Sechstes Buch
Achtes Kapitel
Achtes Kapitel
In den Faden seines Schicksals hatten sich so viele Knoten geknüpft, die sich entweder immer mehr verwirren oder endlich auflösen mußten. Oft, wenn er ein Pferd traben oder einen Wagen rollen hörte, schaute er eilig zum Fenster hinaus, mit der Hoffnung, es werde jemand sein, der ihn aufsuchte und, wäre es auch nur durch Zufall, ihm Nachricht, Gewißheit und Freude brächte! Er machte sich hundert Geschichten, wie sein Schwager Werner in diese Gegend kommen und ihn überraschen könnte, wie Mariane vielleicht erscheinen dürfte. Der Ton eines jeden Posthorns (denn die Straße ging durch den Ort) setzte ihn in Bewegung. Am wahrscheinlichsten aber war es, daß ihm Melina von seinem Schicksale Nachricht geben werde, und am angenehmsten beschäftigte ihn der Gedanke, daß der Bediente wiederkommen und ihm den Aufenthalt der trefflichen Schönen entdecken könnte. Dieser letzte Gedanke hielt ihn, ohne daß er es fast selbst wußte, an dem elenden Aufenthalt am festesten.
Eine angenehme Vorstellung folgte der andern, bis sein Gemüt durch eine Reihe von Bildern und Beobachtungen auf einen Gegenstand geführt wurde, der immer widriger und unerträglicher wurde, je näher er ihn beleuchtete. Es war das Andenken seiner unglücklichen Heerführerschaft, das ihn so sehr schmerzte. Denn ob er sich gleich am Abende jenes bösen Tages vor der Gesellschaft so ziemlich herausgeredet hatte, so konnte er sich doch selbst seine Schuld nicht verleugnen und mußte sie sich auf alle Weise zuschreiben. Er hatte das Vertrauen auf sich rege gemacht, den Willen der übrigen gelenkt und war, von Unerfahrenheit und Kühnheit geleitet, vorangegangen; alle folgten mutig, es ergriff sie eine Gefahr, der sie nicht gewachsen waren. Laute und stille Vorwürfe verfolgten ihn, und wenn er der irregeführten Gesellschaft nach dem empfindlichen Verluste zugesagt hatte, sie nicht zu verlassen, bis er ihnen das Verlorne mit Wucher ersetzt, so war dies wieder eine neue Verwegenheit, womit er ein allgemeines, ausgeteiltes Übel auf seine einzelne Schultern zu nehmen sich vermaß, und es drangen ihn nicht etwa nur Aufspannung, Laune oder Verlegenheit des Augenblicks. Jenes gutmütige Hinreichen seiner Hand, die keiner anzunehmen würdigte, war nur eine leichte Förmlichkeit gegen das Gelübde, das ihnen sein Herz getan hatte; er sann den Mitteln nach, ihnen nützlich und wohltätig zu sein, und so mannigfaltig er sie auch dachte, waren sie doch nicht hinreichend, den Druck von seiner Seele zu nehmen, der ihm in traurigen Stunden schwer auflag.
In einem so wunderbaren Kreise wurden seine Gedanken herumgeführt, und er wäre vielleicht noch lange in demselben wie ein Gebannter herumgegangen, wenn ihn nicht ein Brief von Melina aus seiner Träumerei herausgerissen und ihn nach H*** gefordert hätte. Dieser Arme befand sich in einer bedrängten Lage, denn der Direktor wollte nichts von ihm noch von den Seinigen wissen; wenn also noch etwas auszurichten war, konnte es nur durch Wilhelms Gegenwart geschehen. Er brach also mit seinen beiden Gefährten auf, und das wunderbare Kleeblatt langte bald an dem lebhaften und gewerbereichen Orte an, wo neue sonderbare Ereignisse auf sie warteten. Wilhelm eilte, seinen alten Freund Serlo (so wollen wir den Direktor nennen) zu besuchen.
Dieser empfing ihn mit offnen Armen und rief ihm von weitem entgegen: "Mein lieber Meister, sehe ich Sie, erkenne ich Sie wieder?" – "Stille", versetzte Wilhelm, indem er ihn umarmte, "ich heiße jetzo Geselle, unter diesem Namen habe ich nur bisher erscheinen dürfen." – "Gut, mein Freund", sagte Serlo, indem er die Ankömmlinge betrachtete, "Sie haben sich wenig oder nicht geändert; ist Ihre Liebe für die edelste Kunst noch immer so stark und lebendig? Ich erfreue mich so sehr über Ihre Ankunft, daß ich fast vergesse, wie stark ich über Sie zu klagen Ursache habe." – "Wieso?" versetzte Wilhelm, der schon ohngefähr merkte, wo diese Anrede hinauswollte.
"Sie sind mir", sagte Serlo, "nicht wie ein guter Geselle begegnet, Sie haben mich in Ihrem letzten Brief wie einen großen Herrn behandelt, dem man mit gutem Gewissen unbrauchbare Leute empfehlen darf. Sie bedenken nicht, daß wir unser Brot verdienen müssen. Ihr Melina mit den Seinigen ist wahrhaftig zu gar nichts zu gebrauchen."
Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunsten sprechen, aber Serlo fing an, eine so unbarmherzige Schilderung von ihnen zu machen, daß unser Freund sehr zufrieden war, als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat, die das Gespräch unterbrach und ihm sogleich als Schwester Aurelia von seinem Freunde vorgestellt ward. Dieses fürtreffliche Frauenzimmer, eine junge Witwe, empfing ihn auf das freundschaftlichste, und ihre Unterhaltung war so angenehm, daß er nicht einmal den entschiedenen Zug des Kummers gewahr wurde, der sich ihres geistreichen Gesichts bemächtiget hatte. Man sprach von den neusten Stücken, über den gegenwärtigen Geschmack. Man kam von einem in das andere, und Wilhelm verfehlte nicht, seinen "Hamlet" gelegentlich vorzubringen, der ihn so sehr beschäftigte. Serlo versicherte, daß er gerne die Rolle des Polonius gespielt hätte, und sagte zu seiner Schwester: "Du übernimmst wohl Ophelien?" Das Lächeln, womit er es aussprach, mißfiel Wilhelmen, denn es schien etwas Beleidigendes zu haben. Aurelie antwortete gelassen und kalt: "Warum nicht!"
Wilhelm fing nun nach seiner Art an, recht weitläufig und sehr lehrreich zu werden, wie er seinen Hamlet gespielt haben wolle.
Er legte ihnen die Resultate ausführlich hin, welche aufzusuchen wir ihn im vorigen Kapitel beschäftigt gesehen, und gab sich alle Mühe, seine Meinung annehmlich zu machen, sosehr sie ihm Serlo als Hypothese in Zweifel ziehen wollte. "Nun gut", sagte dieser zuletzt, "wir geben Ihnen alles zu, was wollen Sie weiter daraus erklären?" – "Vieles! alles!" versetzte Wilhelm. "Nehmen Sie einen Prinzen, wie ich ihn geschildert habe, dessen Vater unvermutet stirbt. Ehrgeiz und Sucht zu gebieten sind nicht die Leidenschaften, die ihn beleben; er hatte sich es so gefallen lassen, Sohn eines Königs zu sein, nun sieht er sich auf den Abstand, der König und Untertan scheidet, aufmerksamer zu werden erst genötigt. Das Recht zur Krone war nicht erblich, und doch hätte ein längeres Leben seines Vaters die Ansprüche eines einzigen Sohnes fester gemacht und ihn zum künftigen Könige bestimmt.
Dargegen fühlt er sich so arm an Gnade, an Gütern, fremd in dem, was er von Jugend auf als sein Eigentum betrachtete, und hier nimmt sein Gemüt die erste traurige Richtung; er fühlt sich nicht mehr zu sein als jeder Edelmann, er gibt sich für einen Diener eines jeden. Nicht höflich, nicht herablassend, nein, herabgesunken, bedürftig.
Nach seinem vorigen Zustande blickt er nur wie nach einem verschwundenen Traum. Vergebens, daß sein Oheim ihn aufmuntert, ihm seine Lage aus einem andern Gesichtspunkte zeigen will, die Empfindung seines Nichts bleibet ihm.
Der zweite Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr. Es ist die Heurat seiner Mutter. Ihm, einem treuen, zärtlichen Sohn, blieb, da sein Vater starb, eine Mutter noch übrig. Wenn er die Heldengestalt jenes großen Abgeschiedenen verehrte, konnte er es in Gesellschaft einer hinterlaßnen edlen, treuen Mutter tun. Diese verliert er nun auch, schlimmer als durch den Tod. Das zuverlässige Bild, das sich ein wohlgeratnes Kind so gern von seinen Eltern macht, verschwindet. Bei dem Toten ist keine Hülfe und an der Lebendigen kein Halt. Sie ist auch ein Weib! Unter dem allgemeinen Geschlechtsnamen Gebrechlichkeit ist nun auch sie begriffen.
Nun erst fühlt er sich recht gebeugt, nun erst verwaist, und kein Glück in der Welt vermag ihm wiederzugeben, was er verloren hat. Er ist nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur; diese Trauer, dieses Nachdenken wird ihm zur schweren Bürde. So sehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht, daß ich etwas übertreibe."
Serlo sah seine Schwester an und sagte: "Habe ich dir ein falsches Bild von unserm Freunde gemacht? Er fängt gut an, er wird uns noch manches vorerzählen und viel überreden." Wilhelm schwur hoch und teuer, daß er nicht überreden, sondern überzeugen wolle, und bat nur noch einen Augenblick Geduld. "Denken Sie sich diesen Jüngling, diesen Fürstensohn recht lebhaft, vergegenwärtigen Sie sich seine Lage, und dann beobachten Sie ihn, wenn er erfährt, die Gestalt seines Vaters erscheine; stehen Sie ihm bei in der schröcklichen Nacht, wenn der ehrwürdige Geist selbst vor ihm auftritt! Ein ungeheures Entsetzen ergreift ihn, er redet die Wundergestalt an, sieht sie winken, folgt – und hört, und was hört er? Die schröcklichste Anklage wider seinen Oheim!
Aufforderung zur Rache und die dringende, wiederholte Bitte: ,Erinnre dich mein!’ Und wie der Geist verschwunden, wen sehen wir vor uns stehen? Einen jungen Helden, der nach Rache schnaubt?
Einen gebornen Fürsten, der sich glücklich fühlt, gegen den Usurpator seiner Krone doppelt und dreifach aufgefordert zu werden? Nein! Staunen und Trübsinn überfällt ihn, er schwört, den Abgeschiednen nicht zu vergessen. Er wird über die lächelnden Bösewichter bitter und schließt mit dem bedeutenden Seufzer: ,die Zeit ist aus dem Gelenke! weh, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten!’
In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist.
Und dieses finde ich in dem Stücke fürtrefflich ausgeführt. Hier wird ein Eichbaum in ein köstliches Gefäße gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinem Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen sich aus, und das Gefäß wird zernichtet.
Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann. Jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das Menschen Unmögliche, nein, das ihm Unmögliche! Wie er sich windet, dreht, ängstigt, vor- und zurücktritt, immer erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne verliert, ohne jedoch jemals wieder froh zu werden."
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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