Fünftes Kapitel
Die Kinder haben in einem wohleingerichteten und geordneten Hause eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuse haben mögen, sie sind aufmerksam auf alle Ritze und Löcher, wo sie zu einem verbotenen Naschwerke gelangen können; sie genießen's mit einer verstohlenen, wollüstigen Furcht, und ich glaube, daß dieses ein großer Teil des kindischen Glücks ist. Wilhelm war vor allen seinen Geschwistern aufmerksam, wenn irgend ein Schlüssel steckenblieb. Je größer die Ehrfurcht war, die er für die verschloßnen Türen in seinem Herzen herumtrug, an denen er wochen- und monatelang vorbeigehen mußte und in die er nur manchmal, wenn die Mutter das Heiligtum öffnete, um was herauszuholen, einen verstohlnen Blick tun durfte, desto schneller war er, einen Augenblick zu benutzen, den ihn die Nachlässigkcit der Wirtschafterin manchmal treffen ließ. Unter allen Türen war, wie man leicht erachten kann, die Türe der Speisekammer diejenige, auf die seine Sinnen am schärfsten gerichtet waren. Wenig ahndungsvolle Freuden des Lebens glichen der Empfindung, wenn ihn seine Mutter manchmal hereinrufte, um ihr etwas heraustragen zu helfen, und er dann einige gedörrte Pflaumen entweder ihrer Güte oder seiner List zu danken hatte. Die aufgehäufte Schätze übereinander umfingen seine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und selbst der unangenehme Geruch von so mancherlei Ausdünstungen durcheinander, als da sind: Seife, Licht, Zitronen und mancherlei alte und neue Büchsen, hatte so eine leckere Wirkung auf ihn, daß er niemals versäumte, sooft er in der Nähe war, sich an der eröffneten Atmosphäre auf einige Schritte wenigstens von ferne zu weiden. Dieser merkwürdige Schlüssel blieb einen Sonntagmorgen, da seine Mutter von dem Geläute übereilt ward und das ganze Haus in einer tiefen Sabbatstille lag, stecken. Kaum hatte es Wilhelm bemerkt, als er etlichemal sachte davor auf- und abging, sich endlich still und fein andrängte, die Türe öffnete und sich mit einem Schritt in der Nähe so vieler langgewünschter Glückseligkeit fühlte. Er besah Kästen, Säcke, Schachteln, Büchsen, Gläser mit einem schnellen, zweifelnden Blick, was er wählen und nehmen sollte, grift endlich nach den vielgeliebten dürren Pflaumen, versah sich mit einigen getrockneten Äpfeln und nahm genügsam noch eine eingemachte Pomeranzenschale dazu, mit welcher Beute er seinen Weg wieder rückwärtsglitschen wollte, als ihm ein paar nebeneinander stehende Kasten in die Augen fielen, aus deren einem ein paar Drähte, oben mit Häkchen versehen, durch den übel verschlossenen Schieber heraushingen. Ahndungsvoll fiel er darüber her, und mit welcher überirdischen Empfindung entdeckte er, daß darinnen seine Helden- und Freudenwelt aufeinandergepackt sei. Er wollte die obersten aufheben, betrachten, die untersten hervorziehen, allein gar bald verwirrte er die leichten Drähte, kam darüber in Unruh und Bangigkeit, besonders da er die Köchin in der benachbarten Küche einige Bewegung machen hörte, daß er alles, so gut er konnte, zusammendrückte, seinen Kasten zuschob und nur ein geschriebenes Büchelchen, darin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war und das obenauf gelegen hatte, zu sich steckte und sich mit dieser Beute leise die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete. –
Von der Zeit an wandte er alle verstohlene, einsame Stunden drauf, sein Schauspiel hin und wider zu lesen, es auswendig zu lernen und sich in Gedanken vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn er auch die Gestalten dazu mit seinen Fingern beleben könnte; er ward darüber in seinen Gedanken selbst zum David und zum Goliath, spielte beide wechselsweise vor sich allein, und ich kann im Vorbeigehen nicht unbemerkt lassen, was vor einen magischen Eindruck Böden, Ställe und heimliche Gemächer auf die Kinder zu machen pflegen, wo sie, von dem Druck ihrer Lehrer befreit, sich fast ganz allein selbst genießen, eine Empfindung, die sich in spätern Jahren langsam verliert und manchmal wiederkehrt, wenn die Orte unsaubrer Notwendigkeit eine geheime Kanzlei für unglücklich Liebende abgeben müssen. An solchen Orten und unter solchen Umständen studierte Wilhelm das Stück ganz in sich hinein, ergriff alle Rollen und lernte sie auswendig, nur daß er sich meist an den Platz der Haupthelden zu setzen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtnis so mitlaufen ließ. So lagen ihm die großmütige Reden Davids, mit denen er den übermütigen Riesen Goliath herausfoderte, Tag und Nacht im Sinn, er murmelte sie oft vor sich hin, niemand gab acht drauf, als daß sein Vater, der es hier und da bemerkte, bei sich selbst das gute Gedächtnis des Knaben pries, der von so wenigem Zuhören so mancherlei habe behalten können.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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