Zweites Buch
Achtes Kapitel
In der Mitte des Hauses war ein großer, mit Sandplatten belegter Hof, der auch seit Werners Regierung wieder im Sommer einen angenehmen Aufenthalt abgab; was ihn sonst anfüllte und entstellte, war auf die Seite und jedes an seinen Ort in die Ställe, Remisen und auf die Böden gebracht worden. Gereinigt diente er nunmehr zum Sammelplatze und Spaziergange der Familie. Im Grunde desselben stand eine künstliche Grotte, wo ehemals Wasser gesprungen hatte, wo von aber die Röhren in Unordnung gekommen und viele von den Zieraten abgebrochen worden waren. Solches wieder in Ordnung zu machen, hatte Werner schon Perlemuttermuscheln, Korallen, Bleiglanz und was dazu gehört, verschrieben und hoffte, bald wieder alles in Ordnung zu sehen und bei dem springenden Wasser sonntags mit guten Freunden ein Glas Wein zu trinken und eine Pfeife zu rauchen. Nachdem er dieses alles bedacht, stieg er auf den obern Teil des Hauses, wo zwischen ein paar Dachgiebeln ein Altan angebracht war, den er in dem schlimmsten Zustande fand. Auch hier spekulierte er auf neue Orangenkasten, bunte Scherben, fremde Gewächse, womit er seinen hangenden Garten auszieren und sich zwischen den Schornsteinen ein kleines Paradies schaffen wollte. Der Abend kam herbei, er stieg herab, besuchte noch im Vorbeigehen die Gewölbe, sah nach den Zuckerkisten, Kaffeefässern und nach den Zeronen Indigo, für welche er, weil es guter Handel war, eine besondere Zärtlichkeit hatte. Er setzte sich darauf ins Comptoir, schlug seine Handelsbücher nach und ergötzte sich in dieser Lektüre, da ihm der offenbare Vorteil daraus in die Augen leuchtete, mehr, als wenn es die geschmackvollste Schrift gewesen wäre.
Hierüber trat Wilhelm herein, der, ganz voll von seinem Abenteuer und den schönen Gegenden, die er in Gesellschaft einiger Bekannten besucht, seinen Schwager mit großer Lebhaftigkeit davon unterhielt. Dieser gab ihm zwar mit seiner gewöhnlichen Langmut Gehör, doch war er diesmal selbst von eigener Leidenschaft so angefüllt, daß er auf die Fragen Wilhelms, was er bisher gemacht habe, das Gespräch auf diejenige Dinge lenkte, die ihn am meisten interessierten.
"Ich ging soeben", sagte Werner, "unsere Bücher durch, und bei der Leichtigkeit, wie sich der Zustand unseres Vermögens übersehen läßt, bewunderte ich aufs neue die großen Vorteile, welche die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne gewährt. Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder guter Haushalter sollte sie in seiner Wirtschaft einführen. Die Ordnung und Leichtigkeit, alles vor sich zu haben, vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben, und wie ein Mensch, der übel haushält, sich in der Dunkelheit am besten befindet und die Summen nicht gerne zusammenrechnen mag, die er alle schuldig ist, so wird dagegen einem guten Wirte nichts angenehmer, als wenn er sich alle Tage das Fazit seines wachsenden Glückes ziehen kann. Selbst ein Unfall, wenn er ihn verdrießlich überrascht, erschröckt ihn nicht, denn er weiß sogleich, was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat. Ich bin überzeugt, mein lieber Bruder", fuhr er fort, "wenn du nur einmal einen rechten Geschmack an unsern Geschäften kriegen könntest, so würdest du finden, daß man viele Fähigkeiten des Geistes mit Nutzen und Vergnügen dabei anwenden kann." – "Es ist möglich", versetzte Wilhelm, "daß ich einige Neigung, ja vielleicht Leidenschaft für den Handel hätte fühlen können, wenn er mir nicht von Jugend auf in seiner kleinlichsten Gestalt bange gemacht hätte." – "Du hast recht", versetzte jener, "und die Schilderung des personifizierten Gewerbes in einem jugendlichen Gedichte, davon du mir erzähltest, paßt fürtrefflich auf die Krämerei, in der du erzogen bist, nicht auf den Handel, den du kennenzulernen keine Gelegenheit gehabt hast. Glaube mir, du würdest für deine feurigste Einbildungskraft Beschäftigung finden, wenn du die Scharen rühriger Menschen, die wie Ströme die ganze Welt durchkreuzen, wegführen und zurückbringen, mit dem Geiste erkennen solltest. Seitdem unser beiderseitiges Interesse so nahe verbunden ist, habe ich immer gewünscht, es möchten es auch unsere Bemühungen sein. Ich konnte dir nicht zumuten, in einem Laden mit der Elle zu messen, mit der Waage zu wägen; laß uns das durch unsere Handelsdiener nebenher betreiben und geselle dich hergegen zu mir, um durch alle Art von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und Wohlbefindens an uns zu reißen, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führet. Wirf einen Blick auf alle natürliche und künstliche Produkte aller Weltteile, siehe, wie sie wechselsweise zur Notdurft geworden sind; welch eine angenehme, geistreiche Sorgfalt ist es, was in dem Augenblick bald am meisten gesucht wird, bald fehlt, bald schwer zu haben ist, jedem, der es verlangt, leicht und schnell zu schaffen, sich vorsichtig in Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen Zirkulation zu genießen. Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf hat, eine große Freude machen wird. Aber freilich muß man erst in dieser Zunft Genosse werden, das dir wohl schwerlich an diesem Orte geschehen kann. Ich habe schon lange darüber nachgedacht, und es würde dir auf alle Fälle vorteilhaft sein, eine Reise zu tun."
Wilhelm schien nicht abgeneigt, und Werner fuhr fort: "Wenn du nur erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen solltest gesehen haben, so würdest du gewiß mit fortgerissen werden; wenn du siehst, wo alles herkommt, wo es hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts vor gering, weil alles die Zirkulation vermehrt, von der dein Leben seine Nahrung hat."
Werner, der seinen richtigen Verstand in dem Umgange mit Wilhelmen ausbildete, hatte sich gewöhnet, auch an sein Gewerbe, an seine Geschäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er es mit mehrerem Rechte tue als sein sonst verständiger und geschätzter Freund, der, wie es ihm schien, auf das Unreellste von der Welt einen so großen Wert und das Gewicht seiner ganzen Seele legte. Manchmal dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieser falsche Enthusiasmus müsse zu überwältigen und ein so guter Mensch auf den rechten Weg zu bringen sein. In dieser Hoffnung fuhr er fort: "Es haben die Großen dieser Welt sich der Erde bemächtiget und leben in Herrlichkeit und Überfluß von ihren Früchten. Das kleinste Fleck ist schon erobert und eingenommen, alle Besitztümer befestiget, jeder Stand wird vor das, was ihm zu tun obliegt, kaum und zur Not bezahlt, daß er sein Leben hinbringen kann; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigern Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten dieser Welt sich der Flüsse, der Wege bemächtigt und nehmen von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn, sollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen; sie führt freilich lieber den Ölzweig als das Schwert, Dolch und Ketten kennet sie gar nicht, aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne Verachtung jener gesagt, von echtem, aus dem Quelle geschöpften Golde und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre immer geschäftigen Diener geholt hat." Wilhelm, ob ihn dieser Ausfall, so gelinde er auch war, gleich ein wenig verdroß, war doch zu gutmütig, darauf zu antworten, und im Grunde konnte er wohl leiden, daß ein jeder von seinem Handwerke auf das beste dachte, wenn man ihm nur dasjenige unangefochten ließ, dem er sich zu widmen wünschte. Er nahm indes die Apostrophe des auf einmal feurig gewordenen Werners mit ebender Gelassenheit auf, wie jener die seinigen aufzunehmen pflegte.
"Und dir", rief Werner aus, "der du an menschlichen Dingen so herzlichen Anteil nimmst, was wird es dir für ein Schauspiel sein, wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt, das von einem reichen Fange frühzeitig zurückekehrt! Nicht der Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremder Zuschauer wird hingerissen, wenn er die Freude sieht:, mit welcher der eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz berührt, sich wieder frei fühlt und nunmehr das, was er dem falschen Wasser geraubt, der getreuen Erde anvertrauen kann. Wir leben im Gewinn und Verlust, und wenn uns beides nur in Zahlen zu Gesichte kommt, so macht uns das eine dunkle Furcht und dagegen das andere keine innerliche, herzliche Freude. Das Glück ist die Göttin der lebendigen Menschen, und um seine Gunst recht zu fühlen, muß man leben und Menschen sehen, die sich recht lebendig und sinnlich fühlen." Werner beschrieb dergleichen Szenen mehr, die seinen Freund lockten und aufmunterten. Er fühlte sich schon lange wieder munter und gesund, etwas zu unternehmen; zu Hause gefiel es ihm nicht, und er sann auf allerlei Gelegenheit, wie er sich in der Welt umsehen wollte, und was alles darinne zu treiben und anzufangen sein möchte. Es gefiel ihm daher ganz wohl, daß Werner von einer Reise sprach, und er antwortete: "Wenn du denkst, daß Geld zu dieser Ausgabe vorrätig sei und daß es gut angewendet sein möchte, so bin ich es gerne zufrieden. Ich möchte mich freilich auch gerne einmal ein wenig umsehen, und da du schon ziemlich herumgekommen bist, so wirst du am besten tun, mir einen Plan zu machen, dem ich willig folgen werde." – "So viel", versetzte Werner, "wirst du immer finden, als du brauchst, und nach meiner Rechnung soll deine Reise noch Geld einbringen." – "Das möchte so gar gewiß nicht sein", versetzte Wilhelm, "ob ich dabei so viel lerne, das Gelds wert sein möchte." – "So verstehe ich’s auch nicht", sagte jener. "Du kannst unterweges mit der größten Bequemlichkeit Geschäfte machen, die uns einträglich sind. Ich habe aus unsern Büchern neulich alle Schulden ausgezogen, die an allen Orten und Enden unserer Handlung zurückstehen; ich setze dir die nötigen Erläuterungen auf, gebe dir die Papiere mit, und du kannst auf deinem Wege spielend nicht allein dein Reisegeld überall mitnehmen, sondern mir auch von Zeit zu Zeit etwas schicken; denn es sind ansehnliche Summen drunter, die ich nicht ganz verloren gebe." – "Es ist freilich keine angenehme Beschäftigung", sagte Wilhelm, "Schulden zu mahnen." – "Es kommt nur auf die Gewohnheit an", sagte Werner, "und man wird leichter mit den Leuten fertig, als man denkt. Ich halte sehr viel auf die Gegenwart, man kommt viel schneller mit seinen Schuldnern auseinander und macht sich leicht neue Kunden; die Menschen wollen angetrieben sein. Wir müssen darüber weiter sprechen, und du wirst gar bald und gerne dich mit meinen Gedanken vereinigen. Der Vater ist es leicht zufrieden, es war ja schon vor deiner Krankheit die Absicht. Kommst du alsdann wieder, so hast du doch alles gesehen, hast die Leute kennenlernen und wirst dich endlich gewiß in Geschäften an meiner Seite gerne bearbeiten. In großen Städten siehst du dich um und besuchst die merkwürdigen Fabriken und Gebäude, findest abends gute Gesellschaften, auch ein wohleingerichtetes Theater, welches ich dir zu sehen wohl einmal gönnen möchte." Was hier Werner zuletzt vorbrachte, war das, woran Wilhelm zuerst gedacht hatte, und das schwerste Gewicht in seiner Waagschale. Sie wurden bald des Handels einig und das Nötige herbeigeschafft und besorgt.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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