> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 10.Kapitel

2019-10-16

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 6. Buch 10.Kapitel



Sechstes Buch
Zehntes Kapitel

Den nächsten Morgen dachte Wilhelm Madame Melina zu besuchen, er fand sie nicht zu Hause; er fragte nach den übrigen Gliedern der wandernden Gesellschaft, sie waren nicht anzutreffen. Endlich erfuhr er, Philine habe sie alle zum Frühstück eingeladen. Er fand sie auch aufgeräumt und getröstet. Die kluge Dirne hatte sie versammelt, sie mit Schokolade bewirtet und ihnen merken lassen, noch sei die Aussicht nicht versperrt. Sie hoffe, durch ihren Einfluß Serlo zu überzeugen, wie vorteilhaft es ihm sei, so geschickte Leute zu seiner Truppe zu gesellen. Sie hörten ihren Reden aufmerksam zu, schlürften eine Tasse nach der andern und fanden das Mädchen gar nicht so verabscheuungswürdig, als sie ihnen vor einigen Wochen vorgekommen war. Auch nachdem man sie entlassen hatte, redeten sie das Beste von ihr und fanden dem eignen Vorteil gemäß, jene leichtfertigen Geschichten zu verschweigen. "Glauben Sie denn", sagte Wilhelm, der mit Philine allein geblieben war, "daß Serlo sich entschließen kann, entweder alle oder doch einige zu behalten?" – "Mitnichten", versetzte Philine. "Es ist mir auch gar nichts daran gelegen. Ich wollte, sie wären je eher je lieber fort, und ich will sehen, wie ich sie wegbringe. Allein ein anders Anliegen beunruhigt mich. O könnten Sie sich doch entschließen, zu uns zu treten, eine Kunst zu ergreifen, zu der Sie geboren sind und die Ihnen Ehre bei einem reichlichen Auskommen bringen müßte!" – "Es ist nicht daran zu gedenken", versetzte Wilhelm. "Sie haben doch, hoffe ich, nicht verraten, daß ich schon auf dem Theater gewesen bin." – "Wie können Sie mir solch einen Unverstand zutrauen!" versetzte jene. "Gut", sagte er, "ich verlasse mich darauf, denn ich bin im Begriff, meinen Namen wieder zu bekennen und die Freunde meines Vaters zu besuchen." – "Eilen Sie nicht damit", sagte Philine, und so gingen sie auseinander.

Wilhelm hatte von Serlo die Erlaubnis verlangt, in die Probe kommen zu dürfen, welches ihm dieser nicht zugestanden, sondern ihn zur Aufführung selbst verwiesen. "Sie müssen uns erst von der besten Seite kennenlernen, ehe wir zugeben, daß Sie uns in die Karte sehen."

Mit großer Zufriedenheit wohnte er den Abend darauf dem Schauspiele bei; es war das erste Mal, daß er das Theater in solcher Vollkommenheit sah. Schauspieler von vortrefflichen Gaben, glücklichen Anlagen, Fleiß und einem hohen Begriff von ihrer Kunst, die, wenn sie auch nicht alle gleich waren, doch einander wechselsweise hielten, trugen und anfeurten. Serlo zeichnete sich sehr zu seinem Vorteile aus. Laune und Lebhaftigkeit, durch einen allgemeinen Geschmack geleitet, mußte man an ihm, wie er auf das Theater trat, wie er den Mund eröffnete, bewundern, man fühlte ihm die innerliche Behaglichkeit seines Daseins an, die sich über alle Zuhörer ausbreitete; eine außerordentliche Übung seiner Kunst hatte ihn geschickt gemacht, die feinsten Schattierungen der Rollen mit der größten Leichtigkeit auszudrücken.

Seine Schwester Aurelia blieb nicht hinter ihm und erhielt noch größern Beifall, indem sie die Gemüter der Menschen rührte, die er nur zu erfreuen imstande war.

Doch ich enthalte mich, von ihr und den übrigen Schauspielern weiterzusprechen, wir werden sie handeln, sie agieren sehen, und der Leser wird selbst urteilen können.

Den andern Morgen verlangte Aurelia nach unserm Freunde, er eilte zu ihr und fand sie auf dem Kanapee liegen. Sie schien an Kopfweh und an einem Fieber zu leiden. Ihr Auge erheiterte sich, als sie den Hereintretenden sah. "Vergeben Sie!" rief sie aus; "das Zutrauen, das Sie mir einflößten, hat mich schwach gemacht. Ich kann mein Geheimnis, meine Schmerzen nicht mehr für mich behalten, was mir bisher eine Stärkung und Trost gab. Sie haben, ohne es zu wissen, die Bande der Verschwiegenheit gelöst, und Sie werden auch nun, ohne es zu wollen, teil an dem Kampfe nehmen müssen, den ich gegen mich selber streite." Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich und versicherte sie, daß ihm diese Nacht ihr Bild und ihre Schmerzen beständig vor der Seele geschwebt, daß er sie um ihr Vertrauen bitte, daß er sich ihr zum Freund widme.

Indem er dieses sprach, wurden seine Augen von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf der Erde saß und sich mit allerlei Spielwerk beschäftigte. Er mochte, wie ihn Philine angegeben, ohngefähr drei Jahr alt sein, und Wilhelm verstand nun erst jenes Gleichnis, da die Leichtfertige, in ihren Ausdrücken selten Erhabne das Kind an Schönheit der Sonne verglichen; denn um die offnen blauen Augen und das volle Gesicht kräuselten sich die schönsten goldnen Locken, auf blendend weißer Stirne zeichneten sich dunkele, leis bogige Augenbraunen, und die lebhafte Farbe der Gesundheit glänzte auf seinen Wangen. "Setzen Sie sich zu mir", sagte Aurelia. "Sie sehen das glückliche Kind mit Verwunderung an. Gewiß, ich habe es mit Freuden angenommen, ich bewahre es mit Sorgfalt, nur fühl ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen, weil ich den Wert einer solchen Gabe nur selten empfinde.

Erlauben Sie mir", fuhr sie fort, "daß ich nun auch von mir und meinem Schicksale rede, denn es ist mir so sehr daran gelegen, daß Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte nun einige gelassene Augenblicke zu haben, darum ließ ich Sie rufen. Sie sind da, und ich habe meinen Faden verloren.
,Ein verlassenes Geschöpf mehr in der Welt!’ werden Sie sagen. Sie sind ein Mann und denken: Wie gebärdet sie sich über ein notwendiges Übel, gewisser als der Tod, über die Untreue eines Mannes! Die Törin! O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein, ich wollte gern ein gemeines Übel ertragen, aber es ist so außerordentlich. Warum kann ich’s Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es zu erzählen!

O wäre ich verführt, überrascht und dann verlassen wie Ariadne, dann würde in der Verzweiflung noch Trost sein. Ich bin weit schlimmer dran, ich habe mich selbst hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, dies ist es, was ich mir niemals verzeihen kann."

"Bei Gesinnungen, wie die Ihrigen sind, können Sie nicht ganz unglücklich sein", versetzte der Freund.

"Und wissen Sie, wem ich diese Gesinnungen schuldig bin?" fragte Aurelia. "Der allerübelsten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beispiele, um Sinne und Neigung zu verführen. Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mutter brachte ich die schönsten Jahre der Entwicklung bei einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte, das Gesetz der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ sie sich einer jeden Neigung, sie mochte über den Gegenstand gebieten oder sein Sklav sein, wenn sie nur in wildem Genuß ihrer selbst vergessen konnte.

Wir Kinder, denen der richtige Blick der Unschuld alles rein und deutlich sehen ließ, was für Begriffe mußten wir uns von dem männlichen Gechlechte machen? Wie dumpf, dringend, dreist, ungeschickt war ein jeder, den sie herbeireizte, wie satt, übermütig und abgeschmackt jeder, der seiner Wünsche Befriedigung gefunden hatte. So hab ich diese Frau monatelang unter dem Gebote der schlechtesten Menschen erniedrigt gesehen. Was für Begegnungen mußte sie nicht erdulden, und mit welcher Stirne wußte sie sich in ihr Schicksal zu finden, ja mit welcher Art noch diese schändlichen Fesseln zu tragen!

So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein haßte ich’s, da ich auch sonst leidliche Menschen in dem Verhältnisse gegen das unsrige jeden Überrest von Gutem verlieren sah.

Ein bejahrter Freund, der mich als Tochter behandelte, schloß mir völlig die Augen auf. Ich lernte auch mein Geschlecht kennen, und wahrhaftig, als Mädchen von sechzehn Jahren war ich klüger, als ich jetzt nicht bin, jetzt, wo ich mich selbst kaum verstehe – warum sind wir so klug, wenn wir jung sind! so klug, um immer töriger zu werden!"

Der Knabe machte Lärm, und Aurelia ward ungeduldig; sie klingelte, es kam ein altes Weib herein, ihn wegzuholen. "Hast du noch immer Zahnweh?" sagte Aurelia zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. "Noch fast unleidlich", versetzte diese mit dumpfer Stimme, hub den Knaben auf, der gerne mitzugehen schien, und brachte ihn weg.

Kaum war das Kind beiseite, als Aurelia bitterlich zu weinen anfing. "Ich kann nichts ab weinen und klagen", rief sie aus, "und schäme mich, wie ein armer Wurm vor Ihnen zu liegen. Meine Besonnenheit ist schon weg, und ich kann nicht mehr erzählen. Sie sollten von mir hören, wie mich die Liebe der Kunst hinaufstimmte, wie ich erst von meiner Nation alles hoffte und dann gar wieder an ihr verzweifelte." Sie stockte und schwieg zuletzt; ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte und sonst nichts zu sagen hatte, drückte ihre Hand und sah sie eine Zeitlang an; dann nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares Schriften, und "Hamlet" aufgeschlagen.

Serlo, der eben zur Türe hereinkam und mit einer kurzen Frage nach dem Befinden seiner Schwester in das Buch schaute, das unser Freund in der Hand hielt, rief aus: "Finde ich Sie wieder über Ihrem ,Hamlet’! Eben recht! Es sind mir wieder einige Zweifel aufgestoßen, die mir das kanonische Ansehn, das Sie dem Stücke so gerne geben möchten, sehr zu verringern scheinen. Wie ist es mit dem Plane? besonders der zwei letzten Akte, nachdem Hamlet seine Mutter gesprochen? Es will nicht gehen noch rucken, weder reichen noch langen. Die Engländer haben es selbst bekennt." Wilhelm versetzte: "Es ist wohl möglich, daß einige Glieder der Nation, die solche Meisterstücke aufzuweisen hat, selbst das Beste verkennen; das kann uns aber nicht hindern, mit eignen Augen zu sehen und gerecht zu sein; weit entfernt zu glauben, daß der Plan dieses Stückes zu tadeln sei, halte ich vielmehr dafür, daß kein größerer jemals ersonnen worden. Ja, er ist nicht ersonnen, er ist so." – "Wie wollen Sie das machen?" fragte Serlo. "Ich will nichts machen", sagte Wilhelm, "ich will es Ihnen nur vorstellen, wie ich mir’s denke."

Aurelia hob sich von ihrem Küssen auf und stützte sich auf ihre Hand; sah unsern Freund an, der mit der größten Versicherung seines Rechtes zu reden fortfuhr.

"Es gefällt uns so wohl, es schmeichelt uns so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt, der liebt und haßt, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und ausführt, alle Hindernisse abwendet und zu einem großen Zwecke gelangt. Die Geschichtschreiber und Poeten haben uns glauben lassen, daß ein so stolzes Los dem Menschen fallen könnte. Unser Stück lehrt anders. Hier hat der Held keinen Plan, aber das Stück hat einen. Hier ist nicht ein trivialer Gedanke von Rache, durch die eine Übeltat bestraft wird: nein, es geschieht eine ungeheure Tat, sie wälzt sich mit ihren Folgen fort, reißt Unschuldige mit, sie scheint dem Abgrunde, der ihr bestimmt ist, ausweichen zu wollen und stürzt hinein, da wo sie ihren Weg auszulaufen gedenkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, daß sie viel Böses über den Unschuldigen, wie der guten Handlung, daß sie viel Gutes auch über den Unverdienten ausbreitet, ohne daß oft der Urheber von beiden gestraft oder belohnt werde. Hier wie wunderbar, das Fegefeuer sendet seinen Geist und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstände kommen zusammen und treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischen noch Unterirdischen gelingt es, das auszurichten, was sich das Schicksal allein vorbehalten hat. Die Gerichtsstunde kommt. Der Böse fällt mit dem Guten! Ein Geschlecht wird weggemäht, und das andre tritt ein."

Nach einer Pause, da sie einander ansahen, nahm Serlo das Wort. "Sie machen der Vorsehung kein sonderbar Kompliment, indem Sie Ihren Dichter erheben, und dann scheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres Dichters wie andre zu Ehren der Vorsehung ihm Endzwecke und Plane zuzuschreiben, an die er nicht gedacht hat."
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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