> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 9.Kapitel

2019-10-04

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 9.Kapitel






Erstes Buch
Neuntes Kapitel

Die übrige Zerstreuungen der Jugend, da seine Gespanschaft sich zu vermehren anfing, taten auch dem einsamen, stillen Vergnügen Eintrag. Er war wechselsweise mit ihnen bald Jäger, bald Soldat, bald Reuter, wie es die Eigenschaft der Spiele mit sich brachte, doch hatte er immer darin einen Vorzug vor den andern, daß er imstande war, ihnen die nötigen Gerätschaften schicklich auszubilden. So waren die Schwerter meistens aus seiner Fabrik, er verzierte und verguldete die Schlitten, und aus einem geheimen Instinkt und alter Anhänglichkeit kam er bald drauf, ihre Miliz ins Antike umzuschaffen. Es wurden Helme verfertigt mit papiernen Büschen, Schilde, sogar Harnische wurden gemacht, Arbeiten, bei denen die Bedienten im Hause, die etwa Schneider waren, und die Nähterinnen manche Nadel zerbrachen. Einen Teil seiner jungen Gesellen sah er nun wohlgeschmückt vor sich, die übrige, weniger bedeutende wurden auch nach und nach, doch geringer ausstaffiert, und es war ein ganz stattliches Chor beisammen; sie marschierten in Höfen und Gärten, schlugen sich brav auf die Schilde und auf die Köpfe, es gab manche Mißheiligkeit, die Wilhelm bald beizulegen suchte. Dieses Spiel, was die andern sehr unterhielt, war kaum etlichemal getrieben worden, als es Wilhelmen schon nicht mehr befriedigte. Der Anblick so vieler gerüsteter Gestalten mußte ihm notwendig die Ritterideen aufreizen, die seit einiger Zeit, da er ins Lesen alter Romanen gefallen war, seinen Kopf ausfülleten. "Das befreite Jerusalem", davon er Koppens Übersetzung in die Hände gekriegt hatte, schlug den Zapfen aus dem Fasse. Ganz konnte er das Gedicht nicht lesen, da waren aber Stellen, die er auswendig wußte, deren Bilder ihn immer umschwebten. Besonders fesselte ihn Chlorinde mit ihrem ganzen Tun und Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den keimenden Geist der Liebe, der sich im Knaben zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob er gleich ihren Garten nicht verachtete. Aber hundert- und hundertmal, wenn er abends am Fenster stand und in den Garten sah und die Sommersonne, hinter die Berge gewichen, den hauchenden Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervortraten und aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang und der klingende Ton der Frösche aus der Ferne durch die feierliche Stille schrillte, sage er sich die Geschichte ihres traurigen Todes vor. Sosehr er von der Partei der Christen war, stund er ihr doch bei, den großen Turn anzuzünden. Arganten haßte er von Herzen und mißgönnte ihm die Gesellschaft des Engels. Und wie nun Tankred sie durch die Nacht entdeckt, unter der düstern Hülle der Streit beginnt und sie gewaltig kämpfen, er konnte nie die Worte aussprechen:

Allein das Lebensmaß Chlorindens ist nun voll
Und ihre Stunde kommt, in der sie sterben soll.

daß ihm nicht die Tränen in die Augen kamen, die reichlich flossen, wie der unglückliche Liebhaber ihr das Schwert in die Brust stößt, der Sinkenden den Helm löst und zur Taufe bebend das Wasser holt. Wie nun dann in dem bezauberten Wald Tankredens Schwert den Baum verletzt, Blut nach dem Hiebe fließt und eine Stimme ihn ans Herz trifft, daß er hier Chlorindens Wunde wieder aufreiße, und er vom Schicksal bestimmt zu sein scheint, das, was er liebt, unwissend zu verderben, ging unserm Wilhelm ganz das Herz über; es bemächtigte sich die Geschichte so seiner Einbildungskraft, daß sich ihm, was er von dem Gedichte gelesen hatte, dunkel zu einem Ganzen in der Seele bildete, ihn hinriß, und er, ohne zu wissen wie, ernstlich dran dachte, es vorzustellen. Er wollte Tankred und Reinalden spielen und fand dazu zwei Rüstungen ganz bereit, die er schon gefertigt hatte. Die eine von dunkelgrau Papier mit Schuppen sollte den ernsten Tankred, die andre von Silber- und Goldpapier den glänzenden Reinald zieren.

In der Lebhaftigkeit seiner Vorstellung erzählte er alles seinen Gespanen, die davon ganz entzückt waren und nur nicht wohl begreifen konnten, wie es an den Punkt kam, daß es aufgeführt, und zwar von ihnen aufgeführt werden sollte. Allen diesen Zweifeln half Wilhelm mit vieler Leichtigkeit ab. Er disponierte gleich über ein paar Zimmer in eines benachbarten Gespielen Haus, ohne zu berechnen, daß die alte Tante sie nimmermehr hergeben werde; ebenso war's mit dem Theater, wovon er auch keine bestimmte Idee hatte, außer daß man's auf Balken setzen, die Kulissen von geteilten spanischen Wänden hinstellen und zum Grund ein großes Tuch nehmen müsse. Woher aber alles kommen sollte, das hatte er nicht bedacht. Für den Wald fanden sie eine gute Auskunft, sie gaben einem alten Bedienten aus einem der Häuser, der nun Oberförster geworden war, gute Worte, daß ihnen der junge Birken und Fichten zukommen ließ: die wurden auch wirklich herbeigebracht, und nun fand man sich in großer Verlegenheit, wie man das Stück, eh die Bäume verdorrten, aufführen wolle. Nun war guter Rat teuer, es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhängen. Die spanische Wände waren das einzige, was sie hatten. In dieser Verlegenheit gingen sie einen Vetter an, dem sie eine weitläufige Beschreibung von der Herrlichkeit machten, die es geben sollte; der wußte es zwar nicht zu verbinden, doch war er ihnen behülflich, schaffte in eine kleine Stube, was von Tischen im Haus und Nachbarschaft war, aneinander, stellte die Wände drauf, machte eine hintere Aussicht von grünen Vorhängen, die Bäume stunden auch gleich mit in der Reihe. Die Lichter waren angezündet, die Mädchen und Kinder hatten sich versammelt, es sollte angehn, die ganze Heldenschar war angezogen, nun spürte aber jeder zum erstenmal, daß er nicht wisse, was er zu sagen habe. In der Hitze der Erfindung, da Wilhelm ganz von seinem Gegenstand durchdrungen war, hatte er vergessen, daß doch jeder wissen müsse, was und wo er's zu sagen habe, und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war's den übrigen auch nicht beigefallen. Sie glaubten, sie würden sich leicht als Helden darstellen, leicht so handeln und reden können wie die Personen, in deren Welt sie Wilhelms Gabe versetzt hatte.

Sie stunden alle erstaunt, fragten sich einander, was zuerst kommen sollte, und Wilhelm, der sich als Tankred vornenan gedacht hatte, fing, allein auftretend, einige Verse aus dem Heldengedicht herzusagen an. Weil aber das gar zu bald ins Erzählende überging und er in seiner eignen Rede endlich als dritte Person vorkam, auch der Gottfried, an dem die Sprache war, nicht herauskommen wollte, so mußte er eben unter großem Gelächter seiner Zuschauer wieder abziehen, ein Unfall, der ihn tiefer als manche folgende Leiden in der Seele kränkte. Das war nun verunglückt. Die Zuschauer saßen da und wollten was sehen. Gekleidet waren sie, Wilhelm raffte sich zusammen und entschloß sich kurz und gut, "David und Goliath" zu spielen. Einige der Gesellschaft hatten ehmals das Puppenspiel mit ihm aufgeführt, alle hatten es oft gesehen, man teilte die Rollen aus, es versprach jeder sein Bestes zu tun, und ein kleiner drolliger Junge malte sich einen schwarzen Bart, um, wenn ja eine Lücke einfallen sollte, sie als Hanswurst mit einer Posse auszufüllen; das sah Wilhelm sehr ungern, als dem Ernste des Stücks zuwider, mußte es aber diesmal zugeben. Doch schwur er sich, wenn er nur einmal aus dieser Verlegenheit hauß wäre, sich nie, als wohl vorher überlegt, an ein Stück zu wagen.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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