> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 5. Buch 11.Kapitel

2019-10-13

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 5. Buch 11.Kapitel




Fünftes Buch
Eilftes Kapitel

Je wohler es nunmehr der Truppe ging, je besser sie zu essen und zu trinken bekam, desto mehr zeigte sich ihre innere Natur eben nicht zu ihrem Vorteile. Sie erhielten außer der völligen Verköstigung noch wöchentlich ein Gewisses, und da sie für den Augenblick nichts brauchten, hatten sie immer etwas Geld in der Tasche und wußten vor Übermut nicht, wie sie sich lassen sollten. Der kluge Melina benutzte das bißchen Barschaft, das ihm übrigblieb, um sich anständig zu equipieren. Er kaufte vom Kammerdiener des Grafen einige Kleider und wußte sich gar ordentlich vom Kopf bis zum Fuße auszustaffieren.

Unglücklicherweise für sie alle war die Armee genötiget, weiter vorzurücken und die Gegend zu verlassen. Der Prinz machte Anstalten zum Aufbruche, und da er sich im Schlosse sehr freigebig bewies, wußte es die Baronesse dahin zu vermitteln, daß für Wilhelm eine goldne Uhr bestimmt wurde, welche zwar von keinem großen Werte war, doch immer von der Aufmerksamkeit zeigen sollte, womit man das Vorspiel, so er zu Ehren des Fürsten gefertigt, aufgenommen. Die Baronesse wußte sie ihm selbst zuzustellen und ihre Freundschaft dabei auf eine feine Weise gelten zu machen. Jarno schickte etliche Male vor der Abreise zu ihm und suchte ihn auf, allein er hatte sich fest vorgenommen, dem gefühllosen Weltmann aus dem Wege zu gehen. Der Prinz reiste fort, und das Schloß ward leer.

Einige von der Truppe hatten nun wirklich den Gedanken, man würde sie aus dem alten in das neuere Schloß quartieren und ihnen bessere und bequemere Zimmer anweisen. Wie sehr wurden sie daher in ihrer Hoffnung getäuscht, als ihnen angekündigt ward, daß sie nach Verlauf von acht Tagen sich wieder aus diesem Paradiese wegzubegeben hätten.

Philine tat ihr möglichstes, unsern Helden während der Zeit noch einmal auf das Theater zu bringen, allein vergebens; dagegen legte sie es an, daß er einige Kabinettsvorlesungen halten mußte, wobei er sich sehr wohl betrug und in der Gunst der Damen befestigte. Er spürte bei seinem Abschiede davon unleugbare Proben, indem sie ihm einen Beutel, den sie selbst gestrickt hatten, mit dreißig Dukaten anboten. Ein Teil dieser Summe war ihm als Geschenk vom Hausherrn zugedacht, worzu aber die Damen, weil es ihnen zu gering schien, etwas aus ihrem Beutel zugelegt hatten. Er schlug dieses Anerbieten, als es ihm geschah, hartnäckig aus, daß endlich Philine ins Mittel trat, sich schalkhaft verneigte und der Baronesse den Beutel aus der Hand nahm. "Ich muß Ihnen wohl, meine Gnädigen", sagte sie, "in seinem Namen danken und für die Zukunft seine Schatzmeisterin sein. Er hat auf unserer Reise so redlich seine letzte Barschaft vor uns ausgegeben, daß ich mich für verpflichtet halte, gleichfalls für ihn Sorge zu tragen." Man kam über diesen Einfall ins Scherzen, und weil die Gräfin eben in ihrem Schreibtisch kramte und Philine ihr wohl abgemerkt hatte, daß sie teils Wilhelmen im stillen nicht abgeneigt war, teils daß ihr manchmal wie einem Kinde die Lust alles zu verschenken ankam, so brachte sie es mit der lustigsten Unverschämtheit gar leicht dahin, daß ihm die Dame noch ein goldnes Etui, einen artigen Ring und einige andere artige Sachen von Wert schenkte, die Philine auf sein Weigern jederzeit mit einer neckischen Wendung einsteckte und die Damen sehr unterhielt, indem sie sie plünderte. Wilhelm, dem es endlich zur Last wurde, beurlaubte sich, um auch von seiner Seite Anstalten zur Reise zu machen. Philine folgte ihm bald ins Schloß, wo sie ihn in einiger Verlegenheit fand, wohin er seine Kleider und Geräte packen sollte, denn er hatte gutwillig seinen Koffer an Madame Melina abgetreten, deren Garderobe durch Gunst der Herrschaften während ihres Aufenthaltes sehr zugenommen hatte. Als er sich umkehrte, faßte Philine gleich die besten Stücke und trug mit Hülfe des blonden, blauaugigen Schelmen, der ihr auf jeden Wink zu Gebote stand, die meisten Habseligkeiten hinüber in das neue Schloß und ließ ihm sagen, sie werde alles in ihren Koffer packen. Sie konnte es auch leicht tun, denn der Stallmeister hatte nicht allein für sie, daß sie reichlich beschenkt ward, gesorgt, sondern er hatte ihr auch einen trefflichen Koffer verschafft, damit sie alles auf das beste und sicherste wegbringen könnte. Wilhelm, dem jeder Dienst von ihr verdrießlich war, begegnete ihr mit Unwillen, wobei er weiter nichts ausrichtete, als daß sie ihn auslachte und ihm, wenn er sich nicht beruhigte, mit einer Umarmung drohte. Er mußte also das tolle Geschöpf gewähren lassen und sich glücklich preisen, wenn sie ihn nur sonst im Frieden ließ.

Die Frage entstand nun, wie man reisen, welchen Weg man nehmen und wie man bei diesen gefährlichen Kriegsläuften sicher nach H*** gelangen wollte, wohin man den Weg fortzusetzen beschlossen hatte. Der größte Teil dieser Besorgnis war schon durch den Herrn Grafen selbst gehoben worden, denn es hatte derselbe genau überlegt, bis wohin er sie mit seinen eignen Leuten fahren lassen könnte; er hatte ihre Reiseroute von Ort zu Ort aufgesetzt und für sie bei dem Fürsten einen Paß erbeten, der sie auch durch die Arrieregarde sicher geleiten sollte. Er erklärte diesen Plan dem Direktor und ließ sich versprechen, daß man ihn genau befolgen wolle. Das Schloß wurde immer leerer, der Tag, der zu der Abreise des Grafen selbst bestimmt war, kam herbei, und die Gesellschaft mußte sich denn auch zu scheiden bequemen. Es ging ihnen hart ein, denn sie erinnerten sich ihrer ganzen Lebenszeit über keiner so guten Tage. Indessen, da sie alle beschenkt, mit leidlichen Umständen des Säckels davonreisten, schied der meiste Teil in der Hoffnung, sich anderwärts ein ähnliches gutes Leben verschaffen zu können. Mit großer Mühe, nicht ohne Zwistigkeit, waren sie endlich mit ihren Sachen auf- und eingepackt. Der Stallmeister nahm zärtlich von Philine, der Sekretär freundschaftlich von allen Abschied, und so trat man wieder eine Reise an, ohne eigentliche Aussicht eines Unterkommens, aber mit desto mehr Gewißheit eigener Vorzüge und eines Verdienstes, das überall geehrt zu werden die gerechteste Ansprüche hatte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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