„Schon früher hatte ich in manchen Intervallen meine Unart deutlich genug wahrgenommen; das arme Kind dauerte mich wirklich, wenn ich sie so ganz ohne Not von mir verletzt sah. Ich stellte mir ihre Lage, die meinige, und dagegen den zufriedenen Zustand eines anderen Paares aus unserer Gesellschaft so oft und so umständlich vor, daß ich endlich nicht lassen konnte, diese Situation, zu einer quälenden und belehrenden Buße, dramatisch zu behandeln. Daraus entsprang die älteste meiner übergebliebenen dramatischen Arbeiten, das kleine Stück: Die Laune des Verliebten, an dessen unschuldigem Wesen man zugleich den Drang einer siedenden Leidenschaft gewahr wird.'*
„Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein
Gedicht zu verwandeln, und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession." Wir werden noch sehen, welche Bedeutung dieses Wort für die Erklärung der größten dichterischen Schöpfung Goethes, des „Faust" besitzt. Auch da werden wir eigenen, inneren Erlebnissen des Dichters begegnen, die uns erst den Schlüssel zum Verständnis der tiefsinnigsten und bedeutsamsten Stellen liefern werden.
Im Schönkopfschen Hause lernte Goethe auch den elf Jahre älteren Hofmeister des Grafen von Lindenau Ernst Wolfgang Behrisch kennen, mit dem er sich sehr anfreundete und viel verkehrte. Behrisch wohnte im Auerbacher Hof, in dem sich Auerbachs Keller befand, der damals schon die Faustbilder enthielt, die ihn berühmt gemacht haben und die Goethe veranlaßten, die Szene in ,,Auerbachs Keller in Leipzig" seinem Faustgedicht einzuverleiben. Diese Szene ist schon in den Bruchstücken des „Faust" enthalten, die Goethe in der Zeit vom Sommer 1774 bis zum Sommer 1775 in Frankfurt niederschrieb. Wie lange er sich schon vorher in Gedanken mit ihr getragen hatte, wissen wir nicht. Die Anregung hat er sicherlich schon als Student in Leipzig empfangen, wo er oft Gelegenheit hatte, sich die Faustbilder, auf deren einem Faust auf einem Fasse aus dem Keller reitet, anzusehen. Gewiß hat er damals schon an dem wüsten Treiben mancher studentischen Saufkumpane Anstoß genommen und ist selber sehr bald mit dieser niedrigen Art des Lebensgenusses fertig geworden. Die Szene in Auerbachs Keller ist dann später aus dem Manuskript des ..Urfaust" in zum Teil veränderter Gestalt in das 1790 veröffentlichte Faust-Fragment übergegangen, wobei nicht mehr Faust den übermütigen Saufgesellenden Possen spielt, sondern Mephistopheles.
In Leipzig aber war es Faust-Goethe selber gewesen, der seinen Kumpanen manchen Streich spielte, so daß gelegentlich alle seine Bekannten von ihm zu leiden hatten ; und doch hatten ihn alle gern; und als ihn zuletzt eine schwere Krankheit aufs Lager warf und eine Zeitlang sogar sein Leben bedrohte, zeigte sich eine allgemeine herzliche Teilnahme, die mit vielem aussöhnen muß, was ihm sonst Schlimmes in Leipzig begegnete. Schon vorher hörten wir, wie Goethe davon sprach, daß der von ihm selber verschuldete Verlust der Liebe seines Annchens ihn dazu brachte, wild in seine physische Natur zu stürmen, so daß er fast darüber zugrunde gegangen wäre. Er schonte sich auch sonst nicht ; beim Kupferstecher Stock übte er sich im Radieren, ohne sich beim Ätzen der Kupferplatten vor den aufsteigenden Dämpfen der Ätzlösung genügend zu schützen, so daß seine Lungen angegriffen wurden. Dazu kam eine falsche Ernährungsweise ; er konnte das schwere Merseburger Bier nicht vertragen. Eine übertriebene Abhärtung trug das ihrige dazu bei; und ein leichtfertiges sinnliches Liebesleben, zu dem er sich, von Ännchen verschmäht, getrieben fühlte, half den schon angegriffenen Körper noch mehr zerrütten. Eines Nachts wachte er mit einem heftigen Blutsturz auf und hatte gerade noch soviel Kraft und Besinnung, seinen Stubennachbar, den Theologen, zu wecken. Der Arzt wurde gerufen und tat, was er vermochte. Mehrere Tage lang schwebte aber Goethes Leben in Gefahr, und als dann die dringendste Sorge beseitigt war, wurde man auf eine Geschwulst aufmerksam, die sich an der linken Seite des Halses gebildet hatte. Mehrere Wochen mußte er fest liegen und in der sorgsamsten Weise gepflegt werden, um wieder allmählich zu Kräften zu kommen. Noch lange, nachdem er schon aufgestanden war, hing ihm die Krankheit an, und als er von Leipzig nach Frankfurt zurückgekehrt war, da war er noch immer leidend und mußte lange Zeit hindurch das Zimmer hüten.
Die Krankheit hatte aber auch ihr Gutes und bildet in seiner inneren Entwicklung einen Markstein. Er war in dem weltlichen, oberflächlichen Treiben in Leipzig so aufgegangen, sein leidenschaftliches Wesen hatte ihn derart hin und her gerissen zwischen den Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen, daß er sich selbst verlor und sein tieferes Wesen darunter litt. Da kam die schwere Krankheit und schnitt ihn von allem äußeren Leben ab. Damit waren aber auch alle auf äußere Dinge gerichteten Leidenschaften plötzlich außer Wirksamkeit gesetzt, und Goethe hatte daher Zeit und Muße, sich mit sich selber in ernstlicher Weise zu beschäftigen; und siehe da, statt daß dieser Zustand ihn mit Verzweiflung erfüllt hätte, brachte er ihm im Gegenteil das Gefühl der Befreiung von dem haltlosen Hin- und Hergeworfenwerden zwischen entgegengesetzten leidenschaftlichen Zuständen, und mit dieser Befreiung zugleich eine Heiterkeit des Geistes, wie er sie schon lange nicht gekannt hatte, so daß es ihm schien, als ob er ein ganz anderer Mensch geworden wäre. Von großer Bedeutung war es, daß ihm in dieser Zeit ein ernstgerichteter Mann nahe trat, der Gelegenheit nahm, ihn ohne alle Frömmelei und Muckerei auf die Schriften des Alten und Neuen Testaments hinzuweisen, die ja Goethe vertraut genug waren und die ihm jetzt doch in seiner gegenwärtigen Lage in einem neuen Lichte erschienen. Er spricht darüber in ,, Dichtung und Wahrheit":
„Umständlicher muß ich jedoch hier eines Mannes erwähnen, den ich erst in dieser Zeit kennen lernte und dessen lehrreicher Umgang mich über die traurige Lage, in der ich mich befand, dergestalt verblendete, daß ich sie wirklich vergaß. Es war langer, nachheriger Bibliothekar in Wolfenbüttel. Vorzüglich gelehrt und unterrichtet, freute er sich an meinem Heißhunger nach Kenntnissen, der sich mm bei der krankhaften Reizbarkeit völlig fieberhaft äußerte. Er suchte mich durch deutliche Übersichten zu beruhigen, und ich bin seinem obwohl kurzen Umgange sehr viel schuldig geworden, indem er mich auf mancherlei Weise zu leiten verstand und mich aufmerksam machte, wohin ich mich gerade gegenwärtig zu richten hätte."
Der gelehrte Langer brachte ihm auch wieder die geliebten Alten näher, nach denen Goethes Sehnsucht von Anfang an gegangen war; hatte er sich doch eigentlich dem Studium des klassischen Altertums widmen wollen und war nur seinem Vater zuliebe bei der Rechtswissenschaft geblieben. Ganze Körbe voll deutscher Dichter und Kritiker, die der viel lesende Goethe verschlungen hatte, überließ er seinem Freunde Langer und tauschte dagegen eine Anzahl griechischer Autoren ein, deren Lektüre ihn während der langen Genesung erquicken sollte. Er schildert dann, wie eine solche neue Freundschaft sich stufenweise entwickelt, und fügt dann hinzu:
Es ist aber noch ein Tieferes, das sich aufschließt, wenn das Verhältnis sich vollenden will, es sind die religiösen Gesinnungen, die Angelegenheiten des Herzens, die auf das Unvergängliche Bezug haben, und welche sowohl den Grund einer Freundschaft befestigen als ihren Gipfel zieren. Obgleich Gelehrter und vorzüglich Bücherkenner, so mochte er doch der Bibel vor andern überlieferten Schriften einen besondern Vorzug gönnen und sie als ein Dokument ansehen, woraus wir allein unsern sittlichen und geistigen Stammbaum dartun könnten. Sein Vortrag, angenehm und konsequent, fand bei einem jungen Menschen leicht Gehör, der, durch eine verdrießliche Krankheit von irdischen Dingen abgesondert, die Lebhaftigkeit seines Geistes gegen die himmlischen zu wenden höchst erwünscht fand."
Und diese Wendung gegen die himmlischen Dinge blieb ihm und vertiefte sich noch, als er noch leidend nach Frankfurt ins Vaterhaus zurückkehrte und unter dem Einfluß der herzensfrommen, pietistisch gerichteten Susanne von Klettenberg, der Verwandten und intimsten Freundin seiner Mutter, geriet. Diese Wendung war entscheidend für sein ganzes übriges Leben und hat diesem die Richtung und den Weg gewiesen. Goethe konnte nicht dauernd dem weltlichen Treiben sich hingeben, ohne sich innerlich zu zerreiben und schließlich unterzugehen. Er brauchte als Gegengewicht dazu die Richtung seines Gemütes auf die himmlischen Dinge, auf das Ewige und Unvergängliche. Die Empfindlichkeit eines so hoch genialen Menschen ist eine außerordentlich gesteigerte, und ebenso die Leidenschaftlichkeit seines Begehrens und Strebens. Besitzt er nicht ein Gegengewicht in seiner Seele, das diese Empfindlichkeit mildert, so zerreibt und zerarbeitet er sich innerlich und endet früh entweder durch Krankheit oder durch Selbsmord. In „Werthers Leiden" hat Goethe später bei anderer Gelegenheit diesen Zustand, den er schon in seinem Verhältnis zu Ännchen in Leipzig an sich selber wahrnehmen konnte, mit seinem tragischen Ausgang in einzigartiger Weise geschildert und so von sich abgelöst, auch als ein Stück einer großen Konfession. Goethe stand ja mehrere Male in Gefahr, so namentlich auch in seinem Verhältnis zu Charlotte Buff in Wetzlar, seiner außerordentlichen Empfindlichkeit und Leidenschaftlichkeit zum Opfer zu fallen ; aber die Richtung auf das Ewige und Unvergängliche, die seiner hochgenialen Natur angeboren war und durch Langer und Fräulein von Klettenberg nur geweckt zu werden brauchte, gab ihm den Anker, der seinem von allen Winden hin und her gerissenen Schifflein den festen Halt bot. Wie die überaus empfindliche Magnetnadel in fortwährender zitternder Unruhe dem leisesten Anstoß gehorcht und doch immer wieder ihre Richtung nach dem Nordpol nimmt, so stellt sich auch das überaus empfindliche und dem leisesten . Anstoß nachgebende Gemüt eines hochgenialen Menschen immer wieder in der Richtung auf das Ewige und Unvergängliche ein, und er würde sich selbst verlieren und elend zugrunde gehen, wenn er diesen Halt nicht besäße. Das ist zugleich die Idee von Goethes Faust, und wenn dieser zu Wagner klagt:
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen,"
so ist dies wiederum ein Stück einer großen Konfession und deutet auf Goethes eigenen innern Zustand, wie er ihn schon in Leipzig als Student durchlebt hat. Mit klammernden Organen
hat er sich da an die Welt gehalten in derber Liebeslust und wäre darin aufgegangen und untergegangen, wenn nicht der Zug in die Höhe, die Richtung auf das Ewige hin ihm die Kraft gegeben hätte, jeden Verlust zu überwinden und sich immer wieder selbst zu finden, nachdem er sich in allem möglichen leidenschaftlichen Getriebe verloren hatte. Dieses Sichverlieren begegnet ihm. immer wieder; viel zu lebhaft und leidenschaftlich fühlend, um kalt und gemessen zu bleiben, wird er immer wieder von neuen lockenden Erscheinungen dieser Welt hingerissen, um doch immer wieder die Richtung auf das Unvergängliche und damit sich selber wiederzuerfassen ; denn beides hängt eng miteinander zusammen: das Gefühl des Ewigen und das sich selber Wiederfinden, das Wohnen bei sich selber und Ruhen im eigenen tief
sten Wesen. Der leidenschaftlich von äußeren Dingen hin und her bewegte Mensch glaubt seiner eigenen Lust nachzugehen und findet doch nichts als Unruhe und Leiden und inneren Zwiespalt. Sowie er aber diese äußeren Dinge aufgibt und sich dem Ewigen zuwendet, fällt auf einmal all diese Unruhe fort, und mit freudigem Erstaunen wird der Mensch gewahr, daß das Glück gar nicht in den äußeren Dingen liegt, denen er nachjagte, sondern daß es in seiner eigenen Brust ruht und ihm zum Bewußtsein kommt, sobald er bei sich selber Einkehr hält. So ging es damals dem jungen Goethe, als er, durch schwere Krankheit ans Lager gefesselt und dem Tode nahe, auf alles Verzicht leisten mußte, was ihn bis dahin leidenschaftlich bewegt hatte, und nun auf einmal mit inniger Freude gewahr wurde, daß diese Verzichtleistung ihn nicht etwa schmerzte, sondern ihn im Gegenteil erst frei aufatmen ließ von dem Druck all der Begierden, die ihn beherrscht und herumgetrieben hatten, und daß im eigenen Busen ihm eine Welt lebte, viel reicher und schöner als die, auf die er Verzicht leisten mußte, so daß es ihm schien, als sei er ein neuer Mensch geworden. Dieses Verhältnis macht auch die Wette Fausts mit dem Teufel verständlich. Mephistopheles meint, dem leidenschaftlich bewegten Faust so köstliche, verlockende Dinge verschaffen zu können, daß Faust in ihrem Genuß ganz aufgehen und seine Sehnsucht nach dem Ewigen und Unvergänglichen darüber fahren lassen werde. Faust dagegen kennt sich selber; er weiß, daß er nach allem Köstlichen und Verlockenden dieser Welt leidenschaftlich greifen und es doch immer wieder nach einiger Zeit aufgeben werde, weil er auf die Dauer keine höchste Befriedigung, keine Ruhe und Glückseligkeit darin zu finden imstande ist. Seine Seele, im tiefsten Grunde auf das Ewige gerichtet, vermag sich wohl leidenschaftlich mit allem möglichen Köstlichen und Verlockenden dieser Welt, mit allem, was ein wahres Sein nur abspiegelt, abzugeben; aber schließlich wird die Grundrichtung immer wieder überwiegen und durchschlagen, und von all den Ausflügen wird die Seele immer wieder zu sich selber und zu dem, was auf ihrem tiefsten Grunde liegt, zurückkehren. Dieses tiefste Problem des Seelelebens überhaupt und zugleich das tiefste Problem der reinen Mystik Meister Eckeharts und des Goetheschen Weltgedichtes, es wurde dem Dichter des „Faust" klar, als er damals in Leipzig, dem Tode nahe und von allem Zusammenhang mit dem äußerlichen irdischen Getriebe losgerissen, nach allen Schrecken, die die drohende Vernichtung ihm eingeflößt hatte, eine „Heiterkeit des Geistes" gewann, wie er sie lange nicht gekannt und in all dem Leipziger Trubel niemals empfunden hatte. Darum ist diese Episode so wichtig, und darum verweilten wir so ausführlich bei ihr. Werden wir doch dieser Zwiespältigkeit in Goethes Natur noch mehrfach begegnen. Goethe aber war ein Ewigkeitsmensch mit vollem klarem Bewußtsein, und darum vermochte er auch in seinen „Faust" das Tiefste hineinzulegen, was ein Mensch innerlich zu erleben vermag. —
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