1.Goethes Kindheit und Knabenalter. Vorbereitende Erlebnisse. Puppenspiel und Volksbuch vom Doktor Faust. Natursinn und religiöse Entwicklung. Agrippa von Nettesheim. Erste Liebe.
Ein Sohn des Hufschmieds Goethe in Artern an der Unstrut, der Schneidergeselle Friedrich Georg Goethe, hatte sich im Jahre 1687 in Frankfurt a. M. niedergelassen und, nachdem er sich ein ansehnliches Vermögen erworben, in zweiter Ehe die wohlhabende Besitzerin des Gasthauses zum Weidenhof, die verwitwete Cornelia Schellhorn, geheiratet. Dieser Ehe entsproß im Jahre 1710 ein Sohn, Johann Kaspar Goethe, der eine sorgfältige Erziehung genoß, eine umfassende gelehrte Bildung sich aneignete, den Doktorhut erwarb und von Kaiser Karl VII. den Charakter eines kaiserlichen Rates erhielt. Nach dem Tode seines Vaters hatte er zusammen mit seiner Mutter Cornelia das von dieser angekaufte Haus auf dem Großen Hirschgraben in Frankfurt a. M. bezogen und im Jahre 1748 die erst siebzehn Jahre alte Katharina Elisabeth Textor, eine Tochter des ältesten Schöffen und kaiserlichen Rates Dr. Johann Wolfgang Textor, als seine Gattin heimgeführt. Am 28. August 1749 wurde ihnen als erstes Kind ein Sohn geboren, der nach seinem Großvater mütterlicherseits, Johann Wolfgang genannt wurde, fünfzehn Monate später eine Tochter, die nach ihrer Großmutter väterlicherseits den Namen Cornelia erhielt. Mehrere andere Kinder starben früh, so daß unserm Wolfgang nur diese eine Schwester blieb, mit der er bis zu ihrem im Jahre 1777 erfolgten Tode innig verbunden war.
Die Erziehung, die Wolfgang im Elternhause zusammen mit seiner Schwester genoß, war eine äußerst sorgfältige und durchdachte, und der Einfluß der beiden Eltern ein ganz vorzüglicher, wenn auch verschiedenartiger, so daß zu dem angeborenen Genie dieses göttlichen Menschen noch eine außerordentlich glücklich angepaßte Art des Unterrichts und des lebendigen Beispiels hinzukam, um einen so ungewöhnlichen Geist von dieser Tiefe und zugleich von diesem Reichtum und dieser Fülle zu bilden. Der kaiserliche Rat hatte kein Amt und konnte sich ganz der Erziehung seiner Kinder widmen, und sein ernster, gediegener Charakter, sein strenger Ordnungssinn, seine sehr umfassende gelehrte Bildung, seine Pflege der Künste wie der Wissenschaften, seine durch Reisen, namentlich durch eine Reise nach Italien, vermehrte Kenntnis von Land und Leuten machten ihn zum Erzieher eines so einzigartig begabten Knaben vorzüglich geeignet. In wohltuendem Gegensatz zu der Strenge und dem männlichen Ernst des Vaters stand das kindlich fröhliche, von herzlichem Vertrauen zu Gott erfüllte, dabei von gesundem Menschenverstände und kernigem Humor durchleuchtete, goldige Gemüt der jungen Mutter, die, eine Gespiehn ihrer Kinder, nicht müde wurde, ihnen Märchen zu erzählen und sie in der mannigfaltigsten Weise zu unterhalten. Goethe drückt dies Verhältnis aus mit den Worten:
„Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen, —
Vom Mütterchen die Frohnatur,
Die Lust zum Fabulieren."
Eine sehr ergiebige Quelle des Genusses bildete auch das Puppenspiel, ein Geschenk der Großmutter zu Weihnachten 1753, das ,,in dem alten Hause eine neue Welt erschuf und die jungen Gemüter mit Gewalt an sich zog". Besonders auf Wolfgang machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine große, lang dauernde Wirkung nachklang. So wuchs der Knabe unter den glücklichsten Umständen heran, in dem ihm von beiden Eltern eingeprägten frommen Sinn und hl der kindlichen Überzeugung, daß Gott, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge, alles zum besten geordnet habe, als ein furchtbares Ereignis alle Gemüter bewegte und auch auf Wolfgang einen tiefen Eindruck machte. Goethe berichtet darüber in „Dichtung und Wahrheit":
„Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teü wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien : denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit ein ander zugrunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgener oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür."
„Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an
manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu -bemerken gewesen : um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt, und die durch fremdes Unglück aufgeregten Gemüter wurden durch
Sorgen für sich selbst und die Ihrigen um so mehr geängstigt, als über die weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer mehrere und umständlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet."
„Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preis gab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten."
Wir erkennen an diesen Ausführungen, wie früh schon dem denkenden Geist eines solchen Genies der Gegensatz zwischen dem blinden, zerstörenden Wirken der Naturgewalten und der Vorstellung eines weisen, gütigen Schöpfers und Erhalters der Welt zum Bewußtsein kam. Das der bejahenden, ,,heilsam schaffenden Gewalt" Gottes entgegengesetzte, verneinende, teuflisch zerstörende Element, das ihm hier zum ersten Male in einem überwältigenden Beispiel vor Augen trat, hat er dann später im Faustgedicht als Mephistopheles verkörpert, der in seiner grausigen Zerstörungswut immer wieder gewahr werden muß, daß das produktive, schöpferische, göttliche Element über alle Vernichtung triumphiert, so daß ein imendhches Leben aus aller Zerstörung immer wieder von neuem hervorbricht; darum sagt Mephistopheles in Erklärung seines zerstörenden, verneinenden Wesens:
„Was sich dem Nichts entgegenstellt,
Das Etwas, diese plumpe Welt,
So viel als ich schon unternommen.
Ich wußte nicht ihr beizukommen,
Mit Wellen, Stürmen, Schütteln, Brand —
Geruhig bleibt am Ende Meer und Land!
Und dem verdammten Zeug, der Tier- imd Menschenbrut,
Dem ist nun gar nichts anzuhaben:
Wie viele hab' ich schon begraben!
Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
So geht es fort, man möchte rasend werden!
Der Luft, dem Wasser, wie der Erden
Entwinden tausend Keime sich.
Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten!
Hätt' ich mir nicht die Flamme vorbehalten.
Ich hätte nichts Aparts für mich."
Noch in einer anderen Form trat dem Knaben das verneinende, mephistophelische Element frühzeitig entgegen, nämlich als der philisterhafte, den Ruhm und die Verdienste eines außerordentlichen Mannes annagende und zerstörende Eigendünkel kleinlich gesinnter Menschen. Es handelt sich um Friedrich den Großen, der bald nach jenem furchtbaren Ereignis den sieben jährigen Krieg begonnen hatte. Mit leidenschaftlichem Anteil nahm man für und gegen ihn Partei, tmd so fand auch eine Spaltung in der Textor-Goetheschen Familie statt. Der Großvater Textor war mit zwei Schwiegersöhnen imd zwei Töchtern auf österreichischer Seite, Goethes Vater dagegen mit den Seinigen und Tante Melber für Preußen. Und bald entstanden derartige IMißhelligkeiten, daß Goethes Vater fortan das Haus seines Schwiegervaters mied. „Nun freuten wir uns", berichtet Goethe, ,,ungestört zu Hause der preußischen Siege, welche gewöhnlich durch jene leidenschaftliche Tante mit großem Jubel verkündet wurden. Alles andere Interesse mußte diesem weichen, und wir brachten den Überrest des Jahres in beständiger Agitation zu. Die Besitznahme von Dresden, die anfängliche Mäßigung des Königs, die zwar langsamen aber sichern Fortschritte, der Sieg bei Ivowositz, die Gefangennehmung der Sachsen waren für unsere Partei ebensoviele Triumphe. Alles, was zum Vorteil der Gegner angeführt werden konnte, wurde geleugnet oder verkleinert; und da die entgegengesetzten Familienmitglieder das Gleiche taten, so konnten sie einander nicht auf der Straße begegnen, ohne daß es Händel setzte, wie in Romeo und Julie." „Und so war ich denn auch preußisch, oder um richtiger zu reden. Fritzisch gesinnt: denn was ging uns Preußen an. Es war die Persönlichkeit des großen Königs, die auf alle Gemüter wirkte. Ich freute mich mit dem Vater unserer Siege, schrieb sehr gern die Siegeslieder ab und fast noch lieber die Spottüeder auf die Gegenpartei, so platt die Reime auch sein mochten." „Als ältester Enkel imd Pate hatte ich seit meiner Kindheit jeden Sonntag bei den Großeltern gespeist: es waren meine vergnügtesten Stunden der ganzen Woche. Aber nun wollte mir kein Bissen mehr schmecken : denn ich mußte meinen Helden aufs greulichste verleumden hören. Hier wehte ein anderer Wind, hier klang ein anderer Ton als zu Hause. Die Neigung, ja die Verehrung für meine Großeltern nahm ab. Bei den Eltern durfte ich nichts davon erwähnen; ich unterließ es aus eigenem Gefühl, und auch weil die Mutter mich gewarnt hatte. Dadurch war ich auf mich selbst zurückgewiesen, und wie mir in meinem sechsten Jahre, nach dem Erdbeben von I,issabon, die Güte Gottes einigermaßen verdächtig geworden war, so fing ich mm, wegen Friedrichs des Zweiten, die Gerechtigkeit des Publikums zu bezweifeln an. Mein Gemüt war von Natur zur Ehrerbietimg geneigt, und es gehörte eine große Erschütterung dazu, um meinen Glauben an irgendein Ehrwürdiges wanken zu machen. Leider hatte man uns die guten Sitten, ein anständiges Betragen nicht um ihrer selbst, sondern um der Leute willen anempfohlen; was die Leute sagen würden 1 hieß es immer, und ich dachte, die Leute müßten auch rechte Leute sein, würden auch alles und jedes zu schätzen wissen. Nun aber erfuhr ich das Gegenteil. Die größten und augenfälligsten Verdienste wurden geschmäht und angefeindet, die höchsten Taten, wo nicht geleugnet, doch wenigstens entstellt und verkleinert; und ein so schnödes Unrecht geschah dem einzigen, offenbar über alle seine Zeitgenossen erhabenen Manne, der täglich bewies und dartat, was er vermöge; imd dies nicht etwa vom Pöbel, sondern von vorzüglichen Männern, wofür ich doch meinen Großvater und meine Oheime zu halten hatte. Daß es Parteien geben könne, ja daß er selbst zu einer Partei gehörte, davon hatte der Knabe keinen Begriff. Er glaubte um so viel mehr Recht zu haben und seine Gesinnung für die bessere erklären zu dürfen, da er tmd die Gleichgesinnten Marien Theresien, ihre Schönheit und übrigen guten Eigenschaften ja gelten Heßen tmd dem Kaiser Franz seine Juwelen- und GeldHebhaberei weiter auch nicht verargten; daß Graf Daim manchmal eine Schlafmütze geheißen wurde, glaubten sie verantworten zu können."
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