> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 7.Kapitel

2019-10-04

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 7.Kapitel






Erstes Buch
Siebentes Kapitel

Der Artillerie-Lieutenant, der ein Pate der Großmutter war, ward nunmehr beordert, das Theater aufzuschlagen und das übrige zu besorgen. Wilhelm merkte es wohl, da er die Woche verschiedentlich zu ungewöhnlicher Zeit ins Haus kam. Seine Begierde wuchs nur, da er wohl fühlte, daß er vor Sonnabend keinen Teil dran nehmen durfte. Endlich erschien der gewünschte Samstag. Abends fünf Uhr kam der Artillerie-Lieutenant und nahm Wilhelmen mit hinauf. Mit zitternder Freude trat er mit herein und erblickte auf beiden Seiten des Gestells die herabhangenden Puppen in der Ordnung, wie sie auftreten sollten; er betrachtete sie sorgfältig, stieg auf den Tritt, der ihn über das Theater erhub, daß er über seiner kleinen Welt schwebte; er sah nicht ohne Ehrfurcht zwischen die Brettchen hinunter, weil noch die Erinnerung, welch herrliche Wirkung es von außen tue, und das Gefühl, in welche Geheimnisse er eingeweihet sei, ihn umfaßte. Sie machten einen Versuch, und es ging trefflich.

Den andern Tag, da eine Gesellschaft Kinder geladen war, desgleichen, außer daß Wilhelm in dem Feuer der Aktion seinen Jonathan fallen ließ und er genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn zu holen, das denn die Illusion sehr unterbrach, ein großes Gelächter verursachte und ihn unsäglich kränkte. Auch schien dieser Fehler dem Vater sehr willkommen zu sein, der zwar in sich das größte Vergnügen fühlte, sein Söhnchen so fähig zu sehen, es aber wohlbedächtlich nicht an den Tag gab, nach geendigtem Stück sich gleich an die Fehler hing und sagte, es wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte. Unsern Prinzen kränkte das innig, er ward traurig für den Abend, hatte es aber den kommenden Morgen schon wieder verschlafen und ward in dem Gedanken selig, daß er außer dem Unglück trefflich gespielt habe; und es war dies nicht Eigendünkel, denn er hatte kein Muster vor sich als den Lieutenant, gegen das er sich messen konnte, der zwar in Abwechslung der groben und reinen Stimme ein Ziemliches getan hatte, hergegen aber auch affektiert: und steif perorierte, wenn man bei Wilhelmen eine gute, treue, mutige Seele in den Hauptstellen durchsah, wie zum Exempel die Aufforderung Goliaths war und die Bescheidenheit, womit er nach dem Siege vor dem König erschien.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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