Fünftes Buch
Vierzehntes Kapitel
Nur mit Mühe hatte man in dem kleinen Städtchen so viele Pferde zusammengebracht, als zum Transport der Gesellschaft und ihrer Effekten nötig waren. Endlich stund alles bereit, nur erschien ein neues Hindernis. Es lief die Nachricht ein, daß sich in der Nachbarschaft eben auf dem Wege, den sie nehmen wollten, ein Freikorps habe sehen lassen. Dieser unerwartete Ruf machte einen jeden aufmerksam, ob die Zeitung gleich sehr schwankend und zweideutig war und es beinahe nach der Stellung der Armeen unmöglich schien, daß ein feindliches Korps sich sollte haben durchschleichen können. Jedermann war beschäftig, unserer Gesellschaft die Gefahr, die auf sie wartete, recht gefährlich zu beschreiben und ihr einen andern Weg zu raten. Die meisten waren dadurch in große Furcht gesetzt, und als nach der Form der neuen Republik der Senat zusammengerufen wurde, um über diesen außerordentlichen Fall zu ratschlagen und zu entscheiden, waren sie fast einstimmig der Meinung, daß man dem Übel ausweichen und einen andern Weg erwählen müsse. Nur Wilhelm war von Furcht nicht so eingenommen, daß er sogleich einen Plan, der mit vieler Überlegung bedacht worden, hätte aufgeben sollen. Er sprach ihnen vielmehr Mut ein, und seine Gründe waren männlich und überzeugend. "Noch", sagte er, "ist es ein bloßes Gerüchte, und wie viele entstehen deren im Kriege nicht. Viele sagen, daß der Fall höchst unwahrscheinlich und beinahe unmöglich sei; sollten wir uns in einer so wichtigen Sache durch ein ungewisses Gerede bestimmen lassen? Die Route, welche uns der Herr Graf angegeben hat, auf die unser Paß lautet, ist die kürzeste, und wir finden auf selbiger den besten Weg. Sie führt uns vorerst nach einer ansehnlichen Stadt, wo wir entweder eine gute Truppe antreffen oder uns selbst zeigen und etwas verdienen können. Wir vermeiden große Beschwerlichkeiten, gewinnen Zeit und Geld, anstatt daß jener Weg, welchen uns das furchtsame Publikum vorschlägt und nach dem ich mich genau erkundigt habe, uns so weit abwärts führt und in so schlimme Wege verwickelt, daß ich nicht weiß, ob wir Hoffnung haben können, uns vor der schlimmen Jahrszeit wieder herauszufinden und das Ziel unserer Reise, das wir uns vorgesetzt, zu erreichen." Er sagte noch so viel und trug ihnen die Sache von so mancherlei vorteilhaften Seiten vor, daß ihre Furcht sich verringerte und ihr Mut zunahm. "Vielleicht ist es noch gar ein Korps der freundlichen Armee, und da beschützt uns der Paß, den wir bei uns haben, genug. Sind es regelmäßige Truppen der Feinde, so werden wir auch wenig zu besorgen haben, denn ich wüßte nicht, was Reisende am Streit der Könige untereinander für Anteil hätten. Sollte uns ein Trupp hergelaufnes Gesindel anfallen, so sind unserer, dünkt mich, schon genug, um ihnen Ehrfurcht einzuflößen und ihnen einen Widerstand zu tun, über den sie sich verwundern sollen."
Diese letzte Rede brachte die jungen Schauspieler leicht auf seine Seite. Die Frauen, da der Vorschlag heroisch und seltsam war, traten gleichfalls bei, Madame Melina zuerst, welche ohngeachtet ihrer hohen Schwangerschaft ihre natürliche Herzhaftigkeit nicht verloren hatte: nun wollte der übrige Teil der Männer nicht feige sein, und es war niemand, der nicht von ganzem Herzen in diese Vorschläge zu willigen schien.
Man fing nun an, sich auf alle Fälle zur Verteidigung einzurichten. Man kaufte große Hirschfänger, Wilhelm verschaffte sich einen Säbel und ein paar Pistolen. Der junge Akteur, dessen wir zu Anfange des Buchs erwähnet und den wir in der Folge nur Laertes nennen wollen, bewaffnete sich mit einer Flinte, unter die übrigen wurde andres alte Gewehr ausgeteilt, und so machte man sich, wiewohl mit einigem Widerwillen der Fuhrleute, auf den Weg.
Den zweiten Tag schlugen diese, die der Gegend wohl kundig waren, vor, sie wollten auf einem waldigen Bergplatze Mittagsruhe halten, weil zwar ein Dorf in der Nähe, aber sehr unbequem liege und man eine böse Höhle vermiede; sie nähmen gewöhnlich bei guten Tagen ihr Futter mit und blieben an dem angezeigten Orte halten. Da die Witterung schön war, stimmte jedermann leicht in diesen Vorschlag ein. Wilhelm eilte voraus, und die sonderbare Gestalt, in der er auftrat, hätte gewiß einen jeden, dem er begegnet, stutzig gemacht. Zu seiner Kleidung, wie wir sie oben beschrieben haben, kam noch ein breites Wehrgehänge, das ihm über die Schultern fiel und einen großen Säbel trug. Ein paar Pistolen hatte er in den Gürtel gesteckt, und so eilte er mit schnellen und zufriednen Schritten den Wald hinauf. Ebenso wunderbar sah die Gesellschaft, die ihn begleitete. Mignon lief im Westchen nebenher und hatte gleichfalls seinen Hirschfänger an der Seite, den man ihm, als sich die Gesellschaft bewaffnete, auf sein sehnliches Bitten nicht hatte abschlagen können. Der blonde Knabe, der die Gesellschaft auch nicht verlassen hatte, trug die Flinte des Laertes. Der Harfner hatte noch das friedlichste Ansehen, er steckte sein langes Kleid in den Gürtel, damit es ihn im Gehen nicht hindern konnte, er stützte sich auf einen knotichten Stab, sein Instrument war bei den Wagen zurückgeblieben. Nach einem Stieg, der nicht ganz ohne Beschwerlichkeit war, fanden sie gar leicht den angezeigten Platz. Sie erkannten ihn an den schönen Buchen, die ihn umgaben und bedeckten, an der eingefaßten Quelle und der fernen Aussicht. Sie nahmen Besitz, ruhten im Schatten aus, machten ein Feuer an und erwarteten singend die übrige Gesellschaft, welche nach und nach herbeikam und den Platz, die Gegend, das schöne Wetter mit einem Munde begrüßten.

Eckermann: Gespräche mit Goethe
Dichtung und Wahrheit
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