Fünftes Buch
Siebentes Kapitel
Die Helden seiner Stücke waren außerordentliche, edle Personen, der Gunst der Fürsten, des größten Reichtums und des größten Glücks wert, die aber auch auf alle diese weltliche Güter mit dem reinsten Herzen und hellsten Sinne Verzicht zu tun bereit waren, mit einer ungemeinen Großmut jede Beleidigung wie Kinder verziehen und jedem Wunsche wie weise Männer entsagten. Wir wissen aus dem Vorigen schon, daß unsere Truppe sich nicht gern vorlesen ließ, und man kann es von jedem Schauspieler zum voraus annehmen, daß er sich lieber selbst als jeden andern hört. Es war also ein Zeichen ihrer größten Achtung, daß sie lange Stücke von fünf Handlungen anhören und ihr Gähnen verbergen konnten, welches meistenteils bei den feierlichsten Stellen auszubrechen drohte. Desto angenehmer war ihm sein Aufenthalt bei ihnen, und da er sich freigebig erwies, bei jedem Galanteriehändler, deren sich manche einstellten, den Aktricen ein Putzwerk einzukaufen und für die Akteure manche Bouteille Champagner extra zu verschaffen wußte, so war er immer ganz angenehm. Er kam zu halben Tagen nicht von ihnen weg, ließ sich ihre Rollen vordeklamieren und veranlaßte, daß sie aus seinen Stücken auch manches auswendig lernten. Diese Freude hatte nicht lange gewährt, als sie bemerkten, daß man sich im Schlosse über seine allzu genaue Verbindung mit ihnen aufhalte, welches Wilhelm schon früher aus einigen bittern Spöttereien Jarnos geschlossen hatte. Der Baron ließ sich nicht irremachen, verteidigte sich, so gut er konnte, und wenn die andern auf die Jagd ritten oder sich zum Spiele setzten, eilte er immer dahin, wo ihn eine unüberwindliche Leidenschaft hinzog.
Endlich war der Prinz angekommen, die Generalität, die Stabsoffiziere und das übrige Gefolge, was zu gleicher Zeit eintraf, machte das Schloß einem Bienenstocke ähnlich, der eben schwärmen will. Jedermann drängte sich, den vortrefflichen Fürsten zu sehen, und jedermann bewunderte seine Leutseligkeit und Herablassung, jedermann erstaunte, in dem Helden und Heerführer zugleich den gefälligsten und geselligsten Hofmann zu erblicken.
Ein jedes mußte nach Order des Grafen auf seinem Posten sein, von den Schauspielern durfte sich niemand blicken lassen, weil der Prinz mit diesen unerwarteten Feierlichkeiten überrascht werden sollte. So ward es auch wirklich des Abends, und als man ihn in den großen, wohlerleuchteten und mit gewürkten Tapeten des vorigen Jahrhunderts ausgezierten Saal führte, schien er ganz und gar nicht auf ein Schauspiel, viel weniger auf ein Vorspiel zu seinem Lobe, vorbereitet zu sein. Alles lief auf das beste ab, und die Truppe mußte nach vollendetem Schauspiele herbei und ward Mann für Mann dem Prinzen vorgestellt, der jeden auf die geschickteste Weise etwas zu fragen, jedem auf die gefälligste Art etwas zu sagen wußte. Wilhelm als Autor mußte auch herbei, und ihm ward gleichfalls sein Teil Beifall zugespendet.
Nach dem Vorspiele fragte niemand sonderlich, in einigen Tagen war es, als wenn dergleichen gar nichts wäre aufgeführet worden, außer daß Jarno es gegen Wilhelm bei einer Gelegenheit sehr verständig lobte, uns zu seiner großen Verwunderung und Befremdung hinzusetzte: "Es ist schade, daß Sie mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen." Mehrere Tage lag Wilhelmen dieser Ausdruck im Sinne, er wußte nicht, wie er ihn auslegen, noch was er daraus nehmen sollte.
Unterdessen spielte die Gesellschaft jeden Abend so gut, als sie es nach ihren Kräften vermochte, und tat das mögliche, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu ziehen. Ein unverdienter Beifall munterte sie auf, und in ihrem alten Schlosse glaubten sie nun wirklich, die große Versammlung Personen, die sich in diesen Tagen hier zusammenfand, komme eigentlich um ihrentwillen her, die große Anzahl Fremde ziehe sich nach ihren Vorstellungen, und sie gestunden es sich untereinander nicht sehr verblümt, daß sie glaubten, der Mittelpunkt zu sein, um den und um deswillen sich alles drehe und bewege. Wilhelm allein bemerkte zu seinem großen Verdrusse das Gegenteil. Denn obgleich der Prinz die ersten Male von Anfang bis zu Ende auf seinem Stuhle sitzend mit der größten Gewissenhaftigkeit abwartete, so schien er sich doch nach und nach auf eine gute Weise zu dispensieren. Gerade diejenigen, welche Wilhelm im Diskurse als die Verständigsten gefunden hatte, Jarno an ihrer Spitze, brachten nur flüchtige Augenblicke im Theatersaale zu, übrigens saßen sie im Vorzimmer, spielten oder schienen sich von ernsthafteren Dingen zu unterhalten. Wilhelmen verdroß es, die Bemühungen, die auch er mit auf die Proben wendete, so gar schlecht belohnt zu sehen, fuhr aber doch aus Gewohnheit, Langerweile und Treue fort, ebendasselbige zu tun. Der Baron war immer eifrig, sich bei ihnen zu halten, sie von dem großen Effekte, den sie machten, zu versichern, wobei er nur immer bedaurte, daß der Prinz vor seine Person eine ausschließende Neigung für das französische Theater habe, ein Teil seiner Leute hingegen, worunter Jarno sich besonders auszeichne, dem Ungeheuren der englischen Bühne einen besondern Vorzug gebe.
Der Graf und die Gräfin ließen manchmal morgens einen und den andern von der Gesellschaft vor sich rufen, da jeder denn immer Philine in beneidenswerter Gunst und mit unverdientem Glücke fortschwimmend erblickte. Der Graf hatte seinen Liebling, den Pedanten, den er sich, wie wir aus dem vorigen Buche wissen, sehr zufällig auserkoren, des Morgens oft stundenlang bei seiner Toilette. Dieser Mensch ward nach und nach bekleidet und bis auf Uhr und Dose equipiert und instand gesetzt.
Die Baronesse hatte sich indes Wilhelmen ausersehen. Sie war gegen ihn herablassend, gefällig, zärtlich, daß er Gefahr lief, seine Freiheit zu verlieren. Sie war so angenehm, so leutselig hülfreich und tat zuletzt so bekannt, daß er etlichemal im Begriffe war, ihr sein Herz auszuliefern und dagegen die Erlaubnis einzutauschen, sich und den Abstand zwischen ihnen beiden zu vergessen.
Daß es nicht geschah, war niemand schuld als der Sekretär, der unserm Freund hierin einen guten und, wie man’s nehmen will, einen üblen Dienst tat. Denn als Wilhelm einmal in der Freude seines Herzens diese vortreffliche Dame gegen jenen rühmte und ihres Lobes kein Ende finden konnte, versetzte jener: "Ich merke schon, wie die Sachen stehn, unsere liebe Baroneß hat wieder einen für ihre Ställe geworben." Dieses unglückliche Gleichnis verdroß Wilhelmen sehr, da er wohl verstand, daß es auf die gefährlichen Liebkosungen einer Circe deutete. "Denn jeder Fremde glaubt", fuhr der Sekretär fort, "daß er der erste sei, dem das angenehme Betragen gelte, und er irrt sehr. Denn wir alle sind einmal auf diesem Wege herumgeführt worden, sie kann ein für allemal keine Mannsperson wissen, er sei, wer er wolle, der nicht wenigstens eine Zeitlang sich ihr ergeben, ihr angehangen und sich mit Sehnsucht um sie bemüht hätte."
Den Glücklichen, der eben in die Gärten der Zauberin hineintritt und von allen Seligkeiten eines künstlichen Frühlings empfangen wird, kann nichts unangenehmer überraschen, als wenn ihm, dessen Ohr ganz dem Gesange der Nachtigallen lauscht, irgendein verwandelter Vorfahr unvermutet entgegengrunzt. Einen so bösen Eindruck machte es auch auf Wilhelmen, der nun auf der Baronesse Benehmen aufmerksamer ward und sie in der Komödie oder wo er sie nur bemerken konnte, nicht aus den Augen ließ und bald ganz ohne Brille sah, daß die Bitterkeit des Sekretärs nicht ungerecht sein mochte. Er ließ sogleich auf eine schülerhafte Weise, ohne irgendeinen Vorteil aus dieser Gunst zu ziehen, die ganze Herzensangelegenheit fallen, und sie begriff nicht, warum sie auf einmal durch alle Gefälligkeit nicht die mindeste Regung in seiner Seele hervorbringen konnte.
Auch wurde die Gesellschaft manchmal samt und sonders nach Tafel vor die hohen Herrschaften gefordert. Sie schätzten sich es zur größten Ehre und bemerkten nicht, daß man zu ebenderselben Zeit durch Jäger und Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen und Pferde im Schloßhofe vorführen ließ.
Man hatte Wilhelmen gesagt, daß er ja gelegentlich des Prinzen Liebling Racine loben und dadurch auch von sich eine gute Meinung erwecken möge. Er fand dazu an einem solchen Nachmittage Gelegenheit, da er auch mit vorgefordert worden war und der Prinz ihn fragte, ob er auch fleißig die großen französischen Theaterschriftsteller läse, darauf ihm denn Wilhelm mit einem sehr lebhaften Ja antwortete. Er bemerkte nicht, daß der Fürst, ohne seine Antwort abzuwarten, schon im Begriffe war, sich weg und zu jemand anders zu wenden, er faßte ihn vielmehr sogleich und trat ihm beinahe in den Weg, indem er fortfuhr. Er schätze nicht allein das französische Theater sehr hoch und lese die Werke der großen Meister mit Entzücken, besonders habe er zu wahrer Freude gehört, daß der Fürst den großen Talenten eines Racine völlige Gerechtigkeit widerfahren lasse. "Ich kann es mir vorstellen", fuhr er fort, "wie vornehme und erhabene Personen einen Dichter schätzen müssen, der die Zustände ihrer höhern Verhältnisse so vortrefflich und richtig schildert. Corneille hat, wenn ich so sagen darf, große Menschen dargestellt und Racine vornehme Personen. Ich kann mir, wenn ich seine Stücke lese, immer den Dichter denken, der an einem glänzenden Hofe lebt, einen großen König vor Augen hat, mit den Besten umgeht und in die Geheimnisse der Menschheit dringt, wie sie sich hinter kostbar gewürkten Tapeten verbergen. Wenn ich seinen ,Britannicus’, seine ,Bérénice’ studiere, so kommt es mir wirklich vor, ich sei am Hofe, sei in das Große und Kleine dieser Wohnungen der irdischen Götter eingeweiht, und ich sehe durch die Augen eines feinfühlenden Franzosen Könige, die eine ganze Nation anbetet, Hofleute, die über viele Tausende beneidet werden, in ihrer natürlichen Gestalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die Anekdote, daß Racine sich soll zu Tode gegrämt haben, weil Ludwig der Vierzehnte ihn nicht mehr angesehen, ihn seine Unzufriedenheit fühlen lassen, ist mir ein Schlüssel zu allen seinen Werken, und es ist ohnmöglich, daß ein Dichter von so großen Talenten, dessen Leben und Tod an den Augen eines Königes hängt, nicht auch Stücke schreiben sollte, die des Beifalles eines Königes und eines Fürsten wert seien."
Jarno war herbeigetreten und hörte unserm Freunde mit Verwunderung zu. Der Fürst, der nicht geantwortet und nur mit einem gefälligen Blicke seinen Beifall gezeigt hatte, wandte sich seitwärts, obgleich Wilhelm, dem es noch unbekannt war, daß es nicht anständig sei, unter solchen Umständen einen Diskurs fortzusetzen und eine Materie erschöpfen zu wollen, noch gerne mehr gesprochen und dem Fürsten gezeigt hätte, daß er nicht ohne Nutzen und Gefühl seinen Lieblingsdichter gelesen. "Haben Sie denn niemals", versetzte Jarno, "ein Stück von Shakespearen gesehen?" – "Nein", sagte Wilhelm, "was ich noch gehört, hat mich nicht neugierig gemacht, diese seltsame und unsinnige Ungeheuer näher kennenzulernen, wo der Wahrscheinlichkeit und des Wohlstandes so wenig geschont ist." – "Ich will Ihnen denn doch raten", versetzte jener, "einen Versuch zu machen, es kann nichts schaden, wenn man auch das Seltsame mit eigenen Augen sieht. Ich will Ihnen ein paar Teile borgen, und Sie können Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie gleich sich von allem losmachen und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser unbekannten Welt sehen. Es ist sündlich, daß Sie Ihre Stunden verderben, diese Affen menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren. Nur eins halte ich mir aus, daß Sie sich an die Form nicht stoßen, das übrige kann ich Ihrem richtigen Gefühle überlassen." Die Pferde standen vor der Türe und Jarno setzte sich mit einigen Kavalieren auf, um sich mit der Jagd zu erlustigen. Wilhelm sah ihm traurig nach. Er hätte gerne mit diesem Manne noch vieles gesprochen, der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen, deren er bedurfte.
Der Mensch kommt manchmal, indem er sich einer Entwicklung seiner Kräfte, Fähigkeiten und Begriffe nähert, in eine Verlegenheit, aus der ihm ein guter Freund leicht helfen könnte. Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Wasser fällt; griffe jemand sogleich zu, risse ihn ans Land, so wäre es um einmal Naßwerden getan, anstatt daß er sich wohl selbst, aber am jenseitigen Ufer, heraushilft und einen beschwerlichen, weiten Umweg nach seinem bestimmten Ziele zu machen hat.
Wilhelm fing an zu wittern, daß es in der Welt anders zugehe, als er sich’s gedacht, er sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten. Ein Heer auf dem Marsche, ein fürstlicher Held an seiner Spitze, so viel mitwürkende Krieger, so viele zudringende Verehrer erhöhten seine Einbildungskraft. In dieser Stimmung erhielt er die versprochenen Bücher, und in kurzem, wie man es vermuten kann, ergriff ihn der Strom dieses großen Genius und führte ihn einem unübersehlichen Meere zu, worin er sich gar bald völlig vergaß und verlor.
Eckermann: Gespräche mit Goethe
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