Fünftes Buch
Zehntes Kapitel
"Bravo", sagte Jarno, indem er unserm Freunde die Hand reichte und sie ihm drückte; "so wollte ich es haben, und die Folgen, die ich hoffe, werden gewiß auch nicht ausbleiben." - "Ich wünschte", versetzte Wilhelm, "daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vorgeht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von Jugend auf, nur mir selbst unwissend, begleiteten, durch die mir nach und nach die Menschen, die mir im Leben vorkamen, die Fälle, in die ich mich und die andere versetzt sah, nur gleichsam als alte Bekannte begegneten: diese Ahndungen finde ich in Shakespeares Stücken wie erfüllt und entwickelt. Es scheint, als wenn er uns alle Rätsel offenbarte, ohne daß man doch sagen kann: hier oder da ist das Wort der Auflösung. Seine Menschen scheinen natürliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt. Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgendetwas anders, in der würklichen Welt schnellere Schritte vorwärts zu tun, mich in die Flut der Schicksale zu mischen, die über sie verhängt sind, und dereinst, wenn es mir glücken sollte, aus dem großen Meere der wahren Natur wenige Becher zu schöpfen und sie gleich jenem großen Briten von der Schaubühne dem lechzenden Publiko meines Vaterlandes auszuspenden."
"Wie freut mich die Gemütsverfassung, in der ich Sie sehe", versetzte Jarno und lege dem bewegten Jüngling die Hand auf die Schulter. "Lassen Sie diesen Vorsatz nicht fahren und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu nutzen. Kann ich Ihnen hülfreiche Hand leisten, so geschieht’s von ganzem Herzen. Noch habe ich nicht gefragt, wie Sie in diese Gesellschaft gekommen sind, für die Sie weder geboren noch erzogen sein können. So viel hoffe ich und sehe ich, daß Sie sich heraussehnen. Ich weiß nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren häuslichen Umständen; überlegen Sie, was Sie mir vertrauen wollen. So viel kann ich Ihnen nur sagen, die Zeiten des Krieges, in denen wir leben, können schnelle Wechsel des Glückes hervorbringen. Mögen Sie Ihre Kräfte und Talente unserm Dienste widmen, Mühe und, wenn es Not tut, Gefahr nicht scheuen, so hab ich eben jetzo eine Gelegenheit, Sie an einen Platz zu stellen, welchen eine Zeitlang bekleidet Sie in der Folge nicht gereuen wird." Wilhelm konnte seinen Dank nicht genug ausdrücken und war willig, seinem Freunde und Beschützer die ganze Geschichte seines Lebens zu erzählen. "Bedenken Sie", sprach dieser, "was ich Ihnen gesagt habe, sagen Sie mir gelegentlich Antwort und schenken Sie mir Ihr Vertrauen. Ich versichere Sie, es ist mir bisher unbegreiflich gewesen, wie Sie sich mit solchem Volke haben gemein machen können. Ich habe es oft mit Ekel und Verdruß gesehen, wie Sie, um nur einigermaßen leben zu können, Ihr Herz an einen herumziehenden Bänkelsänger und an ein albernes, zwitterhaftes Geschöpf hängen mußten."
Es war ein Glück, daß Jarno nach diesen Worten eilig davonging, sonst würde die Bestürzung unsers Freundes sich in seiner Gegenwart noch vermehrt haben. So unerträglich war ihm nicht leicht etwas aufgefallen, als aus dem Munde eines Mannes, den er hochschätzte, zu dem er das größte Vertrauen zu fassen Ursache hatte, diejenigen menschlichen Wesen, die ihn jetzo am meisten interessierten, so widerlich behandelt zu sehen. Er ergrimmte in seinem Innersten und eilte, die Einsamkeit aufzusuchen. Dort brach er gegen sich selbst in Vorwürfe aus, daß er nur einen Augenblick die hartherzige Kälte Jarnos, die ihm aus den Augen heraussehe und aus allen seinen Gebärden spreche, habe verkennen und vergessen mögen. "Nein", rief er aus, "du bildest dir nur ein, du abgestorbner Weltmann, daß du ein Freund sein könntest! Alles, was du mir anbieten magst, ist der Empfindung nicht wert, die mich an diese Unglücklichen bindet. Welch ein Glück, daß ich noch beizeiten entdecke, was ich von dir zu erwarten hätte!" Er schloß Mignon, der ihm eben entgegenkam, in die Arme und rief aus: "Nein, uns soll nichts trennen, du gutes, kleines Geschöpf! Die scheinbare Klugheit der Welt soll mich nicht vermögen, dich zu verlassen, noch zu vergessen, was ich dir schuldig bin." Das Kind, dessen heftige Liebkosungen er sonst abzulehnen pflegte, erfreute sich dieses unerwarteten Ausdruckes der Zärtlichkeit und hing sich fest an ihn, daß er es nur mit Mühe zuletzt loswerden konnte.
Seit dieser Zeit gab er mehr auf Jarnos Handlungen acht, die er gar nicht billigen konnte. Ja, es kam wohl manches vor, das ihm durchaus mißfiel. So hatte er zum Exempel starken Verdacht, daß Jarno das Gedicht auf den Baron gefertiget, welches der arme Pedant so teuer hatte bezahlen müssen. Jener hatte sogar in Wilhelms Gegenwart über diesen Vorfall gescherzt, und unser Freund hielt es für das Zeichen eines höchst verdorbnen Herzens, einen Unschuldigen, dessen Leiden man verursacht, zu verspotten und weder an Genugtuung noch an Entschädigung zu denken. Gern hätte Wilhelm sie ihm selbst verschafft, denn er war durch einen sehr sonderbaren Zufall denen Tätern jener nächtlichen Mißhandlung auf die Spur gekommen. Man hatte ihm bisher immer zu verbergen gewußt, daß einige junge Offiziere im untern Saale des alten Schlosses mit einem Teile der Schauspieler und Schauspielerinnen ganze Nächte auf eine lustige Weise zubrachten. Eines Morgens, als er nach seiner Gewohnheit früh aufgestanden, kam er von ohngefähr in das Zimmer und fand die jungen Herrn, die eine höchst sonderbare Toilette zu machen im Begriffe waren. Sie hatten in einen Napf mit Wasser Kreide eingerieben und trugen den Teig mit einer Bürste auf ihre Weste und Beinkleider, ohne sie auszuziehen, und stellten also die Reinlichkeit ihrer Garderobe auf das schnellste wieder her. Unserm Freunde, der sich über diese Handgriffe wunderte, fiel der weiß bestäubte und befleckte Rock des Pedanten ein, der Verdacht wurde um soviel stärker, als er erfuhr, daß einige Verwandten des Barons sich unter der Gesellschaft befänden, Er stund im Begriffe, dem Herrn Grafen davon Anzeige zu tun, als durch den Aufbruch der Armee jede andere Angelegenheit zum Schweigen gebracht wurde.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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