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2019-10-25

Hermann Türck: Goethe und sein Faust - 12. Kapitel Seite 1





12. Goethes letzte Lebenszeit. ,,Dichtung und Wahrheit**. Die Vollendung des Hauptwerkes. Der sterbende Faust und seine Rückkehr zu den ewigen Gründen.

Goethes letzte Lebenszeit war ausgefüllt von dem rastlosen Streben, das ihn sein ganzes Leben hindurch bewegt hatte. Kunst und Natur waren die Pole, die ihn abwechselnd anzogen so beschäftigte ihn einerseits eine französische Übersetzung seiner „Metamorphose der Pflanzen", zu der er verschiedene Zusätze machte, andererseits die Vollendung des vierten Teiles von „Dichtung imd Wahrheit" und des zweiten Teils von ,,Faust". In diesem vierten Teil von ,,Dichtung und Wahrheit" kommt er im 16. Buch noch einmal ausführlich auf Spinoza zu sprechen und zeigt, welch tiefen Eindruck dessen Lehre auf ihn gemacht habe, indem er zugleich ihren Kern zu enthüllen sucht: ,,Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis, alles ruft uns zu, daß wir entsagen sollen." So klagt auch Faust:

,,Was kann die Welt mir wohl gewähren?
Entbehren sollst du! sollst entbehren 
Das ist der ewige Gesang,
Der jedem an die Ohren klingt,
Den, unser ganzes Leben lang, 
Uns heiser jede Stunde singt."

Goethe fährt fort: ,,So manches, was uns innerlich eigenst angehört, sollen wir nicht nach außen hervorbilden; was wir von außen zur Ergänzung unseres Wesens bedürfen, wird uns entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen, das uns so fremd als lästig ist. Man beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten, und ehe wir hierüber recht ins klare sind, finden wir uns genötigt, unsere Persönlichkeit erst stückweise und dann völlig aufzugeben. Dabei ist es aber hergebracht, daß man denjenigen nicht achtet, der sich deshalb ungebärdig stellt; vielmehr soll man, je bitterer der Kelch ist, eine desto süßere Miene machen, damit ja der gelassene Zuschauer nicht durch irgend eine Grimasse beleidigt werde. Diese schwere Aufgabe jedoch zu lösen, hat die Natur den Menschen mit reichlicher Kraft, Tätigkeit und Zähigkeit ausgestattet. Besonders aber kommt ihm der Leichtsinn zu Hilfe, der ihm unzerstörlich verliehen ist. Hierdurch wird er fähig, dem Einzelnen in jedem Augenblick zu entsagen, wenn er nur im nächsten Moment nach etwas Neuem greifen darf; und so stellen wir uns unbewußt unser ganzes Leben immer wieder her. Wir setzen eine Leidenschaft an die Stelle der anderen, Beschäftigungen, Neigungen, Liebhabereien, Steckenpferde, alles probieren wir durch, tun zuletzt auszurufen, daß alles eitel sei. Niemand entsetzt sich vor diesem falschen, ja gotteslästerlichen Spruch, ja man glaubt etwas Weises und Unwiderlegliches gesagt zu haben. Nur wenige Menschen gibt es, die (wie Spinoza) solche unerträgliche Empfindung vorausahnen und, um allen teilweisen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen resignieren. Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas Übermenschliches liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für gott- und weltlose, ja, man weiß nicht, was man ihnen alles für Hörner und Klauen andichten soll," wie man es ja bei Spinoza gründlichst getan hat. 

Den Spruch, daß alles eitel sei, nennt Goethe darum falsch, ja gotteslästerlich, weil dabei übersehen wird, daß Gott selbst, das höchste Gut, nicht eitel ist, sondern die höchste vollkommenste Wirklichkeit, das höchste Dasein in sich enthält. So schreibt Goethe an Jacobi: „Spinoza beweist nicht das Dasein Gottes, das Dasein ist Gott.'* Das Dasein, die Allnatur aber ist nicht eitel, sondern das wahrhaft Bestehende, Ewige und Vollkommene. Eitel ist nur das Flüchtige, Nichtige, das ein Dasein vorspiegelt, ohne es zu besitzen. Die Menschen im allgemeinen aber hängen sich eben an das Flüchtige, Nichtige, jagen vergänglichen Gütern nach in der Meinung, in ihnen wahres Glück, wahre Befriedigung, wahre Ruhe des Gemütes zu finden, und wenn sich dann die Scheingüter dieser Welt eben als Scheingüter erweisen, als flüchtig, nichtig und vergänglich, dann klagen die Menschen darüber und sagen, alles sei eitel, während sie sich selber anklagen sollten, daß sie das ewige Gut in Dingen suchten, in denen es nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann, weil das ewige höchste Gut die Allnatur in ihrer Gesamtheit, der ganze ewige vollkommene Gott ist, nicht einzelne aus dem großen ewigen Zusammenhang herausgerissene Erscheinungen, die, weil sie eben nur einzelne Erscheinungen der Allnatur oder Gottes sind, nicht den ewigen, vollkommenen Inhalt besitzen können, der nur der Allnatur in ihrer Gesamtheit, nur dem ganzen, ewigen und vollkommenen Gotte zukommt. „Alles Vergängliche ist" eben „nur ein Gleichnis" des Unvergänglichen, ein flüchtiger, vergänglicher Abschein. Wer diesen flüchtigen, vergänglichen Abschein des höchsten Gutes für das höchste Gut selbst nimmt, wer das, was nur ein Gleichnis, ein Hinweis auf das Unvergängliche ist, für das Urwesen selbst ansieht, der muß sich betrogen sehen. Statt Gott betet er einen Götzen an, indem er das als Gott anbetet, was nur ein flüchtiger Schein von Gott ist, wie einer, der den niedersten Diener des Hofstaates für den Kaiser hält und ihm seine Verehrung zollt, während er den höchsten Herrscher selbst nicht erkennt und mißachtet. Eben weil die aus dem großen Zusammenhang der Allnatur einzeln herausgenommenen irdischen Güter für sich allein nichts bedeuten, darum haben sie keinen Bestand und keinen wahrhaft vollkommenen Inhalt, sondern gehen rasch vorüber und sind unvollkommen und unbeständig. Wer sie aber als das nimmt, was sie sind, als einzelne Erscheinungen der Allnatur, wer sie also im Zusammenhang mit der Allnatur, mit dem Wesen Gottes betrachtet, sub specie aeterni, unter dem Bilde der Ewigkeit, der erkennt das ewig Gesetzmäßige, Wiederkehrende, Notwendige auch der flüchtigsten, vergänglichsten Erscheinungen: „Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt!" Für den ist nichts eitel, sondern alles bestätigt ihm den großen Zusammenhang, die notwendige, gesetzmäßige Einheit des Ganzen, und so wird er durch die liebevollste Betrachtung auch der flüchtigsten, vergänglichsten Einzelheiten immer wieder zur Allnatur, zu Gott geführt. „Solche Menschen", sagt Goethe „überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzmäßigen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden." Soche Menschen werden nicht erst durch das Schicksal gezwungen, auf das Festhalten flüchtiger, vergänglicher Güter Verzicht zu leisten, und sie versuchen dann nicht immer von neuem dasselbe törichte Spiel, etwas Unvergängliches im Vergänglichen zu erhaschen, sondern sie stellen jedes an seinen Ort, suchen ein wahres, vollkommenes Dasein, ein ewiges Gut nur in der Allnatur oder Gott und sehen in den einzelnen irdischen Gütern nur flüchtige Erscheinungen, die, ewigen Gesetzen folgend, jeden Augenblick wieder aus der Welt der Erscheinungen verschwinden können, um in das Reich der Mütter, der ewigen Ideen Gottes zu tauchen. Aber nur wenige Menschen gibt es, sagt Goethe, die das zu tun imstande sind. Statt immer wieder vom Schicksal gezwungen zu werden, Verzicht zu leisten, verzichten sie freiwillig ein für allemal darauf, hier auf Erden jemals in einem einzelnen Gut, sei es noch so köstlich und verführerisch, die höchste Befriedigung zu finden und sich dabei als einem letzten Schlüsse der Weisheit zu beruhigen.

„Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, 
So sei es gleich um mich getan . . . 
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön! 
Dann magst du mich in Fesseln schlagen, 
Dann will ich gern zugrunde gehn."

So wettet Faust mit dem Teufel, und man erkennt daran den innigen Zusammenhang der Grundidee des Faustgedichtes mit der Philosophie Spinozas. Wohl erlebt Faust viele köstlich schöne Augenblicke, so in dem Liebesverkehr mit Gretchen, so im Genuß der höchsten Schönheit in der symbolischen Vermählung mit Helena; aber immer bleibt er sich dessen bewußt, daß es eben nur flüchtige Augenblicke sind, die nicht für die Dauer festgehalten werden können, die man nicht verweilen heißen kann, und darum kann der Teufel ihn auch nicht dazu bringen, aus diesen Köstlichkeiten Götzen zu machen und so Gott selbst zu verleugnen. Für Faust bedarf es aber noch einer letzten Probe auf der vierten Station der Lebensreise. Was von den Menschen neben dem Vergnügen am einfachsten Lebensgenuß in gutem Essen und Trinken in fröhlicher Gesellschaft, neben dem Genuß im Besitz eines geliebten Weibes und neben dem Genuß des Natur- und Kunstschönen am meisten geschätzt wird, ist der Genuß, der im Machtbesitz, im Reichtum, in der
Herrschaft liegt, in der Möglichkeit zu befehlen, über das Schicksal anderer zu bestimmen. Auch dies hohe irdische Gut soll Faust auskosten und sich alsdann wiederum für unbefriedigt
erklären oder wirklich das höchste Ziel, ,,der Weisheit letzten Schluß" darin finden, bei dem es sich verlohnt, zu bleiben und den Augenblick verweilen zu heißen. 

Um dem Faust dieses Besitztum zu verschaffen, muß ihm Mephistopheles im vierten Akt eine Schlacht für den bedrängten Kaiser gewinnen helfen, der zum Dank dafür dem Faust den weiten Seestrand überläßt, wo sich dieser durch Zurückdrängung des Meeres vermittels gewaltiger Dammbauten ein eigenes reichbevölkertes Besitztum schafft, während seine Schiffe die Meere beherrschen und teils durch friedlichen Handel, teils durch kriegerische Unternehmungen und Piraterie ungezählte Reichtümer für ihn zusammenschleppen. Sein Volk aber gedeiht auf dem dem Meere abgerungenen Boden und vermehrt sich, wenn es auch täglich von der Gefahr bedroht ist, von den die Dämme durchbrechenden Wasserfluten ertränkt zu werden. Lange hat es gedauert, bis dieses Riesenwerk vollendet worden war, und Faust ist darüber sehr alt geworden; Goethe denkt ihn sich beim Beginn des letzten Aktes, wie er zu Eckermann sich äußert, als hundertjährig., Daß Faust sich aber, nachdem er so Großes erreicht und so Gewaltiges geleistet, dabei beruhigt hätte und mit sich selber und seinem Besitz zufrieden gewesen wäre, davon ist wiederum keine Rede. Vielmehr genügt eine ganz geringe Unvollkommenheit an seinem gewaltigen Besitztum, eine kleine unbedeutende Störung in seiner nächsten Nachbarschaft, um ihn das ganze große Werk verfluchen zu lassen. In der Nähe seines Palastes befindet sich nämlich noch ein kleines, einem steinalten Paar, dem Philemon und der Baucis, gehöriges Gütchen, eine Hütte, eine Kapelle und einige alte Lindenbäume umfassend. So harmlos diese beiden alten Leutchen sind und so unbedeutend ihr kleines Besitztum ist, so fühlt sich doch Faust durch diese Nachbarschaft gestört und beschränkt. Als fromme Leute beten sie oft in ihrer kleinen Kapelle, läuten dann die Glocke und bringen so dem nahe benachbarten Schloßherrn ihre Gegenwart in unliebsame Erinnerung. In dem Gezweig der alten hohen Linden aber hätte sich Faust gar zu gern ein Gerüst bauen lassen, um von dort das neu geschaffene Land weit überschauen zu können. Vergebens hat er dem alten Paar mehrfach einen Tausch angeboten; für das kleine Gütchen wollte er ihnen unten im flachen Lande, auf dem dem Meere abgerungenen Boden, ein schönes neues Gut übergeben, und der Mann, Philemon, wäre nicht abgeneigt gewesen, auf den vorteilhaften Tausch einzugehen; aber die Frau, als der konservativere Teil zäher an dem Hergebrachten, Alten festhaltend, will nichts davon wissen. Ganz erbost erzählt sie dem Wanderer, der bei ihnen eingekehrt ist, von Faust:

,,Gottlos ist er, ihn gelüstet
Unsre Hütte, unser Hain;
wie er sich als Nachbar brüstet, 
Soll man untertänig sein."

Philemon wagt einzuwerfen:

„Hat er uns doch angeboten 
Schönes Gut im neuen Land!"

Bauds antwortet:

„Traue nicht dem Wasserboden, 
Halt auf deiner Höhe Stand "

Philemon bricht das Gespräch ab, indem er zum Abendgebet auffordert:

„Laßt uns zur Kapelle treten.
Letzten Sonnenblick zu schaun!
Laßt uns läuten, knieen, beten, 
Und dem alten Gott vertraun!"

Faust, der gleich darauf das Läuten hört, wird wieder einmal daran erinnert, daß sich in seinem schönen Besitztum dieser unangenehme Flecken bemerkbar macht, und diese geringe Unvollkommenheit läßt ihn fühlen, daß sein gewaltiges, selbst errungenes und selbst geschaffenes Reich auch nur irdischer Tand und kein höchstes vollkommenes Gut ist, bei dem man sich beruhigen, in dessen Besitz man eine endgültige Befriedigung empfinden könnte. Auffahrend ruft Faust voll Ingrimm aus:

„Verdammtes Läuten! Allzuschändlich
Verwundet's, wie ein tückischer Schuß;
Vor Augen ist mein Reich unendlich, 
Im Rücken neckt mich der Verdruß,
Erinnert mich durch neidische Laute:
Mein Hochbesitz, er ist nicht rein.
Der Lindenraum, die bravme Baute, 
Das morsche Kirchlein ist nicht mein, 
Und wünscht' ich dort mich zu erholen,
Vor fremden Schatten schaudert mir, 
Ist Dorn den Augen, Dorn den Sohlen;
O! war' ich weit hinweg von hier!"

Mephistopheles, als Schiffshauptmann, bringt ihm neue Schätze in den Palast geschleppt und fordert ihn auf, anzuerkennen, wie Großes Faust erreicht habe, damit er sich nun für wahrhaft befriedigt erklären und den Augenblick verweilen heißen könne:

„So sprich, daß hier, hier vom Palast
Dein Arm die ganze Welt umfaßt. 
Von dieser Stelle ging es aus,
Hier stand das erste Bretterhaus;
Ein Gräbchen ward hinabgeritzt. 
Wo jetzt das Ruder emsig spritzt. 
Dein hoher Sinn, der Deinen Fleiß
Erwarb des Meers, der Erde Preis. 
Von hier aus —"

Doch weiter läßt ihn Faust nicht kommen. Das Wort „hier" erinnert ihn an das Beschränktsein durch das Hier, durch den Raum, erinnert ihn daran, daß hier dicht bei ihm ein Hindernis ihm trotzt, das er nicht zu bewältigen vermag, und daß daher das ganze schöne Besitztum einen Flecken behält und sein Werk nicht vollkommen genannt werden kann.

„Das verfluchte Hier!
Das eben, leidig lastet's mir. 
Dir Vielgewandten muß ich's sagen, 
Mir gibt's im Herzen Stich um Stich,
Mir ist's unmöglich zu ertragen 
Und wie ich's sage, schäm' ich mich.
Die Alten droben sollten weichen; 
Die Linden wünscht' ich mir zum Sitz,
Die wenig Bäume, nicht mein eigen,
Verderben mir den Weltbesitz. 
Dort wollt' ich, weit umher zu schauen, 
Von Ast zu Ast Gerüste bauen. 
Dem Blick eröffnen weite Bahn, 
Zu sehn, was alles ich getan,
Zu überschaun mit einem Blick
Des Menschengeistes Meisterstück,
Betätigend mit klugem Sinn
Der Völker breiten Wohngewinn. —

So sind am härtsten wir gequält, 
Im Reichtum fühlend, was uns fehlt.
Des Glöckchens Klang, der Linden Duft
Umfängt mich wie in Kirch' und Gruft. 
Des allgewaltigen Willens Kür
Bricht sich an diesem Sande hier. 
Wie schaff ich mir es vom Gemüte! 
Das Glöcklein läutet, und ich wüte."

So sehen wir, wie der schaffende Mensch selbst in seinem gewaltigsten Wirken auf Widerstände stößt, die ihm seine Eingeschränktheit zum schmerzlichsten Bewußtsein bringen; darum ruft Faust aus: 

„Das Widerstehn, der Eigensinn 
Verkümmern herrlichsten Gewinn, 
Daß man, zu tiefer, grimmiger Pein, 
Ermüden muß, gerecht zu sein."

Also auch in diesem vierten und letzten Abschnitt der Lebensreise ist von einer dauernden Befriedigung Fausts keine Rede. Ungeduldig möchte er das Ganze hinwerfen, weil eine kleine Unvollkommenheit an seinem großen Werk ihn ärgert: ,,O wär ich weit hinweg von hier!" Mephistopheles ist schnell mit seinem Rat zur Hand und will die Leutchen einfach nehmen und forttragen; Faust macht ihn noch einmal darauf aufmerksam : 

„Das schöne Gütchen kennst du ja. 
Das ich den Alten ausersah."

Es ist ja nicht die Habsucht, die unsern Helden bewegt, sondern der Vollkommenheitstrieb; er will sein Besitztum vollkommen, rein haben, darum sollen die alten Leutchen nicht 

etwa ihres Besitztums einfach beraubt, sondern nur genötigt werden, für ihr altes Besitztum ein neues, schöneres einzutauschen; aber der Teufel mit seinen drei gewaltigen Gesellen führt den Auftrag anders aus, als es Faust gemeint hatte: die alten Leutchen kommen dabei um und das Hüttchen, die Linden gehen in Flammen auf. Faust flucht dem wilden Tun:

„Wart ihr für meine Worte taub!
Tausch wollt ich, wollte keinen Raub. 
Dem unbesonnenen wilden Streich, 
Ihm fluch' ich; teilt es unter euch!'

Aus dem zusammenbrechenden Hüttchen aber treibt ein Schauerwind Rauch und Dunst zu Faust, der von seinem Balkon aus hinunterschaut, herüber, und mit dem Rauch und Dunst schweben schattenhaft vier graue Weiber auf den Palast zu. Fausts Ende naht, sein Schicksal erfüllt sich, und die Schwestern des Todes, der Mangel, die Schuld, die Sorge und die Not, nahen sich dem hundertjährigen Faust als Verkünder des Endes:

„Es ziehen die Wolken, es schwinden die Sterne!
Dahinten, dahinten! von ferne, von ferne. 
Da kommt er, der Bruder, da kommt er, der Tod."

Wohl können Mangel, Schuld und Not nicht in den Palast des Reichen gelangen, keiner aber ist so reich und mächtig, daß er nicht der Sorge erliegt, wenn ihr nicht die ,,magische Gabe des Genies" die Spitze bietet: ,,Die Sorge, sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein." Ein Zeichen des nahenden Todes ist es aber, daß die „magische Gabe des Genies" von Faust abfällt. Wie der Körper schließlich eine Beute der Vernichtung wird, so auch der Geist, der oft im Alter sich verdüstert. Goethe führt mit Eckermann ein langes Gespräch darüber am 11. März 1828, auf das ich in meinem Buche ,,Faust, Hamlet, Christus" ausführlich eingegangen bin. Ein Zeichen der beginnenden Verfinsterung seines Geistes ist es, daß Faust nur noch undeutlich aufzufassen vermag, was die gespenstischen grauen Weiber miteinander reden:

„Den Sinn der Rede könnt' ich nicht verstehn. 
Es klang so nach, als hieß' es — Not, 
Ein düstres Reimwort folgte — Tod."

Sein magisches Schauen, das ihm bis dahin die gespenstischen Mächte, die das Leben beherrschen, deutlich gezeigt hatte, beginnt ihn zu verlassen. Die Sorge ist für ihn unsichtbar geworden, sie wird den Wehrlosen überfallen und sich seiner bemächtigen: „Vier sah ich kommen, drei nur gehn." Den schlimmsten Feind, die Sorge, die zu ihm hinstrebt, wird er nicht mehr gewahr. Und entsprechend dieser Verdüsterung des Geistes des sterbenden Helden vollzieht sich eine Umwandlung seines Urteils über das, was ihn bis dahin zum Übermenschen gemacht und ihm die Welt und sein eigenes Inneres erleuchtet hatte, eine Umwandlung seines Urteils über die „magische Gabe des Genies". Von der Höhe seines Übermenschentums herabsinkend und sich dem Philisterwesen nähernd, beginnt er über die ,,magische Gabe des Genies" auch wie ein Philister zu denken, der sie nur für Zauberspuk und Blendwerk, für nichtig und unheilvoll hält. Zu der Zeit, da bei den alchimistischen Naturphilosophen der Begriff der göttlichen Magie entstand, da gab es auch viele philisterhafte Gelehrte, die diesen hohen Begriff der Magie, in imserm heutigen Sinne Genie, nicht anerkannten, sondern alles das für gemeinen Zauber und Teufelsspuk erklärten, was über das Alltägliche und Alt hergebrachte hinausging. So verwechselt jetzt auch der sinkende Faust die hohe edle , »Magie der Weisen" mit gemeinen , .Zaubersprüchen" und glaubt sich von diesem Spuk befreien zu müssen, um als einfacher Mensch ohne jede magische Geisterhilfe die Natur bewältigen zu können. Während der geniale Mensch, der Übermensch, sich immer dessen deutlich bewußt bleibt, daß er in seiner Eingeschränktheit und Abhängigkeit nicht als ein Einzelner und von dem großen Zusammenhang der Natur Abgesonderter dasteht, „ein Mann allein" der Natur gegenüber, sondern daß er stets nur in dem Naturzusammenhang und mit Hilfe der Natur zu existieren und zu wirken vermag, bildet sich der philisterhafte Mensch allerdings ein, daß die Natur als ein Fremdes ihm gegenüberstehe und von ihm nach Willkür beherrscht werden könne. 

,,Es tönte hohl, gespensterhaft gedämpft. 
Noch hab' ich mich ins Freie nicht gekämpft. 
Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen. 
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen. 
Stund' ich, Natur, vor dir ein Mann allein. 
Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.

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