10. Die Ausfüllung der großen Lücke im ,,Faust*'. Prolog im Himmel Wette. Walpurgisnacht. Vollendung des ersten Teiles.
Goethe schreibt im Juni 1797 an Schiller: „Da es höchst nötig ist, daß ich mir, in meinem jetzigen unruhigen Zustand, etwas zu tun gebe, so habe ich mich entschlossen, an meinen Faust zu gehen und ihn wo nicht zu vollenden doch wenigstens um ein gutes Teil weiterzubringen, indem ich das, was im Fragment gedruckt ist, wieder auflöse und mit dem, was schon fertig oder erfunden ist, in großen Massen disponiere, und so die Ausführung des Plans, der eigentlich nur eine Idee ist, näher vorbereite. Nun habe ich eben diese Idee und deren Darstellung wieder vorgenommen und bin mit mir selbst ziemlich einig. Nun wünsche ich aber, daß Sie die Güte hätten, die Sache einmal, in schlafloser Nacht, durchzudenken, mir die Forderungen, die Sie an das Ganze machen würden, vorzulegen und so mir meine eigenen Träume als ein wahrer Prophet zu erzählen und zu deuten."
An diesem Brief ist bemerkenswert, daß Goethe von seinem Plane sagt, daß er eigentlich nur eine Idee sei ; das heißt, Goethe hat noch keinen fertigen Plan, in dem alle Einzelheiten bereits skizziert sind und nur ausgeführt zu werden brauchen, sondern sein Plan ist mehr unbestimmter Art und besteht eigentlich hauptsächlich in einer philosophischen Idee, nämlich in der Idee des Übermenschen oder Gottmenschen, der von dem ewigen, höchsten Gut angezogen, bei keinem endlichen, vergänglichen Gut dieser Welt zu beharren, an ihm fest zu haften vermag. Darum läßt er später Faust sagen: „Wie ich beharre, bin ich Knecht," nämlich Knecht der endlichen, vergänglichen Dinge und damit selbst endlich und vergänglich. Faust aber will nicht endlich und vergänglich sein, sondern sucht die Ewigkeit wie sein Dichter, der aus Rom den 28. August 1787 schreibt: ,,Die Gestalt dieser Welt vergeht; ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind und so nach der Lehre des Spinoza meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen."
Schiller antwortete auf Goethes Bitte, seine Meinung zu äußern, schon am anderen Tage: ,,Ihre Aufforderung an mich, Ihnen meine Erwartungen und Wünsche mitzuteilen, ist nicht
leicht zu erfüllen, aber soviel ich kann, will ich Ihren Faden zum Faust aufzufinden suchen, und wenn auch das nicht geht so will ich mir einbilden, als ob ich die Fragmente von Faust zufällig fände und solche auszuführen hätte. Soviel bemerke ich nur, daß der Faust, das Stück nämlich, bei aller seiner dichterischen Individualität die Forderung an eine symbolische Bedeutsamkeit nicht ganz von sich weisen kann, wie auch wahrscheinlich Ihre eigene Idee ist. Die Doppelheit der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben, das Göttliche und Irdische oder Physische im Menschen zu vereinigen, verliert man nicht aus den Augen; und weil die Fabel ins Grelle und Formlose geht und gehen muß, so will man nicht bei dem Gegenstand stillstehen, sondern von ihm zu Ideen geleitet werden. Kurz, die Anforderungen an den Faust sind zugleich philosophisch und poetisch, und Sie mögen sich wenden, wie Sie wollen, so wird Ihnen die Natur des Gegenstandes eine philosophische Behandlung auflegen, und die Einbildungskraft wird sich zum Dienst einer Vernunftidee bequemen müssen. Aber ich sage Ihnen damit schwerlich etwas Neues, denn Sie haben diese Forderung in dem, was bereits da ist, schon in hohem Grade zu befriedigen angefangen."
Wie bemerkenswert ist es, hier Schiller, den großen Freund des Dichters, über dessen tiefgründigstes Werk reden zu hören, noch bevor es vollständig ausgeführt war. Wirklich als ein wahrer Prophet, wie Goethe sich ausdrückte, erzählt und deutet hier Schiller des Freundes eigenartigste, tiefsinnigste
dichterische Träume. Schon mehrfach hatten wir Gelegenheit, diese Doppelheit der menschlichen Natur zu bemerken, von der hier Schiller spricht, das „verunglückte Bestreben, das Göttliche und Irdische oder Physische im Menschen zu vereinigen". Der Knecht Gottes in der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen klagt ja auch: „Den himmlischen Gütern wünsche und begehre ich anzuhangen, aber die zeitlichen Dinge und unabgestorbenen Neigungen ziehen mich hernieder. Mit dem Gemüt will ich über alle Dinge sein, aber mit dem Fleisch," mit der physischen Natur, „werde ich bezwungen, daß ich unter allen Dingen sein muß. Also streite ich unseliger Mensch mit mir selbst, und bin mir selbst beschwerlich worden, dieweil der Geist über sich, das Fleisch aber unter sich begehrt." In der nach dem Schillerschen Briefe gedichteten Szene vor dem Tore, die zur Ausfüllung der großen Lücke gehört, spricht Faust ,,die Doppelheit der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben, das Göttliche und das Irdische im Menschen zu vereinigen", mit den Worten aus:
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen."
„Sie mögen sich wenden, wie Sie wollen," schreibt Schiller, ,,so wird Ihnen die Natur des Gegenstandes eine philosophische Behandlung auflegen, und die Einbildungskraft," die dichterische Phantasie, „wird sich zum Dienst einer Vernunftidee bequemen müssen," das heißt, es konnte sich, wie Goethe im Fragment den Faust angelegt hatte, bei der weiteren Ausführung nicht mehr um eine einfache Dramatisierung der Faustfabel nach dem Volksbuch handeln, wie es ja der englische Dichter Marlowe gemacht hat, sondern Goethes ,,Faust" mußte notwendig einen tiefen philosophischen und religiösen Gehalt besitzen und auf eine Vernunftidee abzielen. Unter Vernunftidee versteht Schiller eine Idee, die sich auf das Ewige, auf das Göttliche bezieht, auf das Geistige, Vernünftige oder Intellektuelle im Menschen, auf seine höhere Geisteskraft, die emporstrebt zur Vereinigung mit dem die ganze Natur durchdringenden und erfüllenden Allgeist oder der Allvernunft. Spinoza nennt diese höhere Vernunft im Menschen die intellektuelle, die geistige Liebe zu Gott, mit der der im Menschen wohnende Geist Gottes sich selber liebt.
Goethe schrieb darauf an Schiller: ,,Dank für Ihre ersten Worte über den wieder auflebenden Faust. Wir werden wohl in der Ansicht dieses Werkes nicht auseinandergehen, doch gibt's gleich einen ganz andern Mut zur Arbeit, wenn man seine Gedanken und Vorsätze auch von außen bezeichnet sieht, und Ihre Teilnahme ist in mehr als einem Sinne fruchtbar . . . Ich werde nur vorerst die großen erfundenen und halb bearbeiteten Massen zu enden und mit dem, was gedruckt ist, zusammenzustellen suchen, und das so lange treiben, bis sich der Kreis selbst erschöpft . . . Fahren Sie fort, mir etwas über Gegenstand und Behandlung zu sagen." Schiller erwidert zwei Tage darauf: ,,Den Faust habe ich nun wieder gelesen, und mir schwindelt ordentlich vor der Auflösung . . . Nun, Sie werden sich schon zu helfen wissen ... In Rücksicht auf die Behandlung finde ich die große Schwierigkeit, zwischen dem Spaß und dem Ernst glücklich durchzukommen; Verstand und Vernunft scheinen mir in diesem Stoff auf Tod und Leben miteinander zu ringen. Bei der jetzigen fragmentarischen Gestalt des Faust fühlt man dieses mehr, aber man verweist die Erwartung auf das entwickelte Ganze. Der Teufel behält durch seinen Realismus" (durch seinen Hinweis auf das Reale, auf das unmittelbar gegebene wirkliche Leben) ,,vor dem Verstand, und der Faust vor dem Herzen oder der höheren Vernunft recht. Zuweilen aber scheinen sie ihre Rollen zu tauschen, und der Teufel nimmt die Vernunft gegen den Faust in Schutz."
,,Verstand und Vernunft scheinen mir in diesem Stoff auf Tod und Leben miteinander zu ringen," sagt Schiller, und zwar vertritt der Teufel den Verstand und Faust die Vernunft oder das Herz. Unter Verstand verstehen Schiller und Goethe das, was der Philister meint, wenn er sagt, ein Mensch habe Verstand, der und der sei ein verständiger Mann, der ohne jeden himmelstürmenden Überschwang und ohne große Leidenschaft seine und seiner Angehörigen selbstsüchtige Interessen auf erprobten Wegen gut zu wahren und die Güter des Lebens recht zu genießen versteht. Ganz dasselbe versteht aber der Philister auch unter Vernunft, indem er keinerlei Unterschiede zwischen Verstand und Vernunft gelten läßt. Ein verständiger Mann und ein vernünftiger Mann bedeuten für den Philister dasselbe. Und wenn der Urphilister Mephistopheles von Faust sagt: ,,Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, so hab' ich dich schon unbedingt", so versteht er hier unter Vernunft auch nur das, was Schiller und Goethe mit dem Worte Verstand bezeichnen, nämlich die dem eigenen Nutzen am besten dienende Behandlung der Güter und Übel dieser Welt innerhalb eines beschränkten Kreises ohne Beziehung auf die Gottheit oder die Allnatur, von der ja der Philister tmd der Teufel nichts wissen wollen. Eine Vernunft im höheren Sinne im Unterschiede vom praktischen Verstand kennen daher diese niederen, die Gottheit verneinenden Geister nicht. Schiller und Goethe aber bezeichnen mit dem Wort Vernunft das höhere Seelenvermögen des Menschen, über seine eigenen beschränkten Interessen hinaus sein Herz, seinen Sinn, seine Liebe auf einen ewigen, vollkommenen und unendlichen Gegenstand zu richten und alles nur unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, sub specie aeterni, unter dem Bilde des Ewigen, wie Spinozas berühmter Ausdruck lautet. Nehmen wir ein Beispiel an dem Verhalten Jesu Christi. Seine eigenen Angehörigen, seine Mutter und seine Brüder hielten ihn zuerst bei seinem öffentlichen Auftreten für unverständig oder, wie sich das Marcus-Evangelium ausdrückt, für besessen, besessen von einer unverständigen Leidenschaft, die ihn selber und die Seinigen zugrunde zu richten drohte. Er, der unbekannte junge Mensch ohne Stellung und Amt, wagte es, die alten bewährten Autoritäten anzugreifen und die geistlichen Gewalten gegen sich in Harnisch zu bringen, die nur zu wohl imstande waren, ihn selber zu vernichten und seine Angehörigen ins Unglück zu stürzen. So handelt nur ein unverständiger Mann, urteilten seine Mutter und Brüder, und darum bemühten sie sich, ihn wieder zum Verständnis der wirklichen Verhältnisse oder, wie man gewöhnlich sagt, zur Vernunft zu bringen. Darum, als Jesus Christus wieder einmal unter großem Zulauf in einem Hause eine Ansprache hielt, wollten ihn seine Angehörigen herausholen und wenn möglich mit sich nach Hause führen. Infolge des großen Gedränges aber konnten sie nicht zu ihm gelangen und ließen ihm daher durch näher bei ihm stehende Leute melden, seine Mutter und seine Brüder befänden sich draußen und wollten mit ihm reden ; er aber, heißt es in den drei synoptischen Evangelien, antwortete: ,,Wer ist meine Mutter? und wer sind meine Brüder ? und er reckte seine Hand aus über die, die vor ihm standen, und sagte : die sind mir Brüder, Schwestern und Mütter, die den Willen tun meines Vaters im Himmel." Um seine höhere Aufgabe zu erfüllen, die ihm die Vernunft, seine selbstlose Liebe zu Gott und zu den Menschen, in denen Gott lebt, vorschrieb, trennte er sich von dem engen und ein
geschränkten Kreis der Familie, die ihn an der Erfüllung seines von der höheren Vernunft ausgehenden Rufes hindern wollte. Der praktische, dem eigenen Nutzen dienende Verstand aber sagt, man soll sich nicht auf Abenteuer einlassen, deren Ausgang höchst zweifelhaft ist, wie denn der Erfolg auch lehrte, daß Christus dem Andrängen seiner Gegner sehr bald unterlag und einen qualvollen und schimpflichen Tod erleiden mußte. Der Verstand sprach aus seinen Angehörigen, die ihm rieten, seine Gaben innerhalb seines engen aber sicheren Kreises nutzbar zu machen, sein persönliches Glück zu gründen und damit auch das Glück seiner Angehörigen zu fördern. Gewiß, ein Rat, der an sich durchaus nicht verwerflich ist. Hätte aber ein großer Dichter die Geschichte Jesu zu dramatisieren und alles Niederziehende und Widergöttliche in einer Gestalt symbolisch zusammenzufassen, wie Goethe es in seinem Teufel Mephistopheles getan würde da der Teufel in dem Jesus-Drama nicht auf der Seite der verständigen Familie Christi stehen müssen, und würde der Teufel nicht auch da Verstand oder wie Mephistopheles es nennt, Vernunft predigen, um den Heiland, den Retter der Welt, von seinem göttlichen Berufe abzubringen? Auch in einem solchen Christusdrama müßte Verstand und Vernunft auf Tod und lieben miteinander ringen.
Nehmen wir noch ein zweites Beispiel, um die verschiedene Bedeutung von Verstand und Vernunft klarzustellen. Als Alexander der Große den Perserkönig in mehreren Schlachten besiegt hatte, wollte dieser Frieden schließen und bot dem Sieger die Hälfte seines gewaltigen Reiches an. Alexanders Feldherr Parmenio, ein sehr verständiger Mann, riet dazu, den Vorschlag des Perserkönigs anzunehmen, indem er zu Alexander sagte : „Wenn ich du wäre, so würde ich dem Friedensvorschlag des Perserkönigs zustimmen und mich mit der Hälfte dieses ungeheuer großen Reiches begnügen." Parmenio meinte in seinem verständigen Sinn, daß man doch nicht wissen könne, wie sich die Dinge im Falle einer Fortsetzung des Krieges weiter entwickeln würden. Es sei daher verständiger, das Feste und Sichere zu nehmen, das einem ohne weiteren Kampf geboten werde, und auf das andere, das noch unsicher sei, Verzicht zu leisten, um nicht etwa bei einem unglücklichen Ausgang des Krieges alles zu verlieren. Alexander antwortete ihm: „Ja, wenn ich du wäre, so würde ich auch so handeln, wie du mir eben geraten hast. Alexander fühlte dabei deutlich, daß er eine ganz andere Art von Mensch wäre, als sein Freund und Feldherr Parmenio. Alexanders Wesen und Streben zielte auf etwas ganz anderes als das Wesen und Streben des verständigen Parmenio. Dieser nämlich wollte nach allen Kämpfen und Mühen am letzten Ende in dem sicheren und ruhigen Genüsse eines großen irdischen Besitztums sein Leben beschließen, Alexanders des Großen Wesen und Streben aber war auf etwas Unendliches, Ewiges gerichtet, und seine Vernunft lehrte ihn wie den Goetheschen Faust, daß es in Wahrheit keine Ruhe und keine Befriedigung in irgend einem Besitztum dieser Welt gibt, und darum hatte es für den genialen Tatendrang Alexanders keinen Zweck, auf halbem Wege stehen zu bleiben und Glück, Ruhe und Befriedigung in dem Besitz des halben Perserreiches zu suchen. Glück, Ruhe und Befriedigung fand er weder in dem halben noch in dem ganzen Besitztum, das Vorwärtsstürmen allein, die Arbeit, der Kampf, der Sieg und die Gefahr füllten ihn aus, und daher gab es kein Stillhalten, kein Rasten für ihn, und darum gab er nicht dem Verstande Gehör, der ihn verführen wollte, in einem beschränkten endlichen Besitz eine trügerische Ruhe und Sicherheit zu erstreben, sondern folgte der Eingebung der höheren Vernunft, die ihn lehrte, Ruhe, Glück und Sicherheit als nur in einem ewigen Gut und Besitztum befindlich zu betrachten und über alle endlichen Güter und Besitztümer hinwegzustürmen, einem unbekannten Ziele entgegen:
„Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit
Ins Rollen der Begebenheit!
Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß
Miteinander wechseln, wie es kann;
Nur rastlos betätigt sich der Mann."
Auch Parrnenio, der Freund Alexanders, vertritt den Verstand des Philisters oder das, was Mephistopheles Vernunft nennt, während Alexander der Vernunft im höheren Sinne folgt, wie Schiller und Goethe sie auffassen. Goethe hat das Leben Alexanders des Großen sehr eifrig studiert, und sein Faust ist eine symbolische Zusammenfassung des innersten, tiefsten Wesens, wie es in allen echten großen Genies, auch in Männern gleich Alexander dem Großen und Napoleon I., zum Ausdruck kam.
Wenn Schiller in seinem Brief an Goethe irrtümlich meint, daß zuweilen Faust und Mephistopheles ihre Rollen zu tauschen und der Teufel die Vernunft gegen Faust in Schutz zu nehmen scheint, so bezieht sich dies wohl auf den Monolog des Mephistopheles: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft", und der Irrtum Schillers wird eben dadurch herbeigeführt, daß hier der Teufel das Wort Vernunft im Sinne von Verstand gebraucht, nicht in dem Sinne von höherer Vernunft nach dem Sprachgebrauch Goethes und Schillers.
geschränkten Kreis der Familie, die ihn an der Erfüllung seines von der höheren Vernunft ausgehenden Rufes hindern wollte. Der praktische, dem eigenen Nutzen dienende Verstand aber sagt, man soll sich nicht auf Abenteuer einlassen, deren Ausgang höchst zweifelhaft ist, wie denn der Erfolg auch lehrte, daß Christus dem Andrängen seiner Gegner sehr bald unterlag und einen qualvollen und schimpflichen Tod erleiden mußte. Der Verstand sprach aus seinen Angehörigen, die ihm rieten, seine Gaben innerhalb seines engen aber sicheren Kreises nutzbar zu machen, sein persönliches Glück zu gründen und damit auch das Glück seiner Angehörigen zu fördern. Gewiß, ein Rat, der an sich durchaus nicht verwerflich ist. Hätte aber ein großer Dichter die Geschichte Jesu zu dramatisieren und alles Niederziehende und Widergöttliche in einer Gestalt symbolisch zusammenzufassen, wie Goethe es in seinem Teufel Mephistopheles getan würde da der Teufel in dem Jesus-Drama nicht auf der Seite der verständigen Familie Christi stehen müssen, und würde der Teufel nicht auch da Verstand oder wie Mephistopheles es nennt, Vernunft predigen, um den Heiland, den Retter der Welt, von seinem göttlichen Berufe abzubringen? Auch in einem solchen Christusdrama müßte Verstand und Vernunft auf Tod und lieben miteinander ringen.
Nehmen wir noch ein zweites Beispiel, um die verschiedene Bedeutung von Verstand und Vernunft klarzustellen. Als Alexander der Große den Perserkönig in mehreren Schlachten besiegt hatte, wollte dieser Frieden schließen und bot dem Sieger die Hälfte seines gewaltigen Reiches an. Alexanders Feldherr Parmenio, ein sehr verständiger Mann, riet dazu, den Vorschlag des Perserkönigs anzunehmen, indem er zu Alexander sagte : „Wenn ich du wäre, so würde ich dem Friedensvorschlag des Perserkönigs zustimmen und mich mit der Hälfte dieses ungeheuer großen Reiches begnügen." Parmenio meinte in seinem verständigen Sinn, daß man doch nicht wissen könne, wie sich die Dinge im Falle einer Fortsetzung des Krieges weiter entwickeln würden. Es sei daher verständiger, das Feste und Sichere zu nehmen, das einem ohne weiteren Kampf geboten werde, und auf das andere, das noch unsicher sei, Verzicht zu leisten, um nicht etwa bei einem unglücklichen Ausgang des Krieges alles zu verlieren. Alexander antwortete ihm: „Ja, wenn ich du wäre, so würde ich auch so handeln, wie du mir eben geraten hast. Alexander fühlte dabei deutlich, daß er eine ganz andere Art von Mensch wäre, als sein Freund und Feldherr Parmenio. Alexanders Wesen und Streben zielte auf etwas ganz anderes als das Wesen und Streben des verständigen Parmenio. Dieser nämlich wollte nach allen Kämpfen und Mühen am letzten Ende in dem sicheren und ruhigen Genüsse eines großen irdischen Besitztums sein Leben beschließen, Alexanders des Großen Wesen und Streben aber war auf etwas Unendliches, Ewiges gerichtet, und seine Vernunft lehrte ihn wie den Goetheschen Faust, daß es in Wahrheit keine Ruhe und keine Befriedigung in irgend einem Besitztum dieser Welt gibt, und darum hatte es für den genialen Tatendrang Alexanders keinen Zweck, auf halbem Wege stehen zu bleiben und Glück, Ruhe und Befriedigung in dem Besitz des halben Perserreiches zu suchen. Glück, Ruhe und Befriedigung fand er weder in dem halben noch in dem ganzen Besitztum, das Vorwärtsstürmen allein, die Arbeit, der Kampf, der Sieg und die Gefahr füllten ihn aus, und daher gab es kein Stillhalten, kein Rasten für ihn, und darum gab er nicht dem Verstande Gehör, der ihn verführen wollte, in einem beschränkten endlichen Besitz eine trügerische Ruhe und Sicherheit zu erstreben, sondern folgte der Eingebung der höheren Vernunft, die ihn lehrte, Ruhe, Glück und Sicherheit als nur in einem ewigen Gut und Besitztum befindlich zu betrachten und über alle endlichen Güter und Besitztümer hinwegzustürmen, einem unbekannten Ziele entgegen:
„Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit
Ins Rollen der Begebenheit!
Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß
Miteinander wechseln, wie es kann;
Nur rastlos betätigt sich der Mann."
Auch Parrnenio, der Freund Alexanders, vertritt den Verstand des Philisters oder das, was Mephistopheles Vernunft nennt, während Alexander der Vernunft im höheren Sinne folgt, wie Schiller und Goethe sie auffassen. Goethe hat das Leben Alexanders des Großen sehr eifrig studiert, und sein Faust ist eine symbolische Zusammenfassung des innersten, tiefsten Wesens, wie es in allen echten großen Genies, auch in Männern gleich Alexander dem Großen und Napoleon I., zum Ausdruck kam.
Wenn Schiller in seinem Brief an Goethe irrtümlich meint, daß zuweilen Faust und Mephistopheles ihre Rollen zu tauschen und der Teufel die Vernunft gegen Faust in Schutz zu nehmen scheint, so bezieht sich dies wohl auf den Monolog des Mephistopheles: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft", und der Irrtum Schillers wird eben dadurch herbeigeführt, daß hier der Teufel das Wort Vernunft im Sinne von Verstand gebraucht, nicht in dem Sinne von höherer Vernunft nach dem Sprachgebrauch Goethes und Schillers.
Die Teilnahme Schillers für das große Werk seines Freundes ermattete nicht und spornte diesen immer wieder von neuem dazu an, die schwierige, abgrundtiefe Arbeit am ,,Faust" wieder vorzunehmen, bis der erste Teil nahezu vollendet war. Da schloß nach langem Leiden der einzige Freund und Genosse Goethes, der ihm völlig ebenbürtig war, am 9. Mai 1805 seine göttlichen Augen für immer und ließ den Dichter des ,,Faust" in innerer tiefer Einsamkeit zurück. Die Arbeit aber war schon zu weit gediehen, um wieder ganz ins Stocken geraten zu können, und der Einfluß Schillers wirkte auch nach seinem Tode eine geraume Weile belebend fort, so daß es Goethe gelang, im folgenden Jahre den ersten Teil des „Faust" zum Abschluß zu bringen. Die Zeitumstände, das gewaltsame Hereinbrechen Napoleons I., eines gewaltigen Faustischen Menschen, und der damit zusammenhängende Umsturz aller Verhältnisse in Deutschland, verhinderte das rasche Erscheinen des vollendeten ersten Teils, so daß dieser erst zwei Jahre später, 1808, veröffentlicht werden konnte.
Bei der Vollendung des ersten Teils mußte Goethe die sogenannte große Lücke ausfüllen zwischen dem Schluß der ersten Unterhaltung Fausts mit Wagner:
„Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,
Mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt.
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!"
und der Unterhaltung Fausts mit Mephistopheles im Studierzimmer, beginnend mit den Worten:
„Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen."
Der ganze erste Teil enthält 4612 Verse und eine Prosaszene von 82 Zeilen nach der Zählung der Sophien-Ausgabe. Die große Lücke zu füllen dienen 1164 Verse von Vers 606 bis 1769.
Betrachten wir diese Verse genauer, so finden wir zunächst in dem zweiten Monolog Fausts wiederum auf das deutlichste das von Faust ausgesprochen, was Schiller „die Doppelheit der menschlichen Natur" nennt; ,,das verunglückte Bestreben, das Göttliche und Irdische oder Physische im Menschen zu vereinigen". Dem Göttlichen hatte Faust sich schon ganz nah gedünkt. Die große Sehnsucht, dem Unendlichen näher zu kommen und wie ein Gott schaffend wirken zu können, hatte ihn über die Grenzen seiner irdischen oder physischen Natur für kurze Zeit hinweggetäuscht, bis die Erscheinung des Erdgeistes ihm jede falsche Einbildung geraubt und es ihm deutlich zum Bewußtsein gebracht hatte, wie klein, wie vergänglich, wie tausendfältig abhängig er als Mensch, als irdisches, unvollkommenes Wesen wäre:
„Ach! die Erscheinung war so riesengroß,
Daß ich mich recht als Zwerg empfinden sollte.
Ich, Ebenbild der Gottheit, das sich schon
Ganz nah gedünkt dem Spiegel ew'ger Wahrheit,
Sein selbst genoß in Himmelsglanz und Klarheit,
Und abgestreift den Erdensohn;
Ich, mehr als Cherub, dessen freie Kraft
Schon durch die Adern der Natur zu fließen
Und, schaffend, Götterleben zu genießen
Sich ahnungsvoll vermaß, wie muß ich's büßen!
Ein Donnerwort hat mich hinweggerafft."
Nämlich das Donnerwort des Erdgeistes zu Faust, das wir schon früher betrachtet haben: ,,Du
gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir." Gleicht er aber nicht dem mit göttlicher Voraussicht und Kraft wirkenden Erdgeist, so kann Faust auch nicht sein eigenes Schicksal und das der anderen Menschen nach festem Plane lenken, sondern er unterliegt selber dem ungewissen Menschenlos und weiß nicht, wohin seine Taten ebenso wie seine Leiden ihn führen. Ob er tätig eingreift ins Leben oder sich leidend verhält, immer sind Kräfte und Mächte im! Spiel, die er nicht zu überschauen, nicht zu beherrschen vermag und die ihn jeden Augenblick von seinem Lebenswege abzudrängen imstande sind. So groß er sich daher auch fühlte in der Anschauung einer nach gewissem, sicherem, festem Plane wirkenden göttlichen Kraft, so klein kommt er sich doch vor, wenn er die eigene Eingeschränktheit und die Ungewißheit seines Menschenschicksals in Betracht zieht:
„Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen:
Hab' ich die Kraft dich anzuziehn besessen,
So hatt' ich dich zu halten keine Kraft.
In jenem sei'gen Augenblicke
Ich fühlte mich so klein, so groß;
Du stießest grausam mich zurücke
Ins ungewisse Menschenlos.
Wer lehret mich? was soll ich meiden?
Soll ich gehorchen jenem Drang?
Ach! unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden,
Sie hemmen unsres Lebens Gang."
Bei dieser Unsicherheit und Ungewißheit seines Schicksals greift der Mensch in seiner Unklarheit und Verworrenheit nach vielem, was mit seiner tieferen, göttlichen Natur nicht übereinstimmt und was seinem besseren Wesen fremd ist. In dem Bestreben, sich dessen zu bemächtigen, was er für ein wertvolles Gut in dieser Welt ansieht, wird seine Seele so sehr von dem Hasten und Jagen nach dem irdischen Glück in Anspruch genommen, daß er den Sinn für das, was höher steht als alle Güter dieser Welt, den Sinn für das ewige und höchste Gut, verliert, so daß er sogar dahin gelangt, dieses ewige und höchste Gut zu verleugnen und es für Trug und Wahn zu erklären. So erstarrt im Wirrwarr des Lebens das, was dem Menschen erst ein höheres, wahres Leben verleiht. Man denke an Herders „Gespräche über Gott" und an die darin enthaltene Übersetzung der Schrift Spinozas von der „Besserung des Verstandes", in der Spinoza ausführt, wie er selber mehrfach vergebens versucht habe, während er nach den Glücksgütern dieses Lebens trachtete, zugleich den inneren Zusammenhang mit dem ewigen, höchsten Gut sich zu erwerben: „Ich überlegte bei mir selbst, ob es nicht möglich sei, zu meinem neuen Zweck," nämlich zu dem innern Zusammenhang mit dem höchsten Gut, ,,zu kommen, wenn ich auch meine gewöhnliche Lebensweise nicht veränderte, welches ich aber oft vergebens versucht habe." So wird man die Worte Fausts verstehen:
„Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen.
Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an;
Wenn wir zum Guten dieser Welt gelangen.
Dann heißt das Bessre Trug und Wahn.
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle,
Erstarren in dem irdischen Gewühle."
Erstarrt aber das Herz des Menschen und fühlt nicht mehr den lebendigen inneren Zusammenhang mit dem Ewigen, mit Gott oder der Allnatur, so bemächtigt sich die Selbstsucht des Menschen. Nicht mehr selbstlos in dem All der Natur lebend, will er sich einen abgesonderten Besitz in diesem All erobern, und je härter ihm das Schicksal mitgespielt, um so zäher und leidenschaftlicher hängt er sich an das, was ihm in dem kleinen ihm zugemessenen Räume seiner Existenz noch zu Gebote steht. Und da auch dies Letzte vor dem Schicksal nicht sicher ist, so wird auch die Seele des Menschen in der Sorge um dies Letzte unsicher und unruhig gemacht, daß sie bald vor Furcht vergeht, wenn das Schicksal ihr das Letzte zu rauben droht, bald wieder von einem günstig lächelnden Geschick mit der Hoffnung umschmeichelt wird, sich in dem ruhigen Besitz von Haus und Hof, Weib und Kind eines beharrenden Glückes erfreuen zu können. So trägt die Sorge um die endlichen Dinge dieser Welt ein doppeltes Antlitz: bald ein schmeichelndes, indem sie uns mit der Hoffnung, in Haus und Hof, in Weib und Kind ein bleibendes Glück zu finden, täuscht, bald ein schreckendes Antlitz, indem sie uns mit der Furcht vor vernichtenden Gewalten, vor Feuer, Wasser, Dolch und Gift erfüllt, wo vielleicht nur unsere Einbildung uns die Schreckgespenster vormalt. So trübt die Sorge, mit der trügerischen Hoffnung sowohl wie mit der unnützen Furcht, den Blick des Menschen und macht ihn blind, so daß er das wahre, ewige Gut, das man ohne Sorge, ohne Furcht und Hoffnung zu besitzen und zu genießen vermag, nicht mehr gewahr wird:
„Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug
und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert.
So ist ein kleiner Raum ihr nun genug,
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.
Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,
Dort wirket sie geheime Schmerzen,
Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh;
Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,
Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;
Du bebst vor allem, was nicht trifft,
Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.
Den Göttern gleich ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich' ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt.
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt."
„Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug
und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert.
So ist ein kleiner Raum ihr nun genug,
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.
Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,
Dort wirket sie geheime Schmerzen,
Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh;
Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,
Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;
Du bebst vor allem, was nicht trifft,
Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.
Den Göttern gleich ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich' ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt.
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt."
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