> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 18.Kapitel

2019-10-05

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 1. Buch 18.Kapitel







Erstes Buch
Achtzehntes Kapitel

Wilhelm, der nun ohne Ausnahme glücklich war, überließ sich ganz den Entzückungen der Liebe. War er vorher durch Verlangen und Hoffnungen an Marianen gebunden, so war er es nunmehr durch die seligste Befriedigung, in der er immer wieder neuen Durst zu trinken schien. Das Andenken Marianens ergriff ihn in der kleinsten Abwesenheit nun immer lebhafter; denn war sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft war. In der Reinheit seiner Seele fand er, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner Seele sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen. Auch Mariane konnte sich eine Zeitlang täuschen, sie teilte die Empfindung seines lebhaften Glücks mit ihm. Ach, wenn nur nicht manchmal die kalte Hand des Vorwurfs ihr übers Herz gefahren wäre! Selbst an dem Busen Wilhelms war sie nicht sicher davor, selbst unter den Flügeln seiner Liebe. Und wenn sie nun gar wieder allein war und aus den Wolken, in denen seine Leidenschaft sie emportrug, herab in die Erkenntnis ihres Zustands fiel, dann war sie zu bedauren. Denn Leichtsinn war ihre Hülfe, so lang sie in niedriger Verworrenheit lebte, sich über ihren Zustand betrog oder vielmehr ihn nicht kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur einzeln. Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, ihre Demütigung wurde durch Eitelkeit und der Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet. Sie konnte Not und Gewohnheit sich als Gesetz und Rechtfertigung anführen, und so lange ließen sich alle unangenehme Empfindungen von Stund zu Stund, von Tag zu Tag abschütteln. Nun aber hatte das arme Mädchen sich Augenblicke in eine bessere Welt hinübergerückt gefühlt, hatte, wie von oben herab, aus Licht und Freude ins Öde, Verworfene ihres Lebens heruntergesehen, hatte gefühlt, welche elende Kreatur ein Weib ist, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und Ehrfurcht einflößt, und fand sich äußerlich und innerlich immer am vorigen Flecke. Sie hatte nun gar nichts, was sie aufrichten konnte; wo sie hinsah und suchte, war's in ihren Gedanken leer, und ihr Herz hatte keinen Widerhalt. Ganz im Gegenteil schwebte Wilhelm, ihm war auch eine neue Welt aufgegangen, aber voll glücklicher Aussichten. Ließ das Übermaß der ersten Freuden in etwas nach, so stellte sich das licht vor seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte: "Sie ist dein! Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete Geschöpf dir auf Treu und Glauben hingegeben, aber sie hat's keinem Undankbaren." Wo er stand und ging, redete er mit sich selbst, sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer Fülle von prächtigen Worten die erhabenste Gesinnungen vor, er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, das er schon so lange gewünscht hatte. Die Uneinigkeit seiner Eltern lag ihm auf dem Herzen; täglicher Zeuge von so einem Übel zu sein, greift das Herz an, das sich entweder mit verzehrt oder sich verhärtet und auf beide Art zugrunde geht. Dazu kam, daß einer seiner Freunde, ein sehr gesetzter Mensch, um seine ältere Schwester sich bewarb, und dem Vater also in seinem Handel beistehn und seine Stelle vertreten konnte.
Der Gedanke, seines Vaters Haus, die Seinigen zu verlassen, schien ihm leicht, kam gar nicht mit in Anschlag. Er war jung und neu in der Welt, und sein Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu rennen, durch die Liebe erhöht. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar, das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte, und fehlen konnt es nicht, daß er in glücklichen Augenblicken den werdenden vollkommensten Schauspieler und den Schöpfer eines großen Nationaltheaters erblickte, nach den er so vielfältig hatte seufzen hören, und niemals ohne einige zufriedene Wendung auf sich selbst. Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher geschlummert hatte, wurde reg, und aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde in Nebelgrund gearbeitet, wo freilich die Gestalten viel ineinanderflossen, aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat.

Indessen lebte unser Paar mit ganz verschiedenem Drange des Herzens eine ganze Zeit weiter. Da ihnen keine Stunde zusammen lang wurde, so merkten sie kaum, wie schnell die Tage flohen, und ließen einen nach dem andern vorbei, ohne einen Entschluß zu fassen, der ihr Schicksal hätte aufklären oder bestimmen können.
Eckermann: Gespräche mit Goethe



Dichtung und Wahrheit

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