Die wundervolle Einheit und Gesetzmäßigkeit der Gebilde der Natur, die sich Goethes magisch-genialem Schauen bei seinen naturwissenschaftlichen Studien eröffnet hatte und ihn zu der Entdeckung des Zwischenkieferknochens und zu der Idee von der Urpflanze geführt hatte, offenbarte sich ihm auch auf italienischem Boden, und der Dichter läßt dort sein dankerfülltes Herz ausströmen in dem herrlichen Monolog in der Szene „Wald und Höhle", wo Faust, in innigem Verkehr mit der Natur Beruhigung seiner heißen Leidenschaften findend, die Worte spricht:
„Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles.
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine
Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen."
Wie die mit Goethes magisch-genialem Anschauen der Natur in vollster Übereinstimmung sich befindende Philosophie des großen Spinoza den Dichter die letzten Jahre vor seiner Reise nach Italien beschäftigt hatte, so ließ sie ihn auch dort nicht los. Unterm 23. August 1787 schreibt Goethe aus Rom: „So entfernt bin ich jetzt von der Welt und allen weltlichen Dingen es kommt mir recht wunderbar vor, wenn ich eine Zeitung lese. Die Gestalt dieser Welt vergeht; ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind, und so, nach der Lehre des Spinoza, meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen." Wenige Tage später, am 28. August, seinem Geburtstage, erhielt er von Herder dessen eben erschienenes Buch betitelt ,,Gott. Einige Gespräche von J. G. Herder", zugesandt. Goethe schreibt unter diesem Datum in der „italienischen Reise": ,,Mir ist diese Tage manches Gute begegnet, und heute zum Feste kam mir Herders Büchlein voll würdiger Gottesgedanken." Und unterm 6. September aus Rom: „Herders Buch ,Gott' leistet mir die beste Gesellschaft . . . Mich hat er aufgemuntert, in natürlichen Dingen weiter vorzudringen, wo ich dein, besonders in der Botanik, auf ein (Spinozistisches) Eins und Alles gekommen bin, das mich in Erstaunen setzt; wie weit es um sich greift, kann ich selbst noch nicht sehen." Lessing hatte die Philosophie Spinozas Jacobi gegenüber mit den Worten ,,Eins und Alles" bezeichnet; nämlich Gott ist der Eine, der in sich geschlossene einheitliche Allgeist, und Gott ist zugleich alles, alles, was sich in der Natur als ungeheuere unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen kundgibt. Dies „Eins und Alles" ist das Stichwort der Spinozistischen Gemeinde, zu der auch Goethe gehörte; und in der zuletzt angeführten Stelle spricht er es selber deutlich aus, wie dieses „Eins und Alles", dieser Kern der Spinozistischen Philosophie, für ihn das Leitmotiv bei seinen mannigfaltigen Naturstudien gewesen ist. Er sagt: ,,Ich bin in der Botanik auf ein Eins und Alles gekommen, das mich in Erstaunen setzt." Wie nämlich nach der Lehre Spinozas Gott die eine und einheitliche Urexistenz ist, die andererseits Alles ist, in allen unendlich mannigfaltigen vergänglichen Erscheinungen sich wiederspiegelt, so ist es nach der Auffassung Goethes die eine und einheitliche Idee der Urpflanze, die in einer außerordentlichen Mannigfaltigkeit von Pflanzenerscheinungen sich offenbart. Gottes in sich abgeschlossenes geistiges einheitliches Wesen und sein Verhältnis zur Ungeheuern Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen der Natur wiederholt sich auf den einzelnen großen Gebieten des Daseins.
Herders Buch „Gott" enthält die Übersetzung des ersten Teiles einer Schrift von Spinoza, die Herder betitelt: „Von der Besserung des Verstandes und von dem Wege, auf welchem man am besten zur wahren Kenntnis der Dinge gelangt." Diese Schrift Spinozas zeigt deutlich den rein mystischen Grundzug der selbstlosen, hingebenden Liebe zu dem höchsten und einzig wahren Gute, das wir Gott nennen. Es ist des absolute Individuum, die unendliche und doch vollendete Persönlichkeit, der einheitliche, in sich geschlossene und in sich ruhende Allgeist, der sich uns zugleich von außen her als Allnatur in ihrer unendlichen Fülle der verschiedenartigsten und doch innerlichst zusammenhängenden Existenzen darstellt. So wurde Goethe auch durch diese Schrift Herders, die die Übersetzung der Schrift Spinozas enthält, wieder in seiner Auffassung gestärkt, und dadurch wurde ihm auch das Wesen seines Faust wieder nahe gebracht, der ebenso wie Spinoza alles, was uns das Leben bietet, in Betracht zieht und dabei findet, daß es nicht genügt, nicht befriedigt, weil seine Seele die Anschauung eines ewigen, unendlich vollkommenen Gutes, eines höchsten Ideales in sich trägt, woran gemessen alle endlichen, vergänglichen Güter dieser Welt, seien sie noch so köstlich und erhaben, als bloße Schatten dahinschwinden. Spinoza sagt gleich im Beginn der von Herder übersetzten Schrift: ,, Belehrt von der Erfahrung, daß alles, was uns im gemeinen Leben so häufig begegnet, ein leerer Tand sei, weil ich sah, daß alles, wovor ich mich fürchtete, in sich selbst weder Böses noch Gutes habe, als sofern das Gemüt dadurch bewegt ward, entschloß ich mich endlich zu forschen, ob es etwas gebe, das wahrhaft gut sei und sich mitteile, so daß mit Verwerfung alles anderen die Seele von ihm allein Einwirkung erhalte. Ja, ob es etwas gebe, das, wenn ich's fände und hätte, mir einen unverrückten, höchsten und ewigen Freudegenuß gewähren könnte. Ich sage, daß ich mich endlich entschlossen ; denn dem ersten Anblick nach schien es unratsam zu sein, um eine mir damals ungewisse Sache eine gewisse verlieren zu wollen; ich sah nämlich die Vorteile, die aus Ehre und Reichtum entspringen und die ich nicht weiter suchen mußte, sobald ich mich ernstlich nach meinem neuen Zweck wenden wollte. Läge also das höchste Glück in ihnen, in Ehre und Reichtum, so sah ich wohl, daß ich desselben entbehren müßte; fände es sich aber in ihnen nicht und ich jagte ihnen doch nach, so müßte ich seiner, des höchsten Gutes und Glückes, auch entbehren. Ich überlegte also bei mir selbst, ob es nicht möglich sei, zu meinem neuen Zweck oder wenigstens zur Gewißheit zu kommen, daß es einen solchen gebe, wenn ich auch meine gewöhnliche Lebensweise nicht veränderte, welches ich oft vergebens versucht habe." (Wie auch Christus und Thomas von Kempen betonen, daß es unmöglich ist, zweien Herren zugleich zu dienen, Gott und dem Mammon.) ,,Denn was uns gemeiniglich im Leben begegnet und von den Menschen, nach ihren Handlungen zu urteilen, für das höchste Gut an gesehen wird, läßt sich auf drei Stücke bringen: auf Reichtum, Ehre und Sinnenlust. Durch alle drei aber wird das Gemüt so zerstreut, daß es an kein anderes Gut irgend gedenken kann." So entscheidet sich denn Spinoza dafür, auf alle diese ihrer Natur nach unsicheren, schwankenden und irreführenden Güter, auf Reichtum, Ehre und Sinnenlust, zu verzichten und sich allein dem festen, ewigen, unwandelbaren Gut zuzuwenden. In seinem ,,Faust" hat Goethe dieses Problem anders gewendet: Faust verzichtet nicht auf die wandelbaren Güter dieser Welt, im Gegenteil, er bedient sich der bösen Gewalt des Teufels, um sich diese irdischen Güter zu verschaffen, ist aber zugleich getragen von der Überzeugung, daß diese irdischen Güter nur flüchtiger, vergänglicher Natur sind, und daß seine von dem höchsten Ideal erfüllte Seele niemals auf die Dauer bei ihnen zu beharren vermag. Aus dieser Überzeugung heraus schlägt Faust dem Teufel die Wette vor, die wir später noch ausführlich zu behandeln haben werden. Als Goethe Italien verließ, hatte er den Faden zu seinem „Faust" wiedergefunden. Doch sollte noch viel Zeit darüber hingehen, bis er die Arbeit wieder aufnehmen und vollenden konnte. —
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