Zweites Buch
Welch schöner, hoher Tag verdrängt die süße Nacht,
Weckt mich vom Schlummer auf? Ein Tag der Lust und Pracht!
Die Liebe hielte mich in sanftem Arm gebunden,
Nun ruft die Freude mir zu neuen, goldnen Stunden;
Von Jubel tönt die Stadt, es tönet das Gefild
Im Morgensonnenglanz wie Memnons Zauberbild.
Ich höre Lied um Lied aus tausend Kehlen dringen,
Die ihres Königs Preis und Glück dem König singen.
Einstimmig ladet’s mich von allen Seiten ein,
Der Glücklichste des Volks, den Göttern gleich zu sein.
Laßt jede Stunde so des Lebens mir verfließen,
Was bleibt dem Wunsche mehr? ich hab’s und will’s genießen.
Rein wie der Himmel sei mein ungetrübtes Glück!
Was steigst du Wolke dort? Verbirg dich meinem Blick!
Wie? soll die Herrlichkeit des Fests mir Einzgen prangen
Und tief in meiner Brust des Donners Ahndung bangen?
O schwaches Menschenherz, o leicht gefangner Geist,
Du schwillst, du steigst empor, wie dich’s ein Schmeichler heißt.
Ein Volk auf seinen Knien kann deinen Stolz entzücken
Und sein Gehorsam dich, der du gebietst, berücken;
Und wann der Lüfte Macht nur dich entzündend schlägt,
Beugst kindisch du das Haupt, das frech die Krone trägt.
O Glück, das du dich mir, der Liebsten gleich, ergeben,
Komm auf der Morgenluft, mich freundlich zu umschweben!
In deinem Arm allein genieß ich froh und leicht,
Was die Geburt mir gab und was du mir gereicht.
Wie schweift mein Geist umher und dringt nach allen Seiten,
Mein ungeheures Reich noch weiter auszubreiten,
Mit hohem Siegerschritt durch alle Welt zu gehn,
Am letzten Meere nur unwillig stillzustehn.
Und doch hat sich umsonst mein Herz so hoch erhoben,
Hier ruft’s: "Du bist nicht Herr! erkenne jenen droben!"
Dein Sklave blickt herauf, du scheinst ihm herrlich groß,
Sieh du auf ihn herab, sein Los ist auch dein Los.
Mag stolz dein golden Bild in hundert Tempeln thronen,
Du brauchst nur engen Raum, un endlich still zu wohnen.
Beherrschest du den Tag? die Freude? den Verdruß?
Es reißt die Zeit dich hin, wohin ein jeder muß.
Er nur alleine lebt, und er wird ewig leben,
Der Himmel trägt ihn kaum, fühlt unter ihm sich beben;
Im Wetter eingehüllt, tritt er mit Macht hervor,
Der Donner bringt sein Wort in mein betäubtes Ohr.
Es tönt: "Du bist ein Staub, den ich im Sturm verwehe,
Du bist, o Herrlicher, die Blume, die ich mähe."
Amelie mußte ihrem Manne verschiedene Verse zweimal vorsagen, die er sehr lobte und selbst im Gedächtnis zu behalten wünschte. Nach der Zurückkunft des Bruders fing ein Streit von neuem an, ohngefähr demjenigen gleich, den wir im vorigen Kapitel erzählt haben. Die Schwester sprach von dem Stücke mit Entzücken, Werner gab ihr im voraus Beifall, weil er vermutete, daß das Ganze so wie der Monolog geglückt sein werde.
Wilhelm hatte viel daran auszusetzen, und weil ihm, da er sprach, viele Sachen gegenwärtig waren und er ein Resultat mancher Betrachtungen, welche die andern nicht selbst gemacht hatten, behauptete, da ihm vertrauliche Werke der Dichtkunst vor der Seele standen, mit denen er die seinigen verglich, und als ein Künstler von den innern Federn, die ein Stück in Bewegung setzen, mit Leuten sprach, die nur nach Wirkungen, die auf sie gemacht werden, urteilten, so war es ohnmöglich, daß er sie überzeugte, besonders da sie, wenn man es genau betrachtete, alle drei würklich recht hatten.
Er unterließ aber doch nicht, seinen Lieblingsgrundsatz aber- und abermals einzuschärfen, daß im Drama die Handlung, insofern sie vorgeht und vorgestellt werden kann, die Hauptsache sei, und daß Gesinnungen und Empfindungen dieser fortschreitenden Handlung völlig untergeordnet werden müssen, ja, daß die Charaktere selbst nur in Bewegung und durch Bewegung sich zeigen dürfen. Man gab ihm das zu und führte gleich darauf Beispiele an, die das Gegenteil bewiesen. Zuletzt versicherte er, daß er seine bisherigen Arbeiten deswegen durchaus verachte, weil sie sich alle durch diesen Fehler auszeichneten. "Sie sind", sagte er, "wie Leute, die niemand schätzt, weil sie viel schwätzen und wenig tun." Amelie war darüber empfindlich und sagte scherzend: "Zeige doch nur auch von deinen neuen Sachen etwas vor, die du gemacht hast, seitdem du so gelehrt worden bist." – "Das werde ich nicht", versetzte Wilhelm, "denn ich halte, was ich nach meiner neuen Erkenntnis arbeite, für ziemlich gut und fürchte doch immer, ob ich gleich weiß, daß ich auf dem rechten Weg bin, ich möchte nicht Kräfte haben, darauf fortzukommen, oder in der Folge, ohne die Leitung eines geschickten Meisters, mich abermals und noch gefährlicher verirren. Meine alten Sachen geb ich euch zu Lob und Tadel preis, laßt über den gegenwärtigen mich noch im Geheimnisse brüten. Das Publikum macht selbst die Meister irre; wir Schüler können, vom Winde hin und her getrieben wie junge, schlanke, erst gepflanzte Bäume, gar nicht Wurzel fassen und laufen Gefahr zu verdorren. Dafür will ich euch zum Beschluß die Fragmente eines kleinen Aufsatzes lesen, der in meiner Schreibetafel ist und die mir mein Freund auf verschiedene Fragen zusandte, die ich ihm über dramatische Gegenstände tat. Man hat oft unter den Kritikern gehandelt, ja wohl gestritten, woher das Gefallen komme, das der Mensch am Drama, besonders am Trauerspiele hat. Man hat über den Gegenstand desselben und seine Absicht verschiedene Meinungen gehegt; hier werdet ihr philosophische Gedanken hören, die zwar etwas weither anzufangen scheinen, doch manches über diese Materie denken lassen." Wilhelm suchte das Blatt auf und las:
"Der Mensch ist durch seine Natur und durch die Natur der Dinge zu verschiedenen Schicksalen bestimmt; Lust und Schmerz, Glück und Unglück in ihren höchsten Graden sind ihm gleich entfernt und gleich nah. Von dem Übeln, von dem Guten ist ihm, wenn ich es so nennen darf, eine Vorahndung gegeben, die zugleich innigst mit der Kraft verbunden ist, die Bürden des Lebens auf sich zu nehmen und zu tragen.
Jede Seele wird in dem Gange der Tage zu dem, was ihr bevorsteht, mehr oder weniger zubereitet, so daß ihr meistens das Außerordentliche, wenn es vorkommt, besonders sobald die ersten Augenblicke der Überraschung vorüber sind, gewöhnlich bekannt und erträglich scheint; und ob ich gleich nicht leugnen will, daß viele bei unvermutetem Glück und Unglück sich sehr ungebärdig stellen, so finden wir doch auch, daß manche, denen wir sonst die Stärke der Seele nicht zuschreiben können, ein seltnes Glück mit Gleichmut und ein hereinbrechendes Unglück mit Gelassenheit auf sich nehmen. Wir sehen oft Menschen, die durch nichts Außerordentliches bezeichnet sind, Schmerzen, Krankheit, Verlust der Ihrigen mit stiller Standhaftigkeit ertragen und selbst dem eigenen Tode als etwas Bekanntem und Notwendigem entgegengehen.
Daß die Vorahndung des Guten bei allen Menschen mit dem Wunsche, es zu besitzen, verbunden sei, ist natürlich und fällt bald in die Augen; daß aber auch der Mensch eine Art Lüsternheit nach dem Übel und eine dunkle Sehnsucht nach dem Genusse des Schmerzens habe, ist schwerer zu bemerken, mit andern Gefühlen verwandt, unter andern Symptomen verhüllt, die uns leicht von unserer Betrachtung abführen können.
Es ist lange gesagt worden, daß der gleichgültige Zustand derjenige sei, dem der Mensch am meisten zu entfliehen suche. Sobald Seele und Körper durch Schlaf und Ruhe in den Zustand der Behaglichkeit versetzt sind, so verlangen beide wieder, sich zu regen, zu würken, gereizt, gerührt und so ihres Daseins gewahr zu werden. Tausendfältig ist das Verlangen, diesen Reiz zu genießen; der einfache Mensch bedarf des einfacheren, geringeren, schwächeren, der ausgebildete des mannigfaltigern, stärkern, wiederholtern. Diese Begierde ist so gewaltig, daß sie selten in den Grenzen ihrer Kräfte bleibt und daß selbst der Mäßigscheinende zwar nicht jeden Tag seines Lebens betrunken schließt, doch aber die ganze Summe seines Daseins früher, als es bestimmt war, aufzehrt.
Von jedem, was dem Menschen Sonderbares begegnet, wird er innig gerührt. Ein Übel, das vorüber ist, wird ihm zu einem Schatze der Erinnerung für sein ganzes Leben. Was andern Sonderbares widerfährt, davon sind die Geschichten höchst willkommen, sie seien nun aus der vergangnen Zeit aufbewahrt, oder sie werden zu uns als Neuigkeiten von fremden Weltgegenden herübergebracht. Am stärksten aber wird das Volk gerührt von allem, was unter seine Augen gebracht wird. Weit mehr als, eine ausführliche Beschreibung zieht ein gesudeltes Gemälde, ein kindischer Holzschnitt den dunkeln Menschen an. Und wie viel Tausende sind, die in dem vortrefflichsten Bilde nur das Märchen erblicken. Die großen Bilder der Bänkelsänger drücken sich weit tiefer ein als ihre Lieder, obgleich auch diese die Einbildungskraft mit starken Banden fesseln.
Was kann nun einen größern Eindruck auf die Menge machen, als wenn der Held selbst gleichsam vor ihnen aus dem Grabe aufersteht, vor ihnen handelt, spricht, sein Innerstes entdeckt, leidet und in der erdichteten Gefahr zuletzt umkommt? Wie viel Tausende werden unwiderstehlich nach einer Exekution, die sie verabscheuen, hingerissen, wie ängstet sich die Brust der Menge für den Übeltäter, und wie viele würden unbefriedigt nach Hause gehen, wenn er begnadigt würde und ihm der Kopf sitzen bliebe? Das sprudelnde Blut, das den bleichen Nacken des Schuldigen färbt, besprengt die Einbildungskraft der Zuschauer mit unauslöschlichen Flecken; schaudernd, lüstern blickt die Seele wieder nach Jahren zu dem Gerüste hinauf, läßt alle fürchterliche Umstände wieder vor sich erscheinen und scheut es sich selbst zu gestehen, daß sie sich an dem gräßlichen Schauspiele weidet. Viel willkommner sind jene Exekutionen, welche der Dichter veranstaltet.
Der gesunde Mensch kann durch nichts gerührt werden, daß nicht zugleich die Saiten seines Wesens erschüttert werden sollten, von denen die entzückenden Harmonien des Vergnügens auf ihn herabströmen. Und selbst grausame, zerstörende Begierden, worüber man sich auch bei Kindern entsetzt, die man durch Strafen zu vertreiben sucht, haben geheime Wege und Schlupfwinkel, wodurch sie zu den allersüßesten Vergnügungen hinübergehen. Alle diese innerlichen Gänge und Wege werden durch Schauspiele, besonders durch die Tragödie mit elektrischen Funken durchschüttert, und ein Reiz ergreift den Menschen; je dunkler er ist, je größer wird das Vergnügen.
Die Begriffe, die sich Menschen von Menschen und Dingen machen, sind so dunkel, so verwirrt, so unvollständig, daß ein albernes Quiproquo sie im mindesten nicht irrt. Karl XII. wird an seinen Stiefeln und zugeknöpftem Rock, vorzüglich aber an seinen straupigen Haaren, Heinrich IV. an seinem Knebelbart und Halskrause erkannt, und man nimmt die widersprechendsten Repräsentanten gerne für die abgeschiedne Majestät. Und ich behaupte sogar, daß, je mehr das Theater gereinigt wird, es zwar verständigen und geschmackvollen Menschen angenehmer werden muß, allein von seiner ursprünglichen Würkung und Bestimmung immer mehr verliert. Es scheint mir, wenn ich ein Gleichnis brauchen darf, wie ein Teich zu sein, der nicht allein klares Wasser, sondern auch eine gewisse Portion von Schlamm, Seegras und Insekten enthalten muß, wenn Fische und Wasservögel sich darin wohlbefinden sollen.
Indem ich die Feder niederzulegen genötigt bin und auf das, was ich geschrieben, zurücksehe, so sehe ich, daß ich so verworren und unvollständig bin als irgend einer, der eine solche Materie zu behandeln gewagt hat. Lassen Sie durch diese flüchtige Gedanken nur bei sich Gedanken erregen. Vielleicht sprechen wir nächstens über das Possenspiel und ihre vornehme Tochter, die Komödie. Dabei dürfen wir, wenn wir auf den Grund kommen wollen, weder Zigeuner noch Bärentanz noch die gefährlichen Sprünge und Verdrehungen herumziehender Wagehälse vergessen."
Unsere Freunde waren eben im Begriffe, jeder nach seiner Art, den schweren Stein dieser Lektüre anzufassen, zu wälzen und womöglich ihm einige seiner scharfen Ecken abzuschlagen (denn so ist meistenteils der Leser gebildet, daß er jede Sache gerne rund in seine Hände nehmen möchte, um sie recht mit Bequemlichkeit zu betrachten und nachher wie eine Kegelkugel zu seiner Absicht vor sich hinzurollen), als sie durch eine Erscheinung unterbrochen wurden, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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