> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 4.Kapitel

2019-10-15

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 4.Kapitel


J.W.v.Goethe

Sechstes Buch
Viertes Kapitel

Der Bediente kam mit einigen Leuten zurück und machte Anstalten, den Verwundeten wegzuschaffen; er hatte den Pfarrer des Orts überredet, den Fremden aufzunehmen und für ihn zu sorgen, er ließ Philinens Koffer mit forttragen und fand es ganz natürlich, daß sie folgte. Mignon schloß sich an, der Kranke ward in das Pfarrhaus gebracht, und es ward ihm ein weites Ehebette, das schon lange als Gast- und Ehrenbette für gute Freunde bereitstund, eingegeben. Hier bemerkte man erst, daß die Wunde aufgegangen war und stark geblutet hatte; man mußte für einen neuen Verband sorgen. Der Kranke verfiel in ein Fieber, das sich verschlimmerte; je weiter es in die Nacht kam. Philine wartete ihn treulich, und als sie die Müdigkeit übermeisterte, löste sie der Harfenspieler ab; Mignon war mit dem festen Vorsatz zu wachen in einer Ecke eingeschlafen. Des Morgens, als sich der Kranke ein wenig erholt hatte, verlangte er den Bedienten zu sprechen, der, wie man ihm sagte, nur auf sein Erwachen wartete, um wieder wegzureiten. Er erfuhr von diesem Menschen, daß die vornehme Herrschaft, die ihnen gestern zu Hülfe gekommen, den Kriegsbewegungen auszuweichen ihre Güter verlassen habe, um in sicherere Gegenden zu ziehen; er nannte den ältlichen Herrn und seine Nichte, den Ort, wo sie sich künftig aufzuhalten gedächten, er erklärte Wilhelmen, wie das Fräulein ihm Ordern gegeben, für die Verlaßnen Sorge zu tragen, er habe aus dem benachbarten Städtchen einen Chirurgus herbeigeholt und wolle nun, sobald er den Kranken wieder verbunden wisse, sich aufsetzen und seiner Herrschaft nachreiten. Der hereintretende Wundarzt unterbrach die lebhaften Danksagungen, welche Wilhelm dem Bedienten aufzutragen angefangen hatte, jener fand die Wunde nicht gefährlich, die Kontusion am Haupte von keinen Folgen, nur verlangte er ausdrücklich, daß der Patiente sich ruhig halten, sich abwarten solle.

Nachdem der Bediente weggeritten war, erzählte Philine, die sich gleich einfand, daß ihr derselbe einen Beutel mit zwanzig Louisdor zurückgelassen, den Hauswirt auf drei bis vier Wochen reichlich bezahlt und ihr auf das ernstlichste befohlen habe, den Kranken zu warten; sie habe das um soviel lieber angenommen, als der Fremde sie für Wilhelms Frau gehalten, unter welcher Qualität sie sich nun bei ihm introduziere. Sie brachte ihm auch sogleich Tee, machte alle Anstalten einer Wärterin.

"Philine", sagte Wilhelm, "ich bin Ihnen bei diesem Unfall, der uns begegnet, schon manchen Dank schuldig worden, und ich wünschte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu sehen. Ich bin unruhig, solange Sie um mich sind, denn ich weiß nichts, womit ich Ihnen die Mühe vergelten kann; geben Sie mir meine Sachen, die Sie in Ihrem Koffer gerettet haben, heraus, schließen Sie sich an die übrige Gesellschaft an, suchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie meinen Dank und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit, nur verlassen Sie mich, Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben."

Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. "Du bist ein Tor", sagte sie, "du wirst nicht klug werden, ich weiß besser, was dir gut ist, ich werde bleiben, ich werde mich nicht von der Stelle rühren. Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht, und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?"

Sie hatte sich bald bei dem Pfarrer und seiner Familie eingeschmeichelt, indem sie immer lustig war, jedem etwas zu schenken, jedem nach dem Sinne zu reden wußte und dabei immer tat, was sie wollte.

Wilhelm befand sich nicht übel dabei, der Chirurgus, ein wackerer und geschickter Mann, brachte ihn bald auf den Weg der Besserung, und es würde uns von dieser Seite für ihn wenig zu tun übrigbleiben, wenn nicht von andern neue Bekümmernisse aufstiegen und neue Sorgen drohten.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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