> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 5. Buch 12.Kapitel

2019-10-14

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 5. Buch 12.Kapitel




Fünftes Buch
Zwölftes Kapitel

Es würde unverantwortlich sein, wenn wir unsere Leser, die sich ohnedies hier und da über ein allzu weitläuftiges Detail beklagen dürften, nochmals mit den Abenteuern und Begebenheiten, denen unsere Gesellschaft ausgesetzt gewesen, unterhalten wollten; wir überspringen vielmehr manchen Berg und manches Tal, worüber und wodurch man sie bei üblem Wetter schleppte, und suchen sie in einem Wirtshause auf, wo sie sich gelagert hatten, um neue Wagen und Pferde zu besprechen und sich indessen etwas zugute zu tun. Dieses geschah von einem jeden auf seine Art, und es war wirklich sonderbar anzusehen, wie sie sich wieder in kleine Gesellschaften getrennt und nach sehr verschiedenem Geschmacke sich an verschiedenen Tischen allerlei Gesottnes und Gebratnes hatten reichen lassen.

Gleich zu Anfange der Reise vom Schlosse aus suchte Melina es ihnen begreiflich zu machen, daß jeder auf seine Kosten den Weg zu endigen hätte. Er habe sich zwar bisher das Ansehen eines Direktors gegeben, allein er habe es nur getan, um die Gesellschaft gelten zu machen, übrigens aber, was er von dem Grafen erhalten, verhältnißmäßig mit einem jeden redlich geteilt. Eine gemeine Kasse zu formieren sei jetzt nicht ratsam. Wenn ein jeder für sich bezahle, bliebe jedem die Wahl, zu leben, wie er wolle. Alle waren mit der Einrichtung wohl zufrieden, indem ein jeder Herr von dem Seinigen blieb, und Melina gab sehr weislich seine Direktorialqualität in dem Augenblick auf, da sie ihm lästig werden konnte.

Indessen war Wilhelm von dem glücklichen Humor. Zufälligerweise hatte er im Leben Heinrich des Vierten von Shakespeare die Geschichte gelesen, wie ein Prinz unter geringer, ja sogar schlechter Gesellschaft sich eine Zeitlang aufhält und ohngeachtet seiner edeln Natur an der sinnlichen Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit dieser Pursche sich ergötzt. Er hatte also ein Ideal, womit er seinen gegenwärtigen Zustand vergleichen konnte, und es erleichterte dieses ihm den Selbstbetrug außerordentlich, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte. Er fing an, über seine Kleidungsstücke nachzudenken, und fand, daß eine kurze Weste, über die man im Notfall einen Mantel würfe, eine weit gemäßere Tracht sei als unsere gewöhnliche. Er bediente sich also einer solchen und fügte, weil er auf der Reise oft zu Fuße ging, zu etwas weitern Beinkleidern noch ein Paar Schnürstiefeln. Es währte nicht lang, so erschien er mit einer um den Leib gewundenen Schärpe, die er zuerst unter dem Vorwand, den Magen warm zu halten, trug; dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde, ließ sich einige Streifen Nesseltuch als Krause an das Hemd befestigen, die aber, weil sie etwas zu breit geschnitten waren, völlig das Ansehen eines Kragen erhielten. Ein runder Hut mit einem bunten Bande und einer Feder mußte die ganze Zierde vollkommen machen. Genug, er trat in einer Figur auf, wie wir in folgender Zeit eine Anzahl Göttinger Studenten in Nachahmung Hamlets, teils eine ganze Nation auf Befehl ihres Königs gesehen haben. Alle fanden diese Tracht besonders schön, und die Frauen beteurten vorzüglich, wie gut sie ihm lasse. Philine stellte sich wie vernarrt darein, wodurch sie sich nicht ganz übel empfahl, und unser Freund, der nun die übrigen, je nachdem sie sich betrugen, auf Prinz Harrys Manier behandelte und bald selbst in den Geschmack kam, einige tolle Streiche zu befördern und anzugeben, war von dem angenehmsten, frischesten, ritterlichsten Humor. Ihre theatralische Übungen wurden gelegentlich versäumt, es wurden Rapiere hervorgesucht, man focht, man balgte sich, und in der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des leidlichen Weines, den man angetroffen, in starkem Maße. Es entstunden allerlei Unordnungen aus dieser Lebensart. Philine laurte dem spröden Helden auf, und meine schöne Leserinnen würden für die Sitten ihres Freundes zu sorgen haben, wenn nicht ein glücklicher Stern sein Gemüt auf eine andere Weise beschäftigt hätte.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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