Viertes Buch
Sechstes Kapitel
Der Streit ward heftiger, Melina blieb gelassen, die Prinzipalin drang in Wilhelmen ein, der auf einen Blick seines Freundes den Schlüssel notwendig verweigern mußte, wenn er ihn auch selbst herauszugeben geneigt gewesen wäre. Madame de Retti fing an, mit Schelmen und andern Schimpfwörtern um sich zu werfen, und es war eben Zeit, daß der kommandierte Offizier, der den Tumult gestillt hatte, die Treppe heraufkam. "Wie", rief er aus, "kann das Lumpenvolk unter sich selbst nicht Ruhe halten? Was gibt es, soll ich auch hier Friede stiften?" Wilhelm war über diese Anrede höchlich betroffen und im Begriffe, ein so rauhes Kompliment zu erwidern, allein Herr Melina, der ganz andere Sorgen hegte, antwortete ihm gelinde und gefällig. "Mein Herr, haben Sie deswegen keine üblere Meinung von uns und kommen, uns gegen die Heftigkeit und Bosheit unserer Prinzipalin zu schützen." – "Ich will ihr den Kopf schon zurechtesetzen", rief jener, "was fällt Ihnen ein, Madame?" Melina ließ sie nicht zum Worte kommen und sagte: "Ich habe in der Verwirrung die Kasse in dieses Herrn Zimmer gestellt, damit wir alle nicht etwa unglücklich werden. Die Prinzipalin schreit und tut, als wenn es ihr eigen Geld, als ob sie bestohlen wäre, und doch im Grunde ist sie uns und diesem Herrn mehr schuldig, als das alles beträgt. Sie hat sich im mindesten nicht darüber zu beschweren, morgen früh wollen wir die Sache in Ordnung bringen." Da Madame de Retti mit Heftigkeit und Scheltworten versetzte, behielt sie sogleich in den Augen des Offiziers unrecht, der ihr zu schweigen gebot. Melina fuhr fort: "Damit Sie sehen, mein Herr, daß wir es ganz ehrlich meinen, so bitten wir Sie, eine Schildwache vor die Türe zu stellen und ebenfalls eine andere vor jene, worinnen unsere Garderobe befindlich ist. Wollen Sie auch den Schlüssel haben, so steht er zu Befehl; oder wollen Sie noch lieber versiegeln, es ist uns alles recht, was zur Sicherheit dient und Sie überzeugt, daß wir nichts Unbilliges suchen." Die Prinzipalin wollte vor Ärger bersten; allein es half ihr nichts, der Offizier nahm den Schlüssel, stellte seine Posten aus und ging, dem Kommandanten von der Expedition Rechenschaft zu geben. Auf der Treppe begegnete ihm ein anderer, den man sogleich für den Adjutanten des Generales erkannte. Er verlangte, mit der Prinzipalin allein zu sprechen, die ihn in ihr Zimmer führte. Neugierig wartete ein jeder, was das bedeutete, und bemerkte eine sichtbare Verlegenheit an der Prinzipalin, als er wieder von ihr wegging. Er war freundlich gegen die übrigen, sprach mit ihnen, doch konnten sie nichts erfahren, was er gebracht hatte. Jedes suchte sein Zimmer, und Wilhelm nahm diesmal bei Melina sein Nachtquartier und legte sich, nachdem sie vorher noch vielerlei abgehandelt, mit einem wüsten Kopfe und sehr bedrängten Herzen in ein Bette, das man ihm geschwind in die Ecke zurechtmachte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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