> Gedichte und Zitate für alle: Hermann Türck: Goethe und sein Faust - 12. Kapitel Seite 2

2019-10-25

Hermann Türck: Goethe und sein Faust - 12. Kapitel Seite 2

Goethe und sein Faust




Solch ein Mensch glaubt er früher gewesen zu sein, bevor er sich der Magie ergeben, die er nun als etwas Düsteres betrachtet, während sie ihm gerade erst sein Ich und die Welt erleuchtet hatte. Und daß er über sich und die Welt hinausgeschritten war, wie es die göttliche Magie und der fromme Sinn der Mystik lehrt, daß er sich und die Welt verflucht hatte, weil er kein Wohlgefallen an sich selber und keine endgültige Befriedigung in dieser Welt finden konnte, das nennt er jetzt bei seinem veränderten Standpunkt frevelhaft. Er preist den gewöhnlichen Menschen:

„Das war ich sonst, eh' ich's im Düstern suchte.
Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte."

Die magische Gabe des Genies verwandelt sich ihm nun in gemeinen Aberglauben:

„Nun ist die Luft von selchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
Wenn auch ein Tag uns klar vernünftig lacht.
In Traumgespinst verwickelt uns die Nacht;
Wir kehren froh von junger Flur zurück.
Ein Vogel krächzt; was krächzt er? Mißgeschick.
Von Aberglauben früh und spat umgarnt:
Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt.

Indem die Sorge sich ihm nähert, packt ihn zugleich die Furcht; denn die Sorge hat ja, wie wir aus dem ersten Teil wissen, ein doppeltes Antlitz, ein schreckendes und ein lockendes in Furcht und Hoffnung. Wenn wir uns um die Dinge dieser Welt ernstlich Sorge machen, so geraten wir bald in Furcht, wenn das Geschick uns das Liebste zu entreißen droht, bald werden wir von der Hoffnung umschmeichelt, in dem sichern Besitz unseres irdischen Gutes ein fest gegründetes Glück genießen zu können. Als Übermensch, vermittelst der „magischen Gabe des Genies", riß sich Faust von aller Sorge und damit von aller Furcht und Hoffnung los. Gleich im Beginn des ersten Teiles sagt Faust:  „Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel." Und als Mephistopheles ihn mit der Hoffnung auf den ruhigen Genuß irdischer Güter zu fangen sucht, da wettet Faust mit ihm, wenn es je gelingen sollte, ihn mit den Genüssen dieser Welt zu betrügen, ihn mit der trügerischen Hoffnung auf endgültige Befriedigung in den Gütern dieser Welt zu erfüllen, daß er dann von seinem jetzigen Standpunkt als Übermensch aus sich selbst verachten und zum Teufel gehen will. Hier am Schluß sehen wir nun, daß mit dem Verlust des Übermenschentums, mit dem Abfallen der „magischen Gabe des Genies", sogleich die gemeine menschliche Sorge sich naht, und daß in ihrem Gefolge zunächst die Furcht und dann später die Hoffnung sich des seelisch taub und blind werdenden Faust bemächtigen. Mit der Furcht aber ist nach Spinozas Ausführungen der Aberglaube verbunden, wie es im Beginn des ,,Theologisch-politischen Traktates" heißt: ,,Wir finden, daß vorzugsweise solche Menschen, welche nach unsicheren Glücksgütern recht heftiges Verlangen tragen" (und damit der Macht der Sorge unterworfen sind), ,,jeder Art von Aberglauben zugetan sind . . . Die Vernunft nennen sie blind, die Ausgeburten ihrer Einbildungskraft dagegen, Träume und kindische Albernheiten, halten sie für göttliche Orakel und meinen sogar, Gott sei den Weisen abhold und habe seine Beschlüsse nicht in den Geist des Menschen, sondern in die Eingeweide der Tiere geschrieben, und Narren, Irrsinnige, sogar Vögel verkündeten die Beschlüsse Gottes zufolge göttlicher Eingebung. So närrisch macht die Menschen die Furcht; sie ist es, die den Aberglauben erzeugt, nährt und begünstigt." Auf Träume also legt der Aberglaube Gewicht, darum sagt der abergläubisch gewordene greise Faust: „Wenn auch ein Tag uns klar vernünftig lacht, in Traumgespinst verwickelt uns die Nacht." Und Vögel sollen, wie der Aberglaube meint, die Zukunft verkünden können; darum Faust: „Ein Vogel krächzt, was krächzt er? Mißgeschick", das der Vogel verkündet. Und wie Furcht und Aberglaube zusammenhängen, zeigen gleich die nächsten Worte Fausts: „Von Aberglauben früh und spat umgarnt: es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt, und so verschüchtert stehen wir allein. Die Pforte knarrt, und niemand kommt herein." Erschüttert, von Furcht gepackt setzt er hinzu: „Ist jemand hier?" Er ist ja blind geworden für die Sorge, er konnte es nicht mehr sehen, wie sie sich von den anderen grauen Weibern trennte und ins Haus durchs Schlüsselloch hineinschlüpfte. Er sieht sie daher auch nicht, wie sie die Türe zu seinem Gemach öffnet und auf ihn zuschreitet, um ihn in ihren Bann zu ziehen und zum gemeinen Sterblichen zu machen in demselben Maße, in dem die „magische Gabe des Genies" ihn verläßt. Die Furcht ist die eine Hand, mit der die Sorge ihn zuerst anpackt. Noch sträubt er sich gegen ihre Macht und will sie nicht anerkennen, und auf ihre Frage: „Hast du die Sorge nie gekannt?" flammt sein geniales Bewußtsein zum letzten Male vor dem Erlöschen empor, indem er antwortet:

„Ich bin nur durch die Welt gerannt,"

er ist nirgends stehen, nirgends haften geblieben.

„Ein jed Gelüst ergriff ich bei den Haaren,"

das feste Zupacken des genialen Menschen.

„Was nicht genügte, ließ ich fahren.

„Was mir entwischte, ließ ich ziehn", er wußte Verzicht zu leisten, zu resignieren.

„Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!"

Aber dieses letzte Aufflackern des göttlichen Feuers in seiner Brust darf nicht hinwegtäuschen über das nahende Ende. Deutlich gibt die Sorge in einer langen Litanei ihr Wesen kund, und als Faust sich doch dagegen wehren zu können und sich auch ohne die „magische Gabe des Genies", die er jetzt nur für zu vermeidende, der Finsternis der Hölle entstammende Zaubersprüche ansieht, der Macht der Sorge entziehen zu können meint, da antwortet sie ihm:

„Erfahre sie' (meine Macht als Sorge), „wie ich geschwind 
Mich mit Verwünschung von dir wende! 
Die Menschen sind im ganzen Leben blind, 
Nun, Fauste, werde du's am Ende!"

Sie haucht ihn an, und er erblindet, wobei die äußere Blindheit nur ein Symbol der inneren, seelischen Blindheit ist. Die Sorge wendet sich von ihm ab und verschwindet, sie hat ihr Werk getan, denn ihr Hauch bleibt bei ihm haften, ihr Wesen ist auf ihn übergegangen und beherrscht ihn jetzt völlig. Die Sorge als Gespenst aber existiert nicht mehr für ihn. Seine magische Macht, die Gespenster, die das menschliche Leben beherrschen, deutlich zu erkennen und sich daher auch ihrer zu erwehren, ist vergangen. Als Philister, als Alltagsmensch ist er blind und taub für das Heer der Gespenster und unterliegt daher wehrlos ihrer Herrschaft. Mit ihrem Anhauch erfaßte die Sorge ihn ganz, auch mit ihrer andern Hand, der trügerischen Hoffnung, und diese spiegelt ihm vor, er sei imstande, ohne dazwischentretende Hindernisse, ohne Widerstand, ohne Anwendung des Lichtes der Erfahrung, des Lichtes der Natur, vielmehr mit seinem inneren Licht allein, aus seiner Phantasie, aus seiner Einbildung heraus, alles beherrschen und zum glücklichen Ende führen zu können. Die Hoffnung, rasch sein Werk zu vollenden, läßt ihn mitten in der Nacht die Knechte zur Arbeit aufrufen. Doch niemand gehorcht ihm mehr, seine Macht ist mit der „magischen Gabe des Genies" zugleich dahingeschwunden. Je tiefer die Nacht der Blindheit ist, die ihn umfängt, um so heller leuchtet sein vermeintliches inneres Licht, seine eitle Einbildung, die trügerische Hoffnung, mit seinem Geist allein alles bewältigen zu können und das, was eben erst abgesteckt ist, sogleich vollkommen geraten zu lassen:

„Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, 
Allein im Innern leuchtet helles Licht; 
Was ich gedacht, ich eil' es zu vollbringen; 
Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht. 
Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann! 
Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann. 
Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!
Das Abgesteckte muß sogleich geraten. 
Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß
Erfolgt der allerschönste Preis; 
Daß sich das größte Werk vollende.
Genügt ein Geist für tausend Hände."


Mit diesem Gepackt- und Beherrschtwerden durch die Sorge, die Schwester des Todes, die den von ihr erfaßten Menschen „zur Hölle bereitet", ist die Wette für Faust verloren. Er hatte früher ausgerufen: „Verflucht voraus die hohe Meinung, womit der Geist sich selbst umfängt," und mit dem Teufel gewettet: „Kannst du mich schmeichelnd je belügen, daß ich mir selbst gefallen mag," Hier ntm am Ende blind geworden wie ein gewöhnlicher Sterblicher, der seine eigene Eingeschränktheit und Begrenztheit nicht erkennt, gefällt er sich in der eitlen Einbildung, daß sein innerliches Licht auch ohne das Licht der Erfahrung, ohne das Licht der Natur, Bedeutung habe, daß sein, des Herrn Wort allein Gewicht gebe, und daß ein Geist für tausend Hände genüge, um das größte Werk zur Vollendung zu bringen. So heißt es auch in Goethes dramatisierter Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand von dem Kaiser, der ohne gediegene Bildung und Erfahrung seine Pläne schmiedet und überzeugt ist, weil sein Wille tausend Hände in Bewegung setzen kann, daß des Herrn Wort allein genüge, um alles herrlich geraten zu lassen. Götz sagt in erster Fassung: „Der Kaiser bessert gern und bessert gern; da kommt alle Tage ein neuer Pfannenflicker und meint so und so. Und weil der Herr geschwind was begreift und nur reden darf, um tausend Hände in Bewegung zu setzen, so meint er, es war auch alles so geschwind und leicht ausgeführt." So wird auch der blinde Faust von der Hoffnung genarrt, alles so geschwind und leicht ausführen zu können. 

Mit dem Wohlgefallen an der eigenen Person, mit der Täuschung über die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, geht Hand in Hand das Wohlgefallen an seinem Werk und die Täuschung über dessen Wert und Vollendung. Der geniale, sehende Faust, der an dem Bilde der ewigen Vollkommenheit in seiner Seele alles Irdische gemessen hatte, fand alles hier auf Erden unzulänglich und unvollkommen : „er, unbefriedigt jeden Augenblick", und darum wettete er mit dem Teufel: ,, Kannst du mich mit Genuß betrügen," daß ich in dem Genuß irdischer Güter aufgehe und etwas Vollkommenes, ein letztes, höchstes Gut darin zu finden glaube, dann mag mich der Teufel holen. Und noch dem hundertjährigen Greise war ein gewaltiges Werk, ein ungeheurer Besitz widerwärtig und ungenügend erschienen, weü ein kleiner Flecken, eine geringe Unvollkommenheit ihn daran erinnerte, daß es eben ein endliches und nicht das ewige Gut sei. Jetzt aber, blind geworden für das wirkliche ewige Gut, wie für die Unzulänglichkeit der irdischen Scheingüter, bleibt er in kleinmenschlicher Sorge, in Furcht und Hoffnung, an demselben irdischen Gute haften, an dem er bis dahin als ein freier, über seinem Werke stehender Mensch, wahrhaft Großes leistend, wirksam gewesen war. Wie alle von der Hoffnung genarrten Menschen glaubt auch er, daß es nur noch einer geringen Anstrengung bedürfe, um in seinem Werke die höchste Befriedigung erlangen zu können. Das große Meer hatte der sehende Faust in schwierigster Arbeit durch gewaltige Dämme vom Ufer zurückgedrängt und ihm ein großes, nunmehr mit einer zahlreichen Völkerschaft besiedeltes Land abgewonnen, ohne daß er damit zufrieden gemacht worden wäre; der blinde Faust dagegen glaubt, es sei nur noch nötig, einen Sumpf trocken zu legen, der sich am Gebirge hinzieht und daher leicht durch abwärts führende Kanäle entwässert werden kann, um sein Werk zu krönen und damit alles erreicht zu haben, wonach sein Herz begehrt:

„Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungene; 
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn.
Das letzte war' das Höchsterrungene.

Und in diesem Höchsterrungenen und in der Vorstellung einer kühn emsigen Völkerschaft, die, auf diesem neuen Lande angesiedelt, in Freiheit und Gefahr ihr Leben verbringt, läßt ihn die Hoffnung, daß sich alles glücklich vollenden werde, schon im Vorgefühl ein so hohes Glück genießen, daß er nichts Höheres mehr kennt und so dieses „vergängliche" Gut, das ,,nur ein Gleichnis" des unvergänglichen sein sollte, zu dem ewigen Gute selber und damit zu einem Götzen macht. Während er früher sich von dem elenden täglichen Kampf um die Existenz und der damit verbundenen beständig drückenden Sorge losriß, um seinem Genius freien Lauf zu lassen, sieht er umgekehrt jetzt in dem täglichen Kampf um die Existenz „der Weisheit letzten Schluß":

„Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, 
Das ist der Weisheit letzter Schluß: 
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, 
Der täglich sie erobern muß. 
Und so verbringt, umrungen von Gefahr» 
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. 
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn. 
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. 
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön! 
Es kann die Spur von meinen Erdentagen 
Nicht in Äonen untergehn. — 
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.'

Wie ich in ,,Faust, Hamlet, Christus" bereits ausgeführt habe, tritt hier nun auch Goethes Kritik des Saint-Simonismus zu Tage. Saint-Simon wollte hier auf Erden vollkommene Zustände, ein Paradies schaffen, er wollte das Absolute hier in der Endlichkeit verwirklichen, aus der Industrie und Wissenschaft eine Religion, ein Heiligtum machen. Saint-Simon verwirft die Mystik, die das Irdische seinem Wesen nach für unzulänglich hält. Goethe las in dem Aufsatz von Carove über die „Doctrine de Saint-Simon" in den ,, Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik", Dezember 1830, den Ausspruch St.-Simons, daß in Deutschland ,,die allgemeine Wissenschaft noch in ihrer Kindheit sei, weil sie sich noch auf mystische Prinzipien gründe". Der Mystiker in Goethe bäumte sich dagegen auf. Er las weiter: ,,Moses hat den Menschen die allgemeine Brüderschaft verheißen; Jesus hat sie vorbereitet; St.-Simon verwirklicht sie. Die allgemeine Kirche entsteht, das Reich des Cäsars hört auf; eine friedliche Gesellschaft ersetzt die kriegerische" usw. Man hört die Utopie des sterbenden Faust: ,,Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn." Und nichts hatte sich von diesen überstiegenen Hoffnungen St.-Simons verwirklicht; wie eine Seifenblase zerplatzt, so war auch diese Utopie in ihr Nichts zerronnen. Goethe aber las weiter: ,,Sehr bald nach Bekanntmachung dieser Lehre, — schon am 19. Mai 1825 — starb St.-Simon ; seine letzten Worte zu den wenigen ihn umgebenden Schülern waren: ,,La poire est mure; vous la cueillerez." So verblendet war also dieser Utopist in seinen leeren Hoffnungen gewesen, daß er mit der „Bekanntmachung dieser Lehre" bereits alles getan glaubte. „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück" genoß er im Sterben „den höchsten Augenblick": „Die Birne ist reif: ihr, meine Schüler, ihr werdet sie pflücken." So wird auch Goethes Faust im Sterben blind gemacht für das wahrhaft Vollkommene, daß er ,,das Licht der Natur" nicht mehr schaut, daß ,,der Brunnen der Wahrheit" nicht mehr für ihn fließt und er die Unzulänglichkeit der eigenen Person und aller irdischen Verhältnisse nicht mehr erkennt. Auch er wird zum Utopisten, zum Hoffer, der glaubt, ,,das Abgesteckte muß sogleich geraten", während der wirklich Schaffende weiß, welch ein weiter Abstand liegt zwischen dem „Abgesteckten", der Ausarbeitung eines Planes, und dem „Geraten", der Verwirklichung dieses Planes. Der Utopist meint „daß sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände", und vergißt dabei, daß zu den tausend Händen fünfhundert Köpfe gehören, die meist anders denken und planen, als es sein Kopf tut. Wie knirscht das Genie über den Widerstand der plumpen Menge, wie schwierig ist der Weg zum Erfolge; der Utopist aber, der stockblind ist für die Wirklichkeit mit ihren Widerständen, der von sich und der Welt eingenommen, sich und die Welt für absolut hält, bringt überhaupt nichts zustande: „Wer sein Leben sucht, der wird es verlieren." Wer aber mit der reinen Mystik die Wandelbarkeit und Unvollkommenheit des Ich und der Welt erkennt und sich über beide erhebt, angezogen von dem Unwandelbaren und Vollkommenen, der wird das ,,klare Weltauge" gewinnen und unvoreingenommen die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, und so im „Lichte der Natur" wandelnd wird er die Dinge beim rechten Zipfel zu packen und nach Möglichkeit zu bewältigen vermögen: ,,Wer sein Leben aufgibt, der wird es gewinnen." ,,Ich lernte diese Welt verachten, nun bin ich erst sie zu erobern wert," sagt Goethe in einem Paralipomenon (88) zum „Faust". Die Mystik, die das wahrhaft Vollkommene und Wertvolle in das Absolute, in Gott setzt, und der Saint-Simonismus, der das wahrhaft Vollkommene, das Absolute, hier auf Erden, im Zukunftsstaate finden will, sind einander entgegengesetzt wie die Symbole der Magie und Sorge im „Faust", wie Genie und Philister, wahre, produktive Tätigkeit und leere, folgelose Geschäftigkeit.

Außerordentlich bezeichnend ist es auch, daß der sehende, schaffende, geniale, von sich und der Welt freie, die eigene Unzulänglichkeit und die große Unsicherheit und Flüchtigkeit aller irdischen Güter deutlich erkennende Faust nichts vom Ruhm wissen will: „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm." Der von der Sorge geblendete, nunmehr sich selber gefallende und die weltlichen Güter als dauernde, höchste Besitztümer schätzende Faust dagegen meint in eitler Selbstbespiegelung, es könne die Spur von seinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn. Mit den letzten Worten des zum Alltagsmenschen mit seiner ihm von der Hoffnung eingeblasenen utopistischen Schwärmerei herabgesunkenen Faust:

„Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick",

hat er auch dem Wortlaut nach die Wette verloren, denn dort hieß es;

„Werd ich zum Augenblicke sagen: 
Verweile doch! du bist so schön! — 
Dann magst du mich in Fesseln schlagen. 
Dann will ich gern zugrunde gehn!"

So sucht denn nun Mephistopheles die göttliche Seele Fausts beim Verlassen des Körpers zu erhaschen und im Feuerwirbelsturm mit sich hinabzuführen. Aber die ewige Gerechtigkeit und Liebe muß dies verhindern. Denn nicht gerecht wäre es, einen Menschen, der sein ganzes Leben hindurch, wenn auch nicht in voller Klarheit, sondern nur ,,verworren, dem Göttlichen zugewandt geblieben und darum über alles Endliche hinweggeschritten war, zu verwerfen, weil er ganz zuletzt im Sterben von der Zeit, von der geistigen Gebrechlichkeit des Greisen alters überwunden, der Verirrung anheimfiel. Sagt doch auch Mephistopheles selber:

„Der mir so kräftig widerstand,
Die Zeit wird Herr, der Greis hier liegt im Sand."

Die ewige Liebe aber zieht das, was in dem Übermenschen Faust aus ihr geboren war und ein so langes Leben hindurch sich immer wieder zu ihr als zu dem vollkommenen Gute emporsehnte, auch wieder zu sich zurück, und darum kommen die Engel herab, vertreiben die Teufel und tragen Fausts unsterbliches Wesen zu jenen ewigen Gründen, wo das Vollkommene allein zu Hause ist.

„Gerettet ist das edle Glied 
Der Geisterwelt vom Bösen: ,
Wer immer strebend sich bemüht. 
Den können wir erlösen.

Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar. Mit herzlichem Willkommen." Goethe gab selber die Erklärung dazu in seinem Gespräch mit Eckermann vom 6. Juni 1831 mit den Worten: „In diesen Versen ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis an's Ende", (bis nämlich am Ende die Sorge ihn so blind macht, wie es die Alltagsmenschen im ganzen Leben sind, und damit sein wahres
Streben und seine wahre Tätigkeit aufhebt) „und von oben die ihm" (wegen des letzten Versagens seiner göttlichen Kraft und Einsicht so nötige und auch wirklich) „zu Hilfe kommende ewige Liebe." Im Reiche des Allgeistes, in jenen ewigen Gründen aber empfängt ihn das verklärte Gretchen, und der mystische Chor schließt das Ganze mit den Worten:

„Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Goethe hat erst um die Zeit seines letzten Geburtstages im Jahre 1831, sieben Monate vor seinem Tode, den zweiten Teil des „Faust" zum Abschluß gebracht. „Mein ferneres Leben kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen," sagte er zu Eckermann; er schnürte aber doch noch einige Male das Paket auf, in dem das Manuskript enthalten war, um Verbesserungen anzubringen. In den ,,Tagebüchern" ist am 24. Januar 1832 verzeichnet: „Neue Aufregung zu .Faust' in Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich, um fertig zu werden allzu lakonisch behandelt hatte." Der ganze zweite Teil sollte erst nach seinem Tode im Druck erscheinen. Am 22. März 1832 verschied Goethe nach kurzer Krankheit, und mit ihm ging einer der größten und göttlichsten Menschen dahin, die je gelebt haben. Er reicht in seiner Bedeutung an die erhabensten Gestalten der Weltgeschichte heran, und was von göttlicher Weisheit und Kraft in ihm war und in seinen Werken niedergelegt ist, vor allem in seinem „Faust", wird auf die Menschheit, sie veredelnd und emporhebend, weiter wirken, so lange sie existiert. —

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