Du scheinst verworren! Widersetzet sich
   Ein neues Unheil unserm Glück? Sag' an!
   Hast du dem Könige das kluge Wort
   Vermelden lassen, das wir abgeredet?

IPHIGENIE.
   Ich habe, teurer Mann; doch wirst du schelten.
   Ein schweigender Verweis war mir dein Anblick.
   Des Königs Bote kam, und wie du es
   Mir in den Mund gelegt, so sagt' ich's ihm.
   Er schien zu staunen und verlangte dringend,
   Die seltne Feier erst dem Könige
   Zu melden, seinen Willen zu vernehmen;
   Und nun erwart' ich seine Wiederkehr.

PYLADES.
   Weh uns! Erneuert schwebt nun die Gefahr
   Um unsre Schläfe! Warum hast du nicht
   Ins Priesterrecht dich weislich eingehüllt?

IPHIGENIE.
   Als eine Hülle hab' ich's nie gebraucht.

PYLADES.
   So wirst du, reine Seele, dich und uns
   Zugrunde richten. Warum dacht' ich nicht
   Auf diesen Fall voraus und lehrte dich
   Auch dieser Fordrung auszuweichen!

IPHIGENIE.
   Schilt
   Nur mich, die Schuld ist mein, ich fühl' es wohl;
   Doch konnt' ich anders nicht dem Mann begegnen,
   Der mit Vernunft und Ernst von mir verlangte,
   Was ihm mein Herz als Recht gestehen mußte.

PYLADES.
   Gefährlicher zieht sich's zusammen; doch auch so
   Laß uns nicht zagen oder unbesonnen
   Und übereilt uns selbst verraten. Ruhig
   Erwarte du die Wiederkunft des Boten,
   Und dann steh fest, er bringe, was er will:
   Denn solcher Weihung Feier anzuordnen,
   Gehört der Priesterin und nicht dem König.
   Und fordert er, den fremden Mann zu sehn,
   Der von dem Wahnsinn schwer belastet ist,
   So lehn' es ab, als hieltest du uns beide
   Im Tempel wohl verwahrt. So schaff' uns Luft,
   Daß wir aufs eiligste, den heil'gen Schatz
   Dem rauh unwürd'gen Volk entwendend, fliehn.
   Die besten Zeichen sendet uns Apoll,
   Und eh' wir die Bedingung fromm erfüllen,
   Erfüllt er göttlich sein Versprechen schon.
   Orest ist frei, geheilt! Mit dem Befreiten
   O führet uns hinüber, günst'ge Winde,
   Zur Felseninsel, die der Gott bewohnt;
   Dann nach Mycen, daß es lebendig werde,
   Daß von der Asche des verloschnen Herdes
   Die Vatergötter fröhlich sich erheben,
   Und schönes Feuer ihre Wohnungen
   Umleuchte! Deine Hand soll ihnen Weihrauch
   Zuerst aus goldnen Schalen streuen. Du
   Bringst über jene Schwelle Heil und Leben wieder,
   Entsühnst den Fluch und schmückest neu die Deinen
   Mit frischen Lebensblüten herrlich aus.

IPHIGENIE.
   Vernehm' ich dich, so wendet sich, o Teurer,
   Wie sich die Blume nach der Sonne wendet,
   Die Seele, von dem Strahle deiner Worte
   Getroffen, sich dem süßen Troste nach.
   Wie köstlich ist des gegenwärt'gen Freundes
   Gewisse Rede, deren Himmelskraft
   Ein Einsamer entbehrt und still versinkt.
   Denn langsam reift, verschlossen in dem Busen,
   Gedank' ihm und Entschluß; die Gegenwart
   Des Liebenden entwickelte sie leicht.

PYLADES.
   Leb' wohl! Die Freunde will ich nun geschwind
   Beruhigen, die sehnlich wartend harren.
   Dann komm' ich schnell zurück und lausche hier
   Im Felsenbusch versteckt auf deinen Wink
   Was sinnest du? Auf einmal überschwebt
   Ein stiller Trauerzug die freie Stirne.

IPHIGENIE.
   Verzeih! Wie leichte Wolken vor der Sonne,
   So zieht mir vor der Seele leichte Sorge
   Und Bangigkeit vorüber.

PYLADES.
   Fürchte nicht!
   Betrüglich schloß die Furcht mit der Gefahr
   Ein enges Bündnis: beide sind Gesellen.

IPHIGENIE.
   Die Sorge nenn' ich edel, die mich warnt,
   Den König, der mein zweiter Vater ward,
   Nicht tückisch zu betrügen, zu berauben.

PYLADES.
   Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.

IPHIGENIE.
   Es ist derselbe, der mir Gutes tat.

PYLADES.
   Das ist nicht Undank, was die Not gebeut.

IPHIGENIE.
   Es bleibt wohl Undank; nur die Not entschuldigt's.

PYLADES.
   Vor Göttern und vor Menschen dich gewiß.

IPHIGENIE.
   Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt.

PYLADES.
   Zu strenge Fordrung ist verborgner Stolz.

IPHIGENIE.
   Ich untersuche nicht, ich fühle nur.

PYLADES.
   Fühlst du dich recht, so mußt du dich verehren.

IPHIGENIE.
   Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz.

PYLADES.
   So hast du dich im Tempel wohl bewahrt;
   Das Leben lehrt uns, weniger mit uns
   Und andern strenge sein: du lernst es auch.
   So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet,
   So vielfach ist's verschlungen und verknüpft,
   Daß keiner in sich selbst, noch mit den andern
   Sich rein und unverworren halten kann.
   Auch sind wir nicht bestellt, uns selbst zu richten;
   Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen,
   Ist eines Menschen erste, nächste Pflicht:
   Denn selten schätzt er recht, was er getan,
   Und was er tut, weiß er fast nie zu schätzen.

IPHIGENIE.
   Fast überredst du mich zu deiner Meinung.

PYLADES.
   Braucht's Überredung, wo die Wahl versagt ist?
   Den Bruder, dich und einen Freund zu retten,
   Ist nur ein Weg; fragt sich's, ob wir ihn gehn?

IPHIGENIE.
   O laß mich zaudern! denn du tätest selbst
   Ein solches Unrecht keinem Mann gelassen,
   Dem du für Wohltat dich verpflichtet hieltest.

PYLADES.
   Wenn wir zugrunde gehen, wartet dein
   Ein härtrer Vorwurf, der Verzweiflung trägt.
   Man sieht, du bist nicht an Verlust gewohnt,
   Da du, dem großen Übel zu entgehen,
   Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.

IPHIGENIE.
   O trüg' ich doch ein männlich Herz in mir,
   Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt,
   Vor jeder andern Stimme sich verschließt!

PYLADES.
   Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand
   Der Not gebietet, und ihr ernster Wink
   Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst
   Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht
   Des ew'gen Schicksals unberatne Schwester.
   Was sie dir auferlegt, das trage: tu,
   Was sie gebeut. Das andre weißt du. Bald
   Komm' ich zurück, aus deiner heil'gen Hand
   Der Rettung schönes Siegel zu empfangen.



Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe

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