> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 20.Kapitel

2019-10-05

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 20.Kapitel





Erstes Buch
Zwanzigstes Kapitel

Mariane, die ihn immer lieber gewann, war indes in einem erbärmlichen Zustand. Die Freigebigkeit ihres reichen Liebhabers war durch seine Abwesenheit nicht unterbrochen worden, und nun hatte er ihr mit Überschickung eines Stück Nesseltuchs zum Nachtkleide seine nächste Ankunft gemeldet.

Sie war schon oft in Verlegenheit gewesen und konnte in das Schicksal des folgenden Tages wie in eine trübe Ewigkeit hinstarren. Nun diesmal war sie von zu viel Seiten gedrängt. Zwei Liebhaber nebeneinander, das unter andern Umständen wohl angegangen wäre, wurde hier schon schwerer. Wilhelm hatte ihr in der Treue seines Herzens den Verdacht haarklein erzählt, den man ihm gegen sie beibringen wollen, sie wußte also, er war wenigstens aufmerksam; der andre war übermütig, tölpisch in seinem Betragen, und sie war in einem Zustande, wo sie's mit keinem verderben wollte, um eines gewiß zu sein. Wilhelms Zärtlichkeit hatte über ihre Klugheit gesiegt, und sie fühlte, daß ihr das unerwünschte Glück, Mutter zu werden, bevorstehe. Sie hatte es einer alten Theaterschneiderin, die eine bewährte Vertraute in solchen Fällen war, entdeckt, die nach einigen grausamen Vorschlägen, vor denen Marianen schauderte, ihr den Rat gab, sie möchte lieber, wenn es doch einmal sein sollte, die Schuld auf den reichen als den armen Liebhaber bringen und überhaupt gegen Wilhelmen sich nur nichts merken lassen, übrigens wegen geschickter Behandlung der Sache auf sie ein vollkommnes Vertrauen setzen. Eben diese Alte hatte schon Marianen vor einer feierlichen Verbindung mit Wilhelmen bewahrt, sie hielt ihn nur vor einen Setzling, den ein kluger Fischer wieder ins Wasser wirft. "Was wollen Sie mit ihm?" sagte sie oft. "Seine Eltern werden nicht leiden, daß er Sie heuratet, und mit ihm durchzugehen wäre eine unverzeihliche Narrheit; er hat nichts, und wozu einen Mann am Hals, der. noch dazu in Sie verliebt wäre, und über das alles ist unser Direktor ein Mann, der keinen Spaß versteht, sobald ein Abenteuer éclat wird, er ist eifrig auf die Renommee seiner Truppe, wie er's heißt, und eh man sagen sollte, eine von seinen Aktricen habe einen hübschen Bürgerssohn debauchiert, er jagte sie am Tage des Aufbruchs weg. Und wo hernach hin? Ein reisender Komödiant ist ein elender Geschöpf als alle reisende Handwerksbursche. Davor, wenn Sie sich ihn erhalten, kommen Sie vielleicht übers Jahr wieder hierher, sein Vater ist indessen tot, und es läßt sich immer wieder eine alte Liebe mit Vorteil anknüpfen." Die Theaterschneiderin war von den Kindern dieser Welt, sie hatte recht bis auf einen gewissen Punkt und behielt auch in Marianens Herze recht bis auf einen gewissen Punkt, denn diese hatte doch keinen Gedanken, wie sich's von Wilhelm scheiden ließe. Indessen hat die Klugheit so was Gebietendes, daß wir ihr oft auch wider unsre Neigung folgen. Wilhelm verstund Marianens Betragen nun gar nicht; er, der sie ganz vor seine Frau ansah, sie nicht anders als sein liebes Weibchen nannte, oft durch seine Liebkosungen sie zu einer nähern Erklärung, Bestimmung dieses Verhältnisses leiten wollte, er fühlte sie immer ausweichen auf dem Punkt von Heuraten, wo die Mädchen einem so leicht entgegenkommen; und doch war er wieder delikat, vermutete wieder ganz andere Delikatesse von ihr, kam in Willens, sich zu erklären, und ging wieder weg von der Seite, wie er gekommen war, zersann sich, zerstritt sich wieder einen Tag in sich selbst, stand immer auf dem Sprung und kam niemals vom Fleck. Über das alles aber wurden seine Ideen immer mehr bestätigt, seine dunkle Aussichten, seine verworrne Hoffnungen wurden zu Planen. Er hatte während der Krankheit seines Vaters die Heurat seiner ältern Schwester mit Wernern unmerklich beschleunigt; sie war insoweit richtig, nur die notwendige Umständlichkeiten hielten sie noch eine Weile auf. Er hatte schon in Gedanken seinen wieder auflebenden Vater ganz gesund gemacht, seinen Schwager an seine Stelle im Handel und Wandel der Familie untergeschoben, und er schien sich manchmal die Füße aus den schwer geschloßnen Ketten zum Versuche herauszuziehen, wie ein künstlicher Dieb oder ein Zauberer in der Gefangenschaft manchmal tut, um sich zu überzeugen, daß seine Rettung möglich und näher sei, als die kurzsichtige Menschen glauben. Wenn er denn nun in freier, nächtlicher Stunde abschüttelnd allen Druck über einen großen Platz wandelte und seine Hände gen Himmel reichte, er fühlte alles hinter und unter sich; er los von allem, und nun entgegen den Umarmungen seiner Geliebten in verstohlner Nacht, und wieder sich denkend in den Umarmungen seiner Geliebten auf dem blendenden Theatergerüste, und so Natur und Kunst, und bewundert und beneidet, so war ihm immer der weite Weg durch die Stadt zu ihrem Hause ein Augenblick, ununterbrochen als hie und da durch eines Nachtwächters Ruf; und wenn nun wieder Mariane ihn mit Natur und Kunst empfing, ihren heimlichen Kummer bemeisterte und ihr Vergnügen aufstutzte, wenn sie das weiße Nachtkleid, darin sie wirklich recht englisch aussah, in seinen Armen unvermutet einweihte, was blieb ihm, an gegenwärtigem Vergnügen ersättigt, übrig, als seine Geliebte mit in die frohe Zukunft zu reißen, wenn sie, die nun niemals mitzuempfinden schien, auf die lieblichste Fragen, ob er sich Vater glauben dürfe, zugeschlossen und verlegen war! Er legte es freilich wieder aus und herrlich genug, bot die ganze Zeit den Überfluß seiner Empfindung und seiner Gutmütigkeit auf, um zurechtezulegen und Lücken zu füllen, nur daß ihm nie dabei wohl werden konnte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe



Dichtung und Wahrheit

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