> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 4. Buch 9.Kapitel

2019-10-11

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 4. Buch 9.Kapitel



Viertes Buch
Neuntes Kapitel

So überraschend wie die Untreue Marianens, so unleidlich wie jener Brief des unwürdigen Nebenbuhlers war ihm diese Nachricht und der Zustand, in den er durch sie versetzt wurde. Er hatte nun zum zweiten Male einer angebornen Leidenschaft folgen müssen, hatte sich unmerklich von ihr fortgezogen gesehen und war nun durch sie wieder in eine solche Verworrenheit, in einen solchen schmerzlichen und ängstlichen Zustand versetzt, es drückte von allen Seiten so scharf auf ihn zu, daß er den Schmerzen zu widerstehen oder sie zu ertragen nicht vermochte. "Wie!" rief er aus, "mußte ich von Jugend auf sachte gereizt, gelockt, geführt werden, um am Ende in diese Falle zu geraten, die so verderblich über mich zusammenschlägt?"

Er ergriff die Feder und ließ in einem Billette an seinen Freund von C. dem heftigsten Verdrusse freien Lauf. Er bat den braven Mann um Vergebung, daß er ihn in solche Verlegenheit versetzt, schalt sich und konnte nicht Worte genug finden, sich anzuklagen und seinen Schmerz zu bezeigen. Der Brief ward gleich fortgeschickt, und das Nachdenken und Sinnen ging von neuem an.

Er hatte Leiden von dieser Art noch nicht gekannt, denn selbst die erste rasche Verzweiflung und die nachklingende stille Trauer über das Unglück der Liebe haben etwas Reizendes, etwas Hinziehendes; man übergibt sich ihr gerne, anstatt daß die Seele jeden andern Verdruß, der ihr von äußern Dingen widerfährt, je eher je lieber abschüttelt. Auch war diese Zeit her unbemerkt in seine Seele ein männlicher Zug gekommen, ob er gleich übrigens noch ganz Jüngling war. Er fühlte mehr Zorn als Schmerz, und wenn ihm seine eigene Fehler lebhaft wurden, so war dies eben das, was ihn am meisten drückte. Durch ein freiwilliges Bekenntnis sich Luft zu verschaffen, setzte er sich hin, Wernern in den lebhaftesten Ausdrücken die ganze Geschichte zu erzählen, seine Torheiten zu bekennen und um Vergebung zu bitten. Er schloß seinen Brief mit der Versicherung, daß er nunmehr seine Reise weiter fortsetzen und sein angefangenes Geschäfte besser besorgen wolle. Er verhielt ihm nicht, wie viel Geld aufgegangen, glaubte aber, daß es doch am Ende wohl angewendet sei, weil er dafür teure Erfahrungen gemacht, welche ihm auf sein ganzes Leben nützlich sein würden.
Es war ihm recht wohl, wie er diese Bürde von der Brust hatte, er fühlte sich wie neugeboren, und ob ihm gleich der Verdruß über das schändliche Betragen des Publikums, wie es ihm vorkam, oft wieder zu Herzen kehrte, so setzte er sich doch gar bald wieder ins Recht, entschuldigte sich und vergab sich alles; dann überfiel es ihn aufs neue, er stampfte, knirschte mit den Zähnen, die Tränen kamen ihm in die Augen, bald schämte und faßte er sich wieder.

"Ist es möglich", sagte er zu sich selbst, "daß man eine Klasse von Menschen verachtet, die man überall willkommen heißt, deren Talente man rühmt und aufmuntert, deren Kunst zu sehen, zu hören, zu bewundern sich jeder mit Geld in Händen drängt! Welch ein Widerspruch! welch ein Unsinn!" So bewegt ging er auf und ab, und er würde sich wahrscheinlich aus dieser Lage herausgerissen haben, wenn ihm ein Freund oder das Schicksal eine hülfreiche Hand hätten bieten können. Unter dem Zusiegeln fand er mit großem Verdrusse, daß er einen Bogen genommen hatte, dessen letzte Seite schon halb beschrieben war. Dieses und die allzusehr vernachlässigte Handschrift des Briefes selbst veranlaßte ihn, das Papier liegenzulassen, um es des andern Tages mit Mühe abzuschreiben. Bald darauf trat sein Geschäftsträger Melina herein. Das heitere Gesicht dieses Freundes verkündigte etwas Gutes. "Ich habe mich", sagte er, "mit der übrigen Truppe besprochen, und wir sind über einen Plan einig geworden, der, wenn Sie ihn billigen, unserm Zustande eine neue Gestalt geben kann." – "Was sind Ihre Gedanken?" fragte Wilhelm. – "Man traut mir zu", versetzte jener, "daß ich die Verwaltung des Theaters mit Klugheit und Treue führen werde. Die Prinzipalin sieht wohl, daß sie abgehen und ihrem Liebhaber folgen muß. Ich will die Garderobe gegen eine billige Taxe übernehmen und dafür Ihr Schuldner werden. Die Bude ist, wie wir uns nun unterrichtet haben, balde wieder herzustellen, das Publikum läßt sich leicht versöhnen, wir hoffen eine glückliche Ausbeute und wünschen nichts sehnlicher als unsern edeln Gläubiger balde und völlig zu befriedigen."
Als sich Wilhelm nach dem baren Gelde erkundigte, das sich vorgefunden hatte, mußte er leider vernehmen, daß es meist zur Befriedigung der Akteurs, Handwerker und des Wirtes hingegeben werden müsse; ganz entblößen könne sich der neue Prinzipal auch nicht, und Wilhelm sah bald ein, daß er von seinem vorgeschossenen Gelde wenigstens für diesmal nichts zurückerhalten würde. Er hatte auch darauf keine sonderliche Rechnung gemacht, sondern suchte und hoffte nur, mit dem wenigen, was ihm übrigblieb, seine Reise fortzusetzen und an Orte zu gelangen, wo es ihm an Geld und Kredit nicht fehlen konnte.

Da Wilhelm des andern Tages den gestrigen Brief mit mehrerer Ruhe und Fassung durchsah, schien er ihm zu übertrieben, zu leidenschaftlich. "Was wird Werner von dir denken", sagte er, "daß du dich so albern gebärdest, und was hast du nötig, selbst deinen eigenen Unfall und ein Verhältnis auszuschwätzen, das dir doch in der Folge schädlich werden könnte." Der Brief wurde nicht abgeschrieben, vielmehr zerrissen, und er nahm sich vor, Wernern auf eine klügere Weise nur von dem zu unterrichten, was er zu wissen brauchte. Eine gutherzige, gelinde und verständige Antwort des Herrn von C. befestigte diese Gedanken noch mehr und beruhigte ihn für Augenblicke, denn bald fing seine Seele wieder an, die Schmerzen, den Verdruß von neuem vorzunehmen, durchzuarbeiten und womöglich Herr darüber zu werden.

Mignon war bisher ganz von ihm außer acht gelassen worden, sosehr sich das Kind vor wie nach ihm mit Aufmerksamkeit zu dienen mühte. Da sie merkte, daß sich Wilhelm zur Reise anschickte, war sie fröhlich und außerordentlich geschäftig. "Dein Koffer ist nicht groß", sagte sie, "ein Maultier kann ihn recht gut tragen." – "Wie, mein Kind?" sagte Wilhelm. – "Wenn wir über den Berg gehen", versetzte die Kleine. Sie war ihm aus der knechtischen Entfernung nach und nach ein wenig nähergekommen. Wenn sie ihn abends aufwickelte und morgens frisierte, machte sie es freilich nicht zum geschicktesten und hielt sich länger, als es ihm lieb war, auf, die Haare auszukämmen und zu streicheln, und kehrte sorgfältig an ihm, wenn sie ein Fleckchen oder Stäubchen erblickte. Sie stund, wenn er schrieb oder las, manchmal vor ihm oder setzte sich still an seinen Sessel auf die Erde nieder. Wenn er sie ansah, glaubte er eine glühende, unter der Asche verglühende Kohle zu erblicken. Gegenwärtig war sie munter und rührig, ihre Seele war in Bewegung, sie schien einer angenehmen Veränderung entgegenzusehen. Wilhelm fühlte wohl, daß sie mit ihm zu reisen hoffte, es war ihm ein neuer Kummer und ein Stein auf dem Herzen.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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