> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 3. Buch 7.Kapitel

2019-10-08

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 3. Buch 7.Kapitel



Drittes Buch
Siebentes Kapitel

Da man zusammen in einem Hause wohnte und Gelegenheit hatte, sich jederzeit zu sehen, wurde man bald vertrauter, und die beiden Frauens nahmen Wilhelmen in die Mitte, jede suchte ihn anzuziehen, jede fand ihn angenehm, und daß man spürte, er habe Geld und sei nicht karg, sprach sehr mit zu seiner Empfehlung. Er, ohne daß die mindeste Zärtlichkeit sich in seine Empfindung gemischt hätte, befand sich zwischen beiden Weibern sehr behaglich. Madame de Retti erweiterte seinen Geist und vermehrte seine Kenntnisse, indem sie ihm von sich, ihren Talenten, Unternehmungen und Schicksalen sprach. Madame Melina zog ihn an, indem sie von ihm zu lernen und sich nach ihm zu bilden suchte. Jene erwarb sich unmerklich eine Gewalt über ihn durch ihren entschiedenen und herrischen Charakter, diese durch ihre Gefälligkeit und Nachgiebigkeit, so daß er bald allein von beider Willen abhing und ihm beider Gesellschaft höchst notwendig wurde. Es währte nicht lang, so wurde man bekannter und vertrauter. Wilhelm verschwieg Madame Melina seine Leidenschaft zu Marianen nicht und fand in einer schmerzhaften Wiederholung seiner Geschichte das größte Vergnügen. Der Prinzipalin entdeckte er die Geheimnisse seiner Autorversuche, rezitierte ihr Stellen aus seinen Stücken, die von ihr mit großem Lobe und mit vorteilhaften Vergleichungen aufgenommen wurden. Dagegen hatten sie ihm nichts als ihre Finanzgeheimnisse zu entdecken, dabei jene ganz aufrichtig zu Werke ging, diese aber nicht mehr offenbarte, als sie glaubte, daß rätlich sei.
Sie hatten sich oft und so weitläufig über das Geistreiche und Vortreffliche der Kunst unterhalten, und in der Ausführung blieben sie leider immer weit zurück. Der Mißstand schlechter und ungehöriger Kleider fiel Wilhelmen, der sehr viel auf das Kostüm hielt, am meisten auf. Madame Melina zuckte die Achseln und gestand ihm, daß ihre besten Sachen, und zwar für eine Kleinigkeit von funfzig Talern, versetzt seien, wovon die Juden ihr nur zur Not manchmal zu einem Abend der Aufführung ein Stück wieder verabfolgen ließen, welches sie teuer bezahlen müsse. Kaum erfuhr dies Wilhelm, als er mit sich zu Rate ging, und er fand gar bald Anlaß und Ursache genug, diese Summe an seine gute Freundin zu borgen, besonders da er durch ihr Versprechen, ihn auf das baldigste wieder zu bezahlen, gesichert ward.

Der Pfandinhalter wurde herbeigerufen, es fanden sich auch noch einige Sachen des Herrn Gemahls dabei, es waren Interessen zu berichtigen, so daß es sich über siebenzig Taler belief, die er jedoch gerne hinzahlte. Diese großmütige Handlung blieb, wie natürlich, nicht verschwiegen, und Madame de Retti fand es bequem, auch von diesen Gesinnungen Vorteil zu ziehen. Denn wie wir schon oben gehört haben, stand es wirklich mit ihr auf dem schlimmsten. Sie hatte auf ihrer ganzen Fahrt durch die Welt mit allen ihren Talenten wenig erobert und nichts gespart. Was sie an großen Orten zu Zeiten des Glückes erworben hatte, ging auch sogleich in lustigem Leben wieder fort. Ihr unruhiger Charakter ließ sie von glücklichen Umständen wenig Vorteil ziehen, und ihr herrschsüchtiges und unbiegsames Wesen konnte sich in bösen Zeiten zum Nachgeben und zur Gefälligkeit nicht herabstimmen. Sie hungerte oft als Prinzipalin, wo sie als untergebene Aktrice einer andern Truppe ein reichliches Auskommen hätte finden können.

Man sprach von verschiedenen Trauerspielen und andern wichtigen Stücken, die man dem neuen Gaste zu Ehren gern gegeben hätte. Man ließ ihn merken, daß er sowohl Kenner als Liebhaber und Beschützer des Theaters sei; man wiederholte es von allen Seiten und wußte es so zu bringen und zu legen, daß er sich endlich entschloß, auch hier der bedrängten Schauspielkunst, die er so oft in Prologen durch den Apollo hatte beschützen sehen, in eigener Person zu Hülfe zu kommen. Er sagte sich vor, daß er auf das Geld, welches er einkassieret, auch wieder einiges Recht habe, um es gelegentlich anzuwenden, daß es doch nur wie verloren Geld sei, daß er auf seiner Reise wieder sparen wolle und daß es ja auch hier sicher genug stehe, indem man ihm die ganze Garderobe zu verschreiben versprach. Es wurde ihm nunmehro ganz leicht, seiner bedrängten Freundin dreihundert Taler zuzusagen und letzt vierhundert Taler auszuzahlen. Herr Melina, der zuerst von diesem Handel abzuraten schien, übernahm nunmehro die Legalität desselben, ließ einen Notarius kommen und die Verschreibung in bester Form ausfertigen. Dadurch wurden die gefangenen Helden und Sultanen befreit, die reichen Kleider los, es kam ein Leben unter die Truppe, die Abwechselung ihrer Stücke zog Zuschauer herbei, die Einnahme war stärker als jemals, Wilhelm schoß noch einiges Geld zu, um die alten Dekorationen aufzufrischen, man faßte neuen Mut; Madame de Retti, indem sie ihren heimlichen Gläubigern hier und da etwas abtragen konnte, erhielt wieder Kredit, man aß, man trank, lebte herrlich und in Freuden, versicherte und schwur, daß man in dieser Jahreszeit – der Frühling war schon weit vorgerückt – noch niemals eine so glückliche Theaterepoche erlebt habe.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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