2. Goethe als Student in Leipzig. Universitätsleben. Auerbachs Keller. Dichterische Versuche. Leichtfertiges Leben. Todesnähe und ernste Umkehr.
Ende September 1765, einen Monat nach seinem Geburtstag, an dem er 16 Jahre alt geworden war, fuhr Wolfgang auf den Wunsch des Vaters nach Leipzig, um sich dort der Rechtswissenschaft zu widmen. Wolfgang selber hätte Göttingen und das Studium der alten Sprachen vorgezogen. Als er in Leipzig ankam, war es gerade Meßzeit. Mit vielem Anteil durchstrich er den Markt und die Buden und beobachtete die fremden Gestalten der Polen, Russen und Griechen. Die Stadt selber machte einen sehr guten Eindruck auf ihn, und besonders imponierten ihm ,,die ungeheuer scheinenden Gebäude, die nach zwei Straßen ihr Gesicht wendend, in großen, himmelhoch umbauten Hofräumen eine bürgerliche Welt umfaßten und großen Burgen ähnlich sind". In einem dieser großen Häuser, in der Feuerkugel, zwischen dem alten und neuen Neumarkt, quartierte er sich ein und fand als Stubennachbar einen armen, an den Augen leiden den Theologen Limprecht, dessen er sich kameradschaftlich annahm. Bald nach seiner Ankunft ging er, mit einem Empfehlungsschreiben versehen, zu Hofrat Böhme, der Geschichte und Staatsrecht an der Universität lehrte und dessen Vorlesungen er zunächst besuchen wollte. Er wurde von diesem und seiner Gattin, einer fein gebildeten Dame, sehr freundhch aufgenommen; als er aber bald danach dem Hofrat Böhme seine Absicht mitteilte, das ihm vom Vater aufgezwungene Studium der Jurisprudenz aufzugeben und sich ganz dem Studium der alten Sprachen, den schönen Wissenschaften zu widmen, da fand er keine Gegenliebe bei Hofrat Böhme; vielmehr veranlaßte ihn dieser, den Wunsch des Vaters zu achten und bei der Jurisprudenz zu bleiben. Er sollte Philosophie, Rechtsgeschichte, Institutionen und noch einiges andere hören, doch setzte es Wolfgang durch, daß er dazu noch Gellerts Vorlesungen besuchen und auch praktische Übungen bei diesem mitnehmen durfte. Aber wie so manchem Studenten,, so ging es auch unserm Freunde. Anfangs nahm er an den Vorlesungen eifrig teil, später schwächte sich das Interesse bedeutend ab, bis er nur sehr wenige besuchte. Die Philosophie, die er bei Professor Winckler hörte, genügte ihm nicht. In der Logik kam es ihm wiederlich vor, daß er die Geistesoperationen, die er von Jugend auf mit der größten Bequemlichkeit verrichtete, auseinanderzerren, vereinzeln und gleichsam zerstören sollte, um dadurch erst den rechten Gebrauch derselben einzusehen. Darum läßt er später in seinem ,,Faust" den Teufel zum angehenden Studenten sagen:
„Mein teurer Freund, ich rat Euch drum
Zuerst Collegium Logicum.
Da wird der Geist Euch wohl dressiert.
In spanische Stiefeln eingeschnürt,
Daß er bedächtiger so fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn,
Und nicht etwa, die Kreuz und Quer,
Irrlichteliere hin und her.
Dann lehret man Euch manchen Tag,
Daß, was Ihr sonst auf einen Schlag
Getrieben, wie Essen und Trinken frei.
Eins! Zwei! Drei! dazu nötig sei.
Zwar ist's mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schießen.
Die Fäden ungesehen fließen.
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.
Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist Euch, es müßt so sein:
Das Erst war' so, das Zweite so.
Und drum das Dritt und Vierte so,
Und wenn das Erst' und Zweit' nicht war.
Das Dritt' und Viert' war' nimmermehr.
Das preisen die Schüler aller Orten,
Sind aber keine Weber geworden."
Auch unser Wolfgang wäre wohl kein Weber geworden, auch ihm wäre niemals ein Gedankenmeisterstück gelungen, wenn er nur auf dem Hergebrachten gefußt und sich an der Philosophie des Professors Winckler hätte genügen lassen. Mit Recht sagt Goethe: „Von dem Dinge, von der Welt, von Gott glaubte ich ungefähr soviel zu wissen als der Lehrer selbst, und es schien mir an mehr als an einer Stelle gewaltig zu hapern." Mit den juristischen Vorlesungen ging es nicht besser. Der Vater hatte mit ihm so viel und so gründlich Rechtswissenschaften getrieben, und Wolfgangs vorzügliches Gedächtnis sowie sein geniales Fassungsvermögen hatten ihn auf diesem Gebiete so gut orientiert, daß er es höchst langweilig fand, das alles in der Vorlesung noch einmal mit anzuhören. Auch die andern Vorlesungen, auf die er eigentlich gerechnet hatte, daß sie ihn erbauen sollten, konnten ihm nicht viel geben. Aus Professor Emestis Vorlesungen über Ciceros „Bücher vom Redner" lernte er wohl einiges; aber das, was er eigentlich suchte, einen Maßstab des ästhetischen Urteils, fand er nicht darin. In größtem Ansehen bei allen stand noch der berühmte Professor Geliert. Goethe hörte bei ihm Vor träge nach Stockhausens „Entwurf einer auserlesenen Bibliothek" und nahm auch Teil an Gellerts ,, Übungen in deutschen und lateinischen Ausarbeitungen zur Bildung des Verstandes und des Stiles" ; aber Gellert war kein Genie, und alles, was Genie besaß, blieb ihm fremd. So hörte Goethe von ihm nichts über Klopstock, Kleist, Wieland und Lessing. Auch das Genialische in den Ausarbeitungen Goethes verstand Geliert nicht; er hatte keine Ahnung von der Bedeutung seines Schülers. Verse, die Goethe häufig in seine Aufsätze hineinstreute, wollte er nicht dulden, und das Leidenschaftliche, wild Wogende in Goethes Prosa war ihm ganz unsympathisch. So tadelte Geliert nur an den Ausarbeitungen Goethes herum, ohne den jungen Dichter irgendwie zu fördern. Kam Goethe privatim zu Geliert, so wußte dieser mit dem jungen Genie erst recht nichts anzufangen und fragte ihn nur in weinerlichem Tone, ob er auch recht fleißig in die Kirche und zum Abendmahle ginge und wer sein Beichtvater wäre. Die Stilübungen bei Professor Clodius dienten auch nicht dazu, den jungen Dichter anzuregen. Auch Clodius wußte nur zu tadeln, und dabei waren die eigenen poetischen Produktionen des Professors Clodius derart, daß sein Schüler Goethe nur seinen Spott damit trieb. Was Wunder, wenn es daher im Urfaust heißt:
„Zwar bin ich gescheuter als alle die Laffen,
Doktors, Professors, Schreiber und Pfaffen,"
und wenn schon damals in Leipzig eine ähnliche, den hergebrachten akademischen Zopf geringschätzende Stimmung sich des jungen Feuergeistes bemächtigte, der in die Tiefe alles Wissens dringen wollte und überall mit schalem Zeuge abgespeist wurde.
Wenn Goethe während seines fast dreijährigen Aufenthaltes in Leipzig eine wirkliche, bedeutende Förderung erfuhr, so verdankt er diese nicht den akademischen Größen, tun deretwillen er nach Leipzig gegangen war, sondern einem Künstler, dem Direktor der Malerakademie Friedrich Oeser. Goethe nahm bei ihm Unterricht im Zeichnen imd Malen und wurde von ihm auf das Wesen aller echten Kunst hingeleitet: „Edle Einfalt und stille Größe" war das Ideal, das Oeser aufstellte. Er war der Lehrer Winckelmanns und wurde auch der Lehrer Goethes. Von Frankfurt aus schrieb dieser später an Oeser: „Was bin ich Ihnen nicht schuldig, teuerster Herr Professor, daß Sie mir den Weg zum Wahren und Schönen gezeigt haben . . . Den Geschmack, den ich am Schönen habe, meine Kenntnisse, meine Einsichten, habe ich die nicht alle durch Sie? Wie gewiß, wie leuchtend wahr ist mir der seltsame, fast unbegreifliche Satz geworden, daß die Werkstatt des großen Künstlers mehr den keimenden Philosophen, den keimenden Dichter entwickelt, als der Hörsaal des Weltweisen und des Kritikers. Lehre tut viel, aber Aufmunterung tut alles. Wer unter allen meinen Lehrern hat mich jemals würdig geachtet, mich aufzumuntern als Sie?... Ja, Herr Professor, wenn Sie meiner Liebe zu den Musen nicht auf geholfen hätten, ich wäre verzweifelt." Hatte er doch schon vor dem Ende des ersten Halbjahres, an seiner dichterischen Begabung verzweifelnd, seine meisten vollendeten oder erst begonnenen Arbeiten ins Feuer geworfen. Im April 1766 schreibt er an seinen Freund Riese und drückt dabei in Versen seinen Kummer darüber aus, daß es ihm versagt sei, sich zu den Höhen der wahren Kunst zu erheben:
„. . . Es klang von meiner Leier zwar
Manch stolzes Lied, das aber nicht die Musen
Und nicht Apollo reichten. Zwar mein Stolz,
Der glaubt es, daß so tief zu mir herab
Sich Götter niederließen, glaubte, daß
Aus Meisterhänden nichts Vollkommners käme,
Als es aus meiner Hand gekommen war.
Ich fühlte nicht, daß keine Schwingen mir
Gegeben waren, tun emporzurudern,
Und auch vielleicht mir von der Götter Hand
Niemals gegeben werden würden. Doch
Glaubte ich, ich hab' sie schon und könnte fliegen.
Allein kaum kam ich her, als schnell der Nebel
Von meinen Augen sank, als ich den Ruhm
Der großen Männer sah und erst vernahm,
Wie viel dazu gehörte, Ruhm verdienen.
Da sah ich erst, daß mein erhabner Flug,
Wie er mir schien, nichts war als das Bemühn
Des Wurms im Staube, der den Adler sieht
Zur Sonn* sich schwingen und wie der hinauf Sich sehnt.
Er sträubt empor und windet sich,
Und ängstlich spannt er alle Nerven an
Und bleibt am Staube.
Doch schnell entsteht ein Wind,
Der hebt den Staub in Wirbeln auf.
Den Wurm Erhebt er in den Wirbeln auch.
Der glaubt Sich groß, dem Adler gleich, und jauchzet schon
Im Taumel. Doch auf einmal zieht der Wind
Den Odem ein. Es sinkt der Staub hinab.
Mit ihm der Wurm. Jetzt kriecht er wie zuvor."
Wie in Goethes Leben stets neben der Kunst auch die Liebe zum Weibe eine Hauptrolle spielte, so auch in dieser Zeit in Leipzig, und wieder war es ein einige Jahre älteres Mädchen, das es ihm angetan hatte. Als sein späterer Schwager, der Frankfurter Advokat Schlosser, auf kurze Zeit nach Leipzig kam, kehrte er beim Weinwirt Schönkopf auf dem Brühl ein und veranlaßte auch Goethe, dort zu speisen. Dieser fand nicht nur eine auserlesene Tischgesellschaft, die ihn bewog, nach Schlossers Abreise diesem Kreise treu zu bleiben, sondern auch ein reizendes Mädchen, die Tochter des Wirtes, Anna Katharina Schönkopf, die sehr rasch sein Herz in Flammen setzte und ihm bald auch freundlich geneigt wurde. Ihr, seinem Annchen, widmete er eine Sammlung Gedichte unter dem Titel „Annette"; sein Verhältnis zu ihr spiegelt sich auch in seinem Drama „Die Laune des Verliebten" wieder. Sie hatte viel von ihm zu leiden, denn seine Laune war oft schlecht. Es war so vieles in Leipzig, was ihn drückte imd verstimmte; sein ganzes uroriginelles Wesen stand im Gegensatz zu dem französischen Firnis der Leipziger Gesellschaft; man tadelte ihn, man modelte an ihm herum, er war unzufrieden mit sich und daher auch mit anderen, und so quälte er sich und sein Annchen. Glaubte er zu bemerken, daß sie einem andern der Gäste des Hauses ihre Gunst zuwandte, oder daß sie kälter gegen ihn wurde, so geriet er in die heftigste Erregung. Seine unbegründete Eifersucht aber, die Art, wie er seinem Ännchen das Leben erschwerte, stellt er in seinem Schäferspiel dar. Goethe selber berichtet darüber in „Dichtung und Wahrheit": „Meine frühere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein Ännchen übertragen, von der ich nicht mehr zu sagen wüßte, als daß sie jung, hübsch, munter, liebevoll und so angenehm war, daß sie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeitlang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen. Ich sah sie täglich ohne Hindernisse, sie half die Speisen bereiten, die ich genoß, sie brachte mir wenigstens abends den Wein, den ich trank, und schon unsere mittägige abgeschlossene Tischgesellschaft war Bürge, daß das kleine, von wenig Gästen außer der Messe besuchte Haus seinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand sich zu mancherlei Unterhaltung Gelegenheit und Lust. Da sie sich aber aus dem Hause wenig entfernen konnte noch durfte, so wurde denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir sangen die Lieder von Zachariä, spielten den Herzog Michel von Krüger, wobei ein zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der Nachtigall vertreten mußte, und so ging es eine Zeitlang noch ganz leidlich. Weil aber dergleichen Verhältnisse, je unschuldiger sie sind, desto weniger Mannigfaltigkeit auf die Dauer gewähren, so ward ich von jener bösen Sucht befallen, die uns verleitet, aus der Quälerei der Geliebten eine Unterhaltung zu schaffen und die Ergebenheit eines Mädchens mit willkürlichen und tyrannischen Grillen zu beherrschen. Die böse Laune über das Mißlingen meiner poetischen Versuche, über die anscheinende Unmöglichkeit, hierüber ins klare zu kommen, und über alles, was mich hie und da sonst kneipen mochte, glaubte ich an ihr auslassen zu dürfen, weil» sie mich wirklich von Herzen liebte und, was sie nur immer konnte, mir zu Gefallen tat. Durch unbegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien verdarb ich mir und ihr die schönsten Tage. Sie ertrug es eine Zeitlang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war aufs äußerste zu treiben. Allein zu meiner Beschämung und Verzweiflung mußte ich endlich bemerken, daß sich ihr Gemüt von mir entfernt habe, und daß ich nun wohl zu den Tollheiten berechtigt sein möchte, die ich mir ohne Not und Ursache erlaubt hatte. Es gab auch schreckliche Szenen unter uns, bei welchen ich nichts gewann ; und nun fühlte ich erst, daß ich sie wirklich liebte und daß ich sie nicht entbehren könne. Meine Leidenschaft wuchs und nahm alle Formen an, deren sie unter solchen Umständen fähig ist; ja zuletzt trat ich in die bisherige Rolle des Mädchens. Alles Mögliche suchte ich hervor, um ihr gefällig zu sein, ihr sogar durch andere Freude zu verschaffen; denn ich konnte mir die Hoffnung, sie wieder zu gewinnen, nicht versagen. Allein es war zu spät ! Ich hatte sie wirklich verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir selbst rächte, indem ich auf mancherlei unsinnige Weise in meine physische Natur stürmte, um der sittlichen etwas zuleide zu tun, hat sehr viel zu den körperlichen Übeln beigetragen, unter denen ich einige der besten Jahre meines Lebens verlor; ja ich wäre viel leicht an diesem Verlust völlig zugrunde gegangen, hätte sich hier nicht das poetische Talent mit seinen Heilkräften besonders hilfreich erwiesen."
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