Von großer Bedeutung sind auch die zwei Büchlein „Von der holdseligen Liebe Gottes" und „Von unserm christlichen Glauben" von Johann von Staupitz, dem väterlichen Freunde, Lehrer und Beichtvater Luthers, die Goethe im Anhang von Taulers Predigten, gleichfalls in jener entwicklungsreichen Zeit um das Jahr 1769, gelesen hat. Indem sich nämlich Faust, unbekümmert um den letzten Ausgang, den er doch nicht in seiner Gewalt hat, in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit stürzt, muß er notwendig sich vielfach in Schuld verstricken und sündig werden. Auch das, was sich in seiner Seele in derber Liebeslust mit klammernden Organen an die Welt hält, muß ihn zu Falle bringen, wie der Knecht Gottes in der Nachfolge Christi klagt: „Mit dem Gemüt will ich über alle Dinge sein, aber mit dem Fleisch werd' ich bezwungen, daß ich unter allen Dingen sein muß." Demgegenüber aber steht die verzeihende Gnade Gottes, die, wenn nur das Herz sich ihm zuwendet, über alle natürliche Schwachheit des Fleisches hinwegsieht. Ist doch jedes entliche Geschöpf unvollkommen, und hat doch selbst Christus dem, der ihn mit den Worten ..Guter Meister" anredete, geantwortet: „Was nennst du mich gut? Keiner ist gut außer Gott allein." Darum heißt es in einer Predigt Susos, eines Schülers Meister Eckeharts: „Dir, o Gott, sind tausend Mark ebenso leicht zu erlassen, wie ein Pfennig, imd tausend Todsünden ebenso leicht zu vergeben wie eine. Die Menschen können dir nimmer genug danken, ihre Herzen fließen über von deinem Lob, denn nach der Schrift sind sie dir in ihren Sünden, wenn sie sich zu dir wenden, viel löblicher, als ob sie nie in Sünden wären gefallen und in Lauigkeit lebten und auch nicht so viel Liebe zu dir hätten. Nach St. Bernhards Lehre siehst du nicht an, was ein Mensch gewesen ist, du siehst vielmehr an, wie er sein will, nach der Begierde seines Herzens, und danun, wer dir will absprechen, Sünden zu vergeben, auch so oft, als es Augenblicke gibt, der will dich großer Ehre berauben." Darum sagt auch Goethe am Ende seines Lebens von seinem ,,Faust", er sei „eine große Predigt des , Richtet nicht!'" Denn wenn auch der Dichter mit Absicht seinen Helden die ärgsten Sünden begehen läßt, so zielt doch die Sehnsucht des Herzens bei Faust auf das höchste Ideal, und darum liebt ihn nach Susos Ausspruch Gott mehr als einen, der in Launigkeit lebt, keine große Sünde begeht, aber auch nichts vom höchsten Gute weiß und sein Herz nur mit den vergänglichen Dingen dieser Welt sättigt. Und ähnlich drückt sich auch Staupitz in seinem Büchlein „Von der holdseligen Liebe Gottes" aus in dem 17. Kapitel, das die Überschrift trägt: ,,Den Auserwählten, die Gott über alle Dinge lieben, helfen alle Dinge zum besten". Staupitz sagt dort: „Darum ist die durch Christum auserwählte Seele Gott also freundlich zugetan, daß ihr das Böse, ja die Sünden, nicht allein unschädlich sind, sondern zu ihrem Besten helfen. Für wahr ist ein rechter Christenmensch ein wunderbares Geschöpf Gottes, dem sich Gott von Ewigkeit in so hoher Liebe verbunden hat; ob der Mensch auch, wie David sagt, das Gesetz Gottes übertrete, in seinen Gerichten nicht wandle, seine Gerechtigkeit gering schätze und seine Gebote übertrete, so will es doch Gott nur zeitlich strafen und seine Barmherzigkeit darum nicht von ihm wenden, so daß ihm so seine eigene Sünde zu der Seligkeit helfen muß. Dem Gott wohl will, dem müssen Himmel und Hölle, Böses und Gutes zu seinem Besten dienen."
Und so dient auch die Hölle und der Teufel dem Goetheschen Faust zu seinem Besten, und er bleibt der Knecht Gottes, auch wenn er Sünde über Sünde auf sein Haupt häuft. Schuldig genug ist auch Goethe selber geworden. Ist doch sein „Faust" wie alles andere, was er geschrieben hat, nur ein Bruchstück einer großen Konfession, einer umfassenden Beichte. Wie Faust sein Gretchen verlassen hat, so Goethe seine Friederike in Sesenheim, so daß ihr fast das Herz darüber brach. Wie er der Frau von Stein acht Jahre später mitteilte, verließ er Friederike in einem Augenblick, wo es sie fast das Leben kostete. Als Goethe von Friederike Abschied nahm, hatte er nicht den Mut, ihr offen zu gestehen, daß er ihr nie angehören würde, und schrieb ihr dies erst, als er in Frankfurt angelangt war. Die Antwort Friederikens zerriß ihm das Herz; er sagt: „Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu hindern. Sie war mir ganz gegenwärtig, stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und, was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eigenes Unglück nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette hatte mich verlassen, hier ward ich zum erstenmal schuldig. Ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düstem Reue höchst peinlich, ja unerträglich." Dem entsprechend sagt auch Faust von Gretchen:
„Fühl ich nicht immer ihre Not?
Bin ich der Flüchlting nicht? der Unbehauste?
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh,
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste.
Begierig wütend, nach dem Abgrund zu?
Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen,
Im Hüttchen auf dem kleinen Alpenfeld,
Und all ihr häusliches Beginnen
Umfangen in der kleinen Welt.
Und ich, der Gottverhaßte,
Hatte nicht genug.
Daß ich die Felsen faßte
Und sie in Trümmern schlug!
Sie, ihren Frieden mußt ich untergraben!
Du, Hölle, mußtest dieses Opfer haben!"
Goethe war ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Straßburg, im Oktober 1770, durch seinen Tischgenossen, den Theologen Weyland, auf einem Ausflug mit der Familie des Pfarrers Brion in Sesenheim bekannt geworden. Friederike war von den vier Töchtern, drei von ihnen waren noch im Hause, die zweitjüngste. Sie war 19 Jahre alt, eine reizende Erscheinung, ein munteres, liebes Wesen. Goethe stand bald in einem äußerst regen Verkehr mit der Familie und hat mehrfach wochenlang ihre Gastfreundschaft genossen. Seiner Liebe zu Friederike, die auch ihn liebte, schöner als er es verdiente, sind eine Reihe seiner entzückendsten Lieder entsprungen, und die Gestalt Gretchens im „Faust" hat von ihr sehr viel empfangen. Goethe aber, fortgerissen durch sein großes Schicksal, konnte sich nicht an sie binden. Auch sie war nur eine Episode in seinem Leben, auch sie nur ein vergängliches Gut, an dem er nicht haften bleiben durfte. „Ich bin nur durch die Welt gerannt", sagt Faust zur Sorge; und so ist auch Goethe durch die Welt gerannt, seine Freiheit sich wahrend, soviel er vermochte, rastlos tätig und schaffend, mit Schuld beladen und doch immer dem höchsten Ideal zugewandt.
Den Abschluß seines Straßburger Aufenthaltes bildete seine Verteidigung von 56 Thesen, wodurch er die Würde eines Lizentiaten der Rechte erlangte. Er hatte ursprünglich die juristische Doktorwürde sich verschaffen wollen; als aber die Dissertation fertig war, nahm die Fakultät Anstoß an dem Inhalt der Arbeit, und daher gab ihm der Dekan der juristischen Fakultät, Professor Erlen, den Rat, die Arbeit zurückzuziehen und über Thesen zu disputieren, um statt des Doktorgrades, wozu eine Abhandlung unbedingt erforderlich war, die Würde eines Lizentiaten der Rechte zu erwerben. Da in Deutschland kein Unterschied gemacht wurde und die Lizentiatenwürde dort ebensoviel galt als der Doktor, war Goethe mit dem Vorschlag einverstanden und handelte demgemäß. Tatsächlich wurde er auch offiziell immer als Doktor Goethe bezeichnet. Die Doktorarbeit, die auf diese Weise ihren Zweck verfehlt hatte, kam nicht in den Druck und ging später verloren. Mitte August 1771 reiste Goethe von Straßburg ab, viele dichterische Pläne in seinem Kopfe tragend, als bedeutendste den „Götz" und „Faust". —
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