> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 2. Buch 4.Kapitel

2019-10-06

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 2. Buch 4.Kapitel


Zweites Buch
Viertes Kapitel

Ihr tiefen Schatten, heißet mich willkommen,
Hier fühlt die Brust sich weniger beklommen,
Du stiller Teich, du Baum, den ich erkor,
Gewähret mir die Ruh, die ich verlor.

O Stamm, der du, was Menschen auch empfanden,
So lange hier in fester Ruh gestanden,
Rings um dich her der Kinder Schar gezeugt,
Der du, wie wir, dem Sturm dich jung gebeugt,
Befestigt nun mit männlich starken Seiten
Dem Wetter stehst und der Gewalt der Zeiten:
O sprich mir Mut, du dauerhafter, zu,
Lehr meine Brust dem Unglück stehn wie du.

O Lüftchen, das die stille Welle kräuselt,
Das mir um Stirn und Locke freundlich säuselt
Von Ast zu Ast mutwillig wechselnd fliegt,
Mit einem Hauch viel tausend Zweige biegt:
O kannst du mir auf deinen stillen Schwingen
Nicht auch den Trost in meinen Busen bringen?

Doch auch vergebens such ich hier mein Glück,
Ich floh den Hof, es blieb der Schwarm zurück.
Dort ließ ich sie, in wohl verwahrten Mauren
Mit Freundes Blick einander aufzulauren,
Ließ das Gefolg des Reichtums und der Macht,
Die Schmeichelei, die unbequeme Pracht,
Und dachte, der Natur hier übergeben,
Mit mir allein, mir selber aufzuleben;
Doch leider fühlt mein Herz, nun völlig frei,
Die alte Qual hier doppelt wieder neu.

Unsere Freunde hatten an einem schönen Frühlingstage, begleitet von Wilhelms Schwester, nun Werners Frau, ihren Spaziergang nach einer Gegend gerichtet, welche sie beide von Jugend auf immer angezogen hatte. Sie waren an einen Ort gelangt, wo sie sonst als Kinder miteinander zu spielen und als Jünglinge mit Hoffnungen der Zukunft sich zu unterhalten pflegten. Unter einer uralten Eiche setzten sich die Ehleute nieder und genossen der schönen Aussicht. Wilhelm ging auf und ab, und vor den Gegenständen, die ihn umgaben, rezitierte er jene Stelle mit großer Wahrheit; wie er denn meist für jede Gelegenheit mehr oder weniger Verse eines Schauspieles oder sonst eines Gedichtes in seinem Kopfe in Bereitschaft fand und, wenn er allein war oder wenn es sich vor der Gesellschaft schicken wollte, sich nicht zurückhielt; wie er denn auch oft mechanisch, durch eine bloße Wortreminiszenz einen Teil seines Vorrates auszukramen bewegt ward.
Werner erinnerte sich sogleich, diesen Monolog in einem der heroischen Schäferstücke gelesen zu haben, die ihm sein Freund neulich anvertraut hatte. Zeither wagte er es nicht, davon anzufangen, weil er die Rückkehr jener leidenschaftlichen Schmerzen befürchtete; nunmehr aber, da er seinen Freund durch die bedenklichen Worte des Schlusses der Gefahr seiner Lieblingsempfindung ganz nahe ausgesetzt sah, so wußte er in der Geschwindigkeit kein Mittel, ihn davon zu entfernen, als daß er von den Stücken selbst anfing und den Bewegten auf ein ruhiges Gespräch zu leiten suchte. Er betrog sich darinne nicht, es gelang ihm; denn nicht immer tun dieselben Sachen dieselben Wirkungen; die Veränderungen der Lagen und Umstände verwandeln einen Gegenstand oft ganz und gar.
"Ich habe", sagte er, "diese Stelle schon in der ,Königlichen Einsiedlerin’ mit Vergnügen gelesen und mir einen Teil davon gemerkt." – "Ich möchte mich", versetzte Wilhelm, "weder einer Unbescheidenheit noch einer übertriebenen Demut schuldig machen. Die Stelle mag leidlich sein, wenn ich nur sie und mehrere dergleichen an denen Plätzen, wo sie stehen, verantworten könnte. Dies ist ein Fehler, in den man so leicht fällt, daß man sich in elegischen Empfindungen ausbreitet, daß man sich mit Beschreibungen und Gleichnissen aufhält, die doch eigentlich der Tod des Dramas sind, welches allein nach seiner immer fortgehenden Handlung geschätzt werden kann. Dieser Fehler geht fast durch alle Stücke, die ich bisher gemacht, und deswegen werden sie, wenn auch erträgliche Stellen drinne sein sollten, immer von den Meistern der Kunst verworfen werden." – "Was mich betrifft", sagte Werner, "so sind mir schöne Stellen das Liebste an einem ganzen Stücke, denn die merkt man sich und kann sie zu seinem Nutzen ziehen." – "Ich habe nichts dagegen, wenn sie den Fortschritt der Handlung nicht hindern, vielmehr bin ich überzeugt, daß auch ein gutes Stück viel kräftige Stellen haben, ja, wenn du willst, aus trefflichen Stellen bestehen kann, wenn sie sich gleich nicht einzeln in Stammbücher schreiben lassen. Ich war selbst von jener Krankheit, die im Publiko so allgemein ist, dahingerissen, und ich habe meine Bekehrung nicht mir selbst, sondern meinem vortrefflichen Freunde R. zu danken, dem ich einige von meinen Sachen wies. Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn er sich zu meinem Vorteile länger hier aufgehalten hätte. Was ist zum Exempel in dem Stücke, dessen du erwähnest, aus dem ich eben die Stelle hersagte, Vorzügliches? Der bei dem Menschen allgemeine Wunsch, sich aus verwirrenden Verhältnissen herauszusehnen und unter harmlosen Bäumen ein ganzes Leben zu genießen, wie uns manchmal ein Sommerabend gegönnt wird! In wieviel hundert Gedichten ist dieses nicht schon gut oder schlecht vorgetragen worden? Und nimm die Verse weg, die diese Gefühle schildern und die allenfalls eine leidliche Elegie würden gegeben haben, nimm vielleicht noch einige Gleichnisse aus, die ein episches Gedicht zieren dürften, so ist das übrige entweder gemein und kindisch oder unwahr und übertrieben. Wie willst du nun, daß ich mir einigermaßen Gutes von dem Stücke denken soll?" – "Der Autor, merk ich wohl, ist selten ein unparteiischer Richter seiner eigenen Sachen, er tut sich bald zuviel, bald zuwenig. Ich wollte nur, das Stück wäre gedruckt oder würde aufgeführt; wir würden sehen, was es für einen Beifall finden sollte." – "Dafür bewahre mich Gott", fuhr Wilhelm auf, "daß ich Gelegenheit gebe, das Publikum zu verderben. Dieses möchte ich ebensowenig, als von ihm verdorben werden, und meistenteils geschieht doch das, wie ich merke, durch wechselseitige Ehre und Nachgiebigkeit, die sie einander bezeigen. Wenn ich jemals öffentlich auftreten sollte, wünschte ich freilich zu gefallen, ja allgemein zu gefallen; denn ich habe die Schriftsteller meistens nicht vor aufrichtig oder vor sehr eingebildet gehalten, die nur bloß Kennern ihre Sachen widmen und alle diejenigen, denen sie nicht gefallen, unter die Herde der Nichtkenner verwiesen. Das Gute muß freilich von den Verständigen erst geprüft und, wenn ich sagen darf, erst gestempelt werden; es muß aber auch, wenn es menschlich ist, eine allgemeine glückliche Würkung tun, vorzüglich auf diejenigen, die nicht urteilen können, Und ich glaube, der hat den höchsten Punkt erreicht, der diese beiden Stimmen, welche zusammen erst, wenn ich hier das lateinische Sprüchwort anwenden darf, die Stimme Gottes ausmachen, auf sich vereinigt.
Er darf mit einiger Selbstzufriedenheit an sich denken, daß sich zu seiner Wahl die Edeln und das Volk vereinigen. Wenn man nur früher auf das Rechte geleitet würde! Denn eben durch diese und andere dergleichen Fehler habe ich alle Mühe, die ich auf meine Trauerspiele gewendet, verloren, die denn auch, wie mir mein gelehrter Freund die Augen öffnete, außer einigen wenigen Stellen, die aber doch nichts weniger als neu und erhaben sind, meistenteils von falsch nachgeahmter Theaterleidenschaft strotzen, die Backen mit allgemeinen Sittensprüchen aufpausen und, darüber sich selbst gleichsam vergessend, auf ihrem Wege sehr ungeschickt hin und wider stolpern und sich zuletzt nicht mit einem Ausgange, mit einer Entwicklung, sondern mit einem Fall und Sturz endigen."
"Du sprichst ja als wie von einer großen Anzahl, sind es denn so viele? Man hat dir nicht angemerkt, daß du so fleißig warst." – "Wo ich ging und stund, machte ich Plane, und wo ich mich beiseite stehlen konnte, schrieb ich Verse. Ganz geendigt findest du nicht über drei bis vier Stücke." – "Ist das nicht genug?" – "Mehrere aber zum größten Teil, und, wie ich dir schon gesagt habe, angefangen eine ganze Schar."
Die Schwester, welche bisher einer Magd, die einige Erfrischungen brachte, das Körbchen und die Flasche abgenommen und in das Gras zurechtgesetzt hatte, mischte sich hier auch in das Gespräch und fing mit einiger Lebhaftigkeit, wie eins, das lange zugehört, ob es gleich auch etwas zu sagen gehabt hätte, zu ihrem Manne an: "Es ist wirklich schade, daß er alles hat stecken lassen; denn ich kann dir versichern, es waren recht schöne Stücke, und ich habe mein Lebtag so keine spielen sehen. Ich schrieb sie ihm gerne ab und merkte mir immer dabei die Stellen, die mir am besten gefielen." – "Was für Helden wähltest du dir?" sagte Werner. – "Du wirst dich wundern", versetzte der andere darauf, "ob es gleich ganz natürlich ist, daß ich mir sie aus der Bibel aufsuchte." – "Aus der Bibel." rief jener, "das hätte ich mir am wenigsten erwartet." – "Und doch", sagte Wilhelm, "ist es ganz natürlich. Die erste Geschichte, die unsere jugendliche Aufmerksamkeit reizt und in Verwunderung setzt, erzählt uns von jenen heiligen Männern, an welchen Gott einen besondern Anteil zu nehmen geruhte. Wir hören von ihnen gleichsam als von unseren eigenen Stammvätern sprechen, und die vorzüglichsten Männer der vorzüglichsten Nation müssen für uns die ersten in der Welt werden. Wir untersuchen nicht, wie interessant ihre Handlungen sind, sondern die Handlungen sind uns merkwürdig, weil sie von ihnen erzählt werden." – "Du sagtest", fiel ihm Werner ein, "daß einige von diesen Stücken fertig geworden; was waren für Gegenstände drinne ausgeführt?" – "Laß dir es von Amelien erzählen", sagte Wilhelm und lächelte. "Dabei wirst du dich vielleicht wieder recht wundern, wenn du die Feinde des Volks Gottes als Hauptpersonen meiner Stücke auftreten siehst; ich kann dir aber versichern, es war in der rechtgläubigsten Absicht, denn die Propheten taten darinne sehr ihre Schuldigkeit und sagten ihnen vorneherein derb die Wahrheit; schröckliche Träume, Ahndungen regten ihre Gewissensbisse auf und ließen ihnen keine ruhige Stunde, daß sie wirklich recht matt und abgehetzt waren, als ihnen der fünfte Akt den Fang gab."
Amelie ließ nicht undeutlich merken, daß es ihr unangenehm sei, wenn der Bruder diese Sache lächerlich mache. Es sei ihm doch auch einmal bittrer Ernst drum gewesen, und ihr gefallen sie eben noch. Ihr Mann bat sie, ihm die Helden zu nennen, und zu seiner großen Verwunderung hörte er die berüchtigten Namen von Jesabel und Belsazar. "Ei, ei!" rief er aus, "eine Königin vom Fenster gestürzt! eine Hand, die aus der Wand reicht! das als theatralische Gegenstände zu denken, dazu gehört viel Mut der Einbildung."
"Es ist mir lieb", sagte Wilhelm, "daß dir das Abgeschmackte sogleich auffällt. Noch mehr wird es dich wundern, wenn ich dir sage, daß ich eben darum diese Geschichten wählte. Sei versichert, es geht vielen Theaterschriftstellern so. In einem Roman, in einer Geschichte ist etwas merkwürdig, und sie meinen gleich, es müsse so vorgestellt werden und gebe auch Stoff zu vier Akten voraus, ob es gleich so wenig zum Drama paßt als der Salto mortale meiner Königin und die drohende Wunderhand." – "Wie ums Himmels willen", sagte der Schwager, "hast du diese Gegenstände behandelt?" – "Vielleicht glaubst du mir kaum, wenn ich dich versichere, daß sie ganz mit den Regeln und mit allem theatralischen Anstande ausgeführet wurden." –,,Du mußt sie lesen", fiel die Schwester ein, "denn er sagt dir doch sonst nicht das Rechte." – "Zuvörderst muß ich dir nur gestehen", fuhr Wilhelm fort, ohne sich an ihre Einwendung zu kehren, "daß mich die Spekulation einer besondern Todesart auf das Sujet von der Jesabel brachte. Ich sah, daß alle meine Vorgänger sich die künstlichste Mühe gegeben hatten, mit Dolch und Gift und andern schädlichen Werkzeugen auf das mannigfaltigste zu hantieren, so daß dem Nachfolger fast keine Kombination mehr übrigblieb. Um desto mehr fiel mir der Sturz in die Augen, der das Leben einer berüchtigten Königin endigte." Werner schlug wider seine Gewohnheit in ein lautes Lachen aus und rief: "Ich begreife nicht, sollte sie denn wirklich von oben heruntergeworfen werden, wie man es in Merians Kupferbibel zu sehen kriegt?" – "Wie kannst du dir einen solchen Puppenspielstreich von einem geübten Schriftsteller denken! Nein, meine Sachen sollten vor dem besten Geschmack ausführbar sein. Der Schauplatz ist in einem großen Saal, von da er sich nicht wegwendet, und in dem fünften Akt, wo Jesabel vergebens den Überwinder durch erkünstelte Reize und Schmeicheleien zu bewegen, durch Drohungen zu erschüttern sucht, endigt der Held in gerechtem Eifer mit Vorwürfen und Verwünschungen und schneidet ein sehr wohlgeführtes Gespräch ziemlich rittermäßig kurz ab, indem er der Wache befiehlt, sie herabzustürzen. Diese greift zu – und der Vorhang fällt." – "bravo!" rief Werner, "das war gut ausgedacht." – "Mir war nur bange", versetzte Wilhelm, "es möchte einmal bei einer Vorstellung aus Versehen der Vorhang nicht heruntergehen, wodurch denn freilich die ganze Wirkung des Trauerspiels sich in ein Gelächter würde aufgelöst haben." – "Du wirst gewiß recht prächtige Stellen in dem Stücke finden", sagte die Schwester zu ihrem Manne, "und die Königin ist so gottlos, daß man ihr alles Übel gönnt." – "Nicht wahr, Amelie", sagte Wilhelm, "du hast es ihr auch besonders übelgenommen, daß sie noch Ansprüche auf einen jungen König machte, den du allenfalls selbst nicht verschmäht hättest?" – "Nun aber Belsazar!" fiel Werner ein. "Den laß ich mir gar nicht nehmen", sagte die Schwester. "Es sind so schöne Sachen drin, die ich mir alle auswendig gemerkt habe." – "Gib mir nur einen Begriff davon", sagte Werner. "Meine Helden", versetzte Wilhelm, "waren gewöhnlich jung, weil ich nichts interessanter wußte als die Jugend, in der ich mich selbst fühlte, und so war auch mein König Belsazar ein feiner junger Herr." – "Erinnerst du dich noch", sagte die Schwester, "was der fremde Herr, dessen Geschmack du so sehr rühmst, auf einem Spaziergange sagte, als er den Morgen das Stück gelesen hatte?" – "Ich bin überzeugt", versetzte Wilhelm, "daß er es aus schonender Güte, um mich nicht ganz niederzuschlagen, gesagt hat. Er behauptete, der junge König sei gut geschildert. Eigentlich ist es ein Mensch, deren es viele in jedem Stande gibt. Er will das Gute, hat ein Gefühl für Rechtschaffenheit und Tugend, eine dunkele, unbehagliche Ehrfurcht vor dem strengen Gotte der Hebräer, einen bequemen, hergebrachten Dienst seiner eignen Götter, leichtsinnig über sein Reich, beschäftigt durch seine Leidenschaften, eifrig bei Festen und Gelagen, am liebsten in der Zerstreuung, wozu seine Hofleute das Ihrige willig beitragen." – "Nun, das klingt so übel nicht", sagte Werner. "Höre nur einmal einen Monolog, womit der König den zweiten Akt anfängt", sagte Amelie, "ich kann ihn auswendig." – "Rezitier ihn nur", versetzte Wilhelm, "ich will indes auf dem Damme spazierengehen. Ich mag nicht wohl leiden, wenn man mir meine Sachen vorrezitiert." – "Wie würde dir es gehen, wenn sie aufgeführt würden?" – "Ich weiß nicht, das würde sich finden, verlegen würde mich’s auf alle Fälle machen." Und so ging er von ihnen auf die Seite. "Du denkst dir", sagte Amelie, als er weg war, "daß es des Königs Geburtstag ist, daß in der Nacht die Verschwornen den ersten Akt eröffnen und sich, da der Tag graut, entfernen. Die Sonne gehet auf, der König, aufgeweckt von dem Trompeten- und Paukenschall, der seiner Stadt das Fest verkündigt, reißt sich aus den Armen einer Geliebten und übersieht von der Terrasse die Herrlichkeit Babylons. Auch bemerke ich noch, daß ein Verschworner im vorhergehenden Akte Belsazars Furcht vor dem Donnerwetter mit Verachtung erwähnt hat."
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

Keine Kommentare: