So kindlich uns diese Gottesandacht anmutet, so sehen wir doch sehr deutlich dabei ein Moment zu Tage treten, das für Goethes ganzes Leben von größter Bedeutung geblieben ist, nämlich seine nicht kirchlich dogmatische, sondern rein menschliche und natürliche, pantheistische Gottesverehrung. Mit 24 Jahren erst hat er die Schriften Spinozas gelesen, und er ist ihm dann sein ganzes Leben lang treu geblieben in der Anschauung, daß Gott und die Allnatur nicht zu trennen seien, sondern eine innige Einheit bilden. Hier der Knabe aber bei seiner kindlichen Gottesverehrung kommt schon dazu, Gott in seinen Naturprodukten zu feiern, er sucht Gott in seinen Werken auf und schaut zu ihm empor als zu dem liebenden Schöpfer des Alls. Und wie wundervoll drückt der Dichter später diese Auffassung im Faust-Gedicht aus. Als Gretchen an den Geliebten die Frage richtet, ob er an Gott glaube, antwortet ihr Faust, daß wir Gott nur zu erfassen vermögen im All der Natur, in all dem Herrlichen, das uns umgibt und uns im Herzen lebt und webt:
„Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub' ihn?
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: ich glaub ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht herunten fest?
Und steigen freundlich blickend
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau' ich nicht Aug in Auge dir.
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir.
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist.
Nenn es dann, wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles."
Der Dichter will sagen: mit einem Namen ist immer ein Begriff verbunden, und dieser Begriff kann falsch sein. Die Natur aber, Gottes herrliches Gewand, spricht unmittelbar zu unserm Herzen und gibt uns ein richtigeres Gefühl von Gottes Wirken und Wesen, als es irgend ein Name oder Begriff zu tun vermöchte. Gottes Wesen geht über alles Begreifen hinaus und spottet jedes Versuches, ihn mit menschlichen Gedanken zu umspannen, während er sich dem Herzen, dem innigen Gefühl unmittelbar offenbart. So zeigt sich auch Gott in seinem schönsten Werk, im Menschen, und wo das ganze Herz sich darauf richtet und es mit innigster Liebe umfängt, wo der Mensch im Menschen, der Mann im Weibe, das Weib im Manne ganz aufgeht, sich selbst vergißt tmd nur dem andern zu Liebe lebt, da tritt auch das Göttliche zu Tage, und göttlich nennen wir die reine, innige, sich selbst vergessende Liebe eines Menschen zum andern. Etwas Ewiges, etwas Göttliches hat die erste Liebe eines tief angelegten Menschen, und wie Goethe in dem Übergang aus dem Knaben- ins Jünglingsalter in der letzten Zeit in Frankfurt, bevor er nach Leipzig auf die Universität kam, diese Liebe zum Weibe erfuhr, so hat er sie auch mit dem ganzen Enthusiasmus seines tiefbewegten Gefühls im Faustgedicht zur Darstellung gebracht. Er hat dem Weibe, in dem Faust alle Himmel sieht, den Namen Gretchen gegeben, wie das Mädchen hieß, das in Frankfurt den zum Jüngling sich entwickelnden Knaben mit einer so enthusiastischen, hingebenden, einzigen Liebe erfüllte. Goethe sagt selber, daß die erste Liebe etwas Ewiges an sich habe, jede zweite sei dagegen mit dem Geschmack des Endlichen und Vergänglichen behaftet. Bei der ersten Liebe denkt der junge Mensch, es sei die einzige, die ihn für immer, für ewig ausfüllt; bei der zweiten und jeder folgenden ist diese Illusion schon zerstört; wie die erste Liebe ihr Ende gefunden, so kann es auch die zweite und dritte. Faust aber hebt zum ersten Male ein Weib, wie der jugendliche Heros sein Gretchen in Frankfurt liebte, und darum läßt der Dichter seinen Helden zu Mephistopheles, als dieser ihn damit höhnt, daß er sein Gretchen doch belügen und ihr von ewiger Treue und Liebe vorschwärmen werde, sagen:
,,Wenn ich empfinde,
Für das Gefühl, für das Gewühl
Nach Namen suche, keinen finde.
Dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife,
Nach allen höchsten Worten greife.
Und diese Glut, von der ich brenne.
Unendlich, ewig, ewig nenne,
Ist das ein teuflisch Lügenspiel?"
Freilich hatte das Verhältnis des fünfzehnjährigen Goethe zu dem lieblichen Frankfurter Gretchen noch einen ganz unschuldigen und harmlosen, rein seelischen Charakter, während sich in das Verhältnis Fausts zu Gretchen bei aller tiefen Seelenliebe auch das sinnliche Begehren hineinmischt und den tragischen Ausgang herbeiführt. Ferner liebt Gretchen den Faust so mit ganzer Seele und allen Sinnen, daß sie sich ihm schrankenlos hingibt und kein Leben kennt ohne ihn und seine Liebe. Goethes Frankfurter Gretchen dagegen hatte nur eine schwesterliche Neigung für den einige Jahre jüngeren schönen und intelligenten Knaben, und ganz freimütig, als man sie darüber ausforschte, erklärte sie : „Ich kann es nicht leugnen, daß ich ihn oft und gern gesehen habe ; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet, und meine Neigung zu ihm war wahrhaft schwesterlich. In manchen Fällen habe ich ihn gut beraten, und anstatt ihn zu einer zweideutigen Handlung anzuregen, habe ich ihn verhindert, an mutwilligen Streichen teilzunehmen, die ihm hätten Verdruß bringen können."
Als der junge Goethe, der sich über Gretchens Verlust ganz untröstlich gezeigt hatte, dies erfuhr, daß sie ihn für ein KÜnd zu den Akten erklärt hatte, nahm er es ganz entsetzlich übel, wie er berichtet, und glaubte sich nun auf einmal von aller Leidenschaft für sie geheilt. Ja, er versicherte hastig seinem Freunde, daß mm alles abgetan sei. Auch sprach er nicht mehr von ihr, nannte ihren Namen nicht mehr, konnte aber die Gewohnheit nicht lassen, an sie zu denken, sich ihre Gestalt, ihr Wesen, ihr Betragen zu vergegenwärtigen, das ihm dann freilich jetzt in einem ganz anderen Lichte erschien. Er fand es ganz unerträglich , daß ein Mädchen, höchstens ein paar Jahre älter wie er, ihn für ein Kind halten sollte, der er doch für einen ganz gescheiten und geschickten Jungen zu gelten glaubte. Nun kam ihm ihr kaltes, abstoßendes Wesen, das ihn sonst so angereizt hatte, ganz widerlich vor ; die Familiaritäten, die sie sich gegen ihn erlaubte, ihm zu erwidern aber nicht gestattete, waren ihm jetzt ganz verhaßt. So bemühte er sich, wie er äußerlich von ihr getrennt war, sich nun auch innerlich von ihr zu lösen, indem er sich einzureden suchte, daß sie eine verschmitzte imd selbstsüchtige Kokette gewesen wäre, weil sie, ohne ihn wirklich zu lieben, doch eine von ihm für einen andern Zweck verfertigte poetische Liebesepistel unterschrieben imd ihm dadurch eine förmliche Neigung erklärt hatte. Er suchte ihr in Gedanken alle liebeswürdigen Eigenschaften abzustreifen und war dem Verstande nach überzeugt, sie verwerfen zu müssen; nur ihr Bild strafte ihn Lügen, so oft es ihm wieder vorschwebte, was freilich oft genug geschah. Ja, dies Bild hat ihn sein Leben lang begleitet, und wie er seiner ersten Liebe ein wunderbares Denkmal gesetzt in der Gretchen-Tragödie des ,,Urfaust", so erscheint ihm dies Bild auch noch im hohen Alter, als er den vierten Akt des zweiten Teils des „Faust" gestaltet, in verklärter Gestalt: Faust entläßt dort, im Hochgebirg auftretend, seiner Wolke Tragewerk, und staunend in Bewunderung sieht er, wie sich die Wolke wandelt zu einem göttergleichen Frauenbild, Junonen ähnlich, Ledan, Helenen, bis sich das Ganze wieder verändert und schließlich formlos breit und aufgetürmt im Osten ruht, fernen Eisgebirgen gleich. So hat sich alles das, was sich ihm in reicher Schönheitsfülle in seinem Verhältnis zur antiken Welt und zur Kunst dargeboten und in der Helena-Tragödie symbolisch dargestellt hatte, wieder verloren; die früheste Neigung des Herzens, das Frührot der Liebe, Aurorens Liebe, aber steigt in seiner Erinnerung wieder empor und erfrischt seine Seele zu einer Zeit, da es das klassische Schönheitsideal nicht mehr zu tun vermag:
,,Doch mir umschwebt ein zarter lichter Nebelstreif
Noch Brust und Stirn, erheiternd, kühl und schmeichelhaft.
Nun steigt es leicht und zaudernd hoch und höher auf.
Fügt sich zusammen. — Täuscht mich ein entzückend Bild,
Als jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut?
Des tiefsten Herzens früheste Schätze quellen auf;
Aurorens Liebe, leichten Schwungs, bezeichnet's mir.
Den schnellempfundenen, ersten, kaum verstandnen Blick,
Der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz.
Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form,
Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin.
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort."
Wir erkennen die feine Symbolik: das Bild der Kunst in der Gestalt der Leda, Juno, Helena verwandelt sich, wird unförmlich und ruht fern im Osten, während die holde Form der ersten
Liebe sich nicht auflöst, sondern sich noch steigert, das heißt deutlicher und klarer wird, und sich emporhebt zu göttlichen Hohen, das Beste seines Innern mit sich emportragend, ein anderer Ausdruck für die den Schluß des ganzen großen Weltgedichts bildenden Verse:
„Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan."
Findet doch Faust an der ewigen Stätte, wohin er, befreit von der Trübung des Erdenlebens, zurückkehrt, nicht die Leda, Juno oder Helena bereit ihn zu empfangen, sondern seine erste Liebe, Gretchen, imd die Mater gloriosa wendet sich zu ihr mit den Worten:
„Komm! Hebe dich zu hohem Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach."
Goethe sagt einmal: „Jugendeindrücke verlöschen nie", und hier sehen wir, wie ein Jugendeindruck von einem so tief angelegten Manne wie Goethe festgehalten wird ein langes, ungeheuer reiches und mannigfaches Leben hindurch bis ans Ende. Wie viele Frauen hat Goethe später gekannt und geliebt, und manche von ihnen mußten dem Gretchen im Faust einzelne Züge leihen, so z. B. die Sesenheimer Friederike und Charlotte Buff in Wetzlar, und doch hat keine andere Liebe ihm jemals wieder so den Hauch des Ewigen an sich zu tragen geschienen, wie diese erste tiefe, innige Knabenliebe.
Goethe hatte sie im Hause ihrer Verwandten kennen gelernt, einiger junger Leute, die, zu allen möglichen Streichen aufgelegt, des jungen Goethe poetisches Talent benutzten, um sich
zu gemeinsamen Schmausereien Geld zu verschaffen oder lustige Mystifikationen ins Werk zu setzen. Goethe erzählt von der ersten Begegnung mit ihr: „Bei unserer Ankunft", nämlich im Hause seiner Bekannten, „stand bereits der Tisch reinlich und ordentlich gedeckt, hinreichender Wein war aufgestellt. Wir setzten uns und blieben allein, ohne Bedienung nötig zu haben. Als es aber doch zuletzt an Wein gebrach, rief einer nach der Magd; allein statt derselben trat ein Mädchen herein, von ungemeiner, und wenn man sie in dieser Umgebung sah, von unglaublicher Schönheit. ,Was verlangt ihr?' sagte sie, nachdem sie auf eine freundliche Weise guten Abend geboten : .Die Magd ist krank und zu Bette. Kann ich euch dienen?' ,Es fehlt an Wein,' sagte der eine, ,wenn du uns ein paar Flaschen holtest, so wäre es sehr hübsch.' ,Tu es, Gretchen,' sagte der andere, ,es ist ja nur ein Katzensprung.' —,Warum nicht?' versetzte sie, nahm ein paar leere Flaschen vom Tisch und eilte fort. Ihre Gestalt war von der Rückseite fast noch zierlicher. Das Häubchen saß so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein schlanker Hals gar anmutig mit Nacken und Schultern verband. Alles an ihr schien auserlesen, und man konnte der ganzen Gestalt um so ruhiger folgen, als die Aufmerksamkeit nicht mehr durch die stillen treuen Augen und den lieblichen Mund angezogen und gefesselt wurde. Ich machte den Gesellen Vorwürfe, daß sie das Kind in der Nacht allein ausschickten ; sie lachten mich aus, und ich war bald getröstet, als sie wiederkam; denn der Schenkwirt wohnte nur über die Straße. — ,Setze dich dafür auch zu uns, sagte der eine. Sie tat es, aber leider kam sie nicht neben mich. Sie trank ein Glas auf unsere Gesundheit und entfernte sich bald, indem sie ims riet, nicht lange beisammen zu bleiben und überhaupt nicht so laut zu werden, denn die Mutter wolle sich eben zu Bette legen. Es war nicht ihre Mutter, sondern die unserer Wirte, ihrer Verwandten. Die Gestalt dieses Mädchens verfolgte mich von dem Augenblick an auf allen Wegen und Stegen. Es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte ; und da ich einen Vorwand, sie im Hause zu sehen, weder finden konnte noch suchen mochte, ging ich ihr zu Liebe in die Kirche und hatte bald ausgespürt, wo sie saß ; und so konnte ich während des langen protestantischen Gottesdienstes mich wohl satt an ihr sehen. Beim Herausgehen getraute ich mich nicht sie anzureden, noch weniger sie zu begleiten, und ich war schon selig, wenn sie mich bemerkt und gegen einen Gruß genickt zu haben schien."
Goethe schildert, wie er dann weiter noch Gelegenheit fand, sie in ihrem Hause zu sehen, wie ihre jungen Verwandten ihn veranlaßten, zu einer lustigen Irreführung einen Liebesbrief
eines jungen Mädchens an einen Mann in Versen aufzusetzen, wie Gretchen ihn ernstlich warnte, sich von den jungen Leuten nicht zu solchen losen Streichen gebrauchen zu lassen, wie er es ihr dann nahe legte, ihrerseits die poetische Epistel als an ihn gerichtet zu unterschreiben, und wie sie dieses auch tat: „Ich schob ihr das Blatt näher hin, das sie schon wieder mir zugeschoben hatte, sie lächelte, besann sich einen Augenblick, nahm die Feder und unterschrieb. Ich kannte mich nicht vor entzücken, sprang auf und wollte sie umarmen. — ,Nicht küssen!' sagte sie: ,das ist so was Gemeines; aber lieben, wenn's möglich ist. Goethe bemerkt dazu: „Die ersten Liebesneigungen einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine geistige Wendung. Die Natur scheint zu wollen, daß ein Geschlecht in dem andern das Gute und Schöne sinnlich gewahr wird. Und so war auch mir durch den Anblick dieses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr, eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen aufgegangen."
Er hat sich dann noch oft ihrer reizenden Gegenwart in der unschuldigsten Weise erfreut, bis ein Zufall seinen Angehörigen den ganzen heimlich gepflegten Verkehr mit den jungen Verwandten Gretchens und mit ihr selber enthüllte und ihm den weiteren Umgang unmöglich machte. Man glaubte zuerst, schlimmen Dingen auf der Spur zu sein, eine eingehende Untersuchung wurde angestellt; aber die jungen Verwandten Gretchens wurden nur mit einer gelinden Verwarnung entlassen. Gretchen selber aber bestand vor ihren Examinatoren so gut, daß diese ihr selbst gewogen wurden. Auf ihren eigenen Wunsch verließ sie Frankfurt, tun in ihren Heimatsort zurückzukehren, und Goethe hat sie nie wieder gesehen und nie wieder von ihr gehört. Seine Verzweiflung wurde zuerst grenzenlos, und seine Drohung, wenn man seinen Bekannten und Gretchen ein Unrecht zufüge, so werde er sich ein Leid antun, hätte er unter Umständen wahr gemacht. Das Weinen und Rasen hörte zuerst gar nicht auf. Oft hatte er sich halbe Nächte lang mit dem größten Ungestüm diesen Schmerzen überlassen, so daß es durch Tränen und Schluchzen zuletzt dahin kam, daß er kaum mehr schlingen konnte und der Genuß von Speise und Trank ihm schmerzlich
wurde, auch die Brust zu leiden schien. Ein junger Mann, der eine Hofmeisterstelle in einem befreundeten Hause bekleidet hatte, besuchte ihn öfters und bemühte sich, ihn zu trösten und auf andere Gedanken zu bringen. Goethes Eltern nahmen diesen jungen Mann für einige Zeit ganz ins Haus, und nachdem er den Leidenden über das Schicksal seiner Bekannten und Gretchens beruhigt hatte, gelang es ihm, durch die Erzählung der Aussage Gretchens über ihr Verhalten dem jungen Goethe gegenüber diesen endlich von seinem leidenschaftlichen Schmerz soweit zu heilen, daß er sich ermannen und in neuer Tätigkeit eine Ablenkung suchen konnte. Das verwundete junge Gemüt fand Trost in der Beschäftigung mit der Philosophie, deren besonderer Liebhaber der junge Hofmeister war, und im Zeichnen nach der Natur, wobei sich Goethe heimliche lauschige Plätzchen in den Wäldern der Umgegend aussuchte, indem auch hierbei wieder seine innige Liebe zur Natur und die tiefe Verehrimg aller ihrer Erscheinungen zu Tage trat. „Ich zog meinen Freund", berichtet Goethe, „in die Wälder, und indem ich die einförmigen Fichten floh, suchte ich jene schönen, belaubten Haine, die sich zwar nicht weit und breit in die Gegend erstreckten, aber doch immer von solchem Umfange sind, daß ein armes, verwundetes Herz sich darin verbergen kann."
So wirkte der Verkehr mit der Natur äußerst wohltätig auf sein krankes Gemüt. Und auch die Philosophie übte ihre aufrichtende Wirkung aus. Freihch nicht die Schulphilosophie, die der junge Hofmeister in Jena bei Professor Daries sich zu eigen gemacht hatte und nun seinem jungen Freunde vortrug, sondern die Philosophie der Stoiker, zu denen schon früher Goethe eine Neigung gefaßt hatte und deren Lehre ihm besonders in der Darstellung Epiktets wichtig und bedeutsam wurde. Auch dieser Vorliebe ist er treu gebheben, und in seiner Bibliothek in Weimar ist ein „Handbüchlein der Moral" von Epiktet vorhanden, das er noch in höherem Alter fleißig benutzt hat. Epiktet Hauptgrundsatz ist aber Verachtung der Dinge, die nicht in unserer Gewalt sind. Alle äußeren Güter sind vergänglich, dem Wechsel, dem Zufall preisgegeben. Hängen wir nun unser
Herz daran, so werden wir fortwährend in Mitleidenschaft gezogen und werden elend und unglücklich. Darum reißt sich der tiefer angelegte Mensch los von aller Sorge um die äußeren Dinge und macht es sich von vornherein klar, daß er in dieser Welt kein äußeres wahres unveränderliches und unvergängliches Gut zu finden imstande ist, bei dem er sich dauernd zu beruhigen vermöchte. Wir werden später sehen, wie der Übermensch Faust, ganz von diesem Sinne erfüllt, gleichfalls alle Sorge um die Güter dieser Welt hinter sich wirft und mit dem Teufel die Wette eingeht, daß dieser ihm nichts zu verschaffen und vor die Seele zu führen vermöge, bei dem er, Faust, zu beharren, bei dem er als einem wahren Gut sich zu beruhigen imstande wäre. So weist auch die Liebhaberei des Jünglings für den strengen und herben Epiktet schon auf den tiefen philosophischen Gehalt des Faustgedichtes hin. Und so spinnen sich die Fäden von der frühesten Jugend Goethes bis in sein spätestes Alter, eine wimdervolle Einheit in diesem großen göttlichen Geiste verratend. —
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