> Gedichte und Zitate für alle: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 4. Buch 11.Kapitel

2019-10-11

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung (Urmeister): 4. Buch 11.Kapitel



Viertes Buch
Eilftes Kapitel

Viele unsrer Leser, die am Ende des vorigen Kapitels zufrieden waren, daß wir endlich wieder den Platz veränderten, werden vielleicht ungehalten sein, wenn wir noch einmal zurückkehren, um verschiedener Dinge zu erwähnen, die beim Abschiede vorgingen.

Die erste Unterredung mit Herrn von C. nach jenem Vorfalle, vor der sich Wilhelm so sehr gescheut hatte, ging leicht und ohne Anstoß vorüber und war nunmehr leider zu Betrübnis beider Freunde die letzte. Von jener Begebenheit wurde gar nicht gesprochen. "Mein Bester", rief Herr von C. aus, als er ihn ansichtig wurde, "Sie sehen mich im Begriffe, auch auf einen Schauplatz zu eilen, wo man ernsthaftere Stücke aufführt, wo jeder seine Rolle nur einmal spielt und wo niemand, der seinen fünften Akt geendet, wiederkehren kann." – "Wie unrecht haben Sie, mein Herr", versetzte Wilhelm, "den weiten Raum jener freien, männlichen Taten mit den engen Schranken unsrer kindischen Spiele zu vergleichen! Wie glücklich sind Sie, daß Ihr Schicksal Sie an Orte führt, wo der ganze Mensch seine besten Kräfte anwenden kann, wo alles, was er in seinem Leben geworden, wozu er sich gebildet, in einem Augenblicke wirksam werden und sich in seinem höchsten Glanze zeigen muß.

Wie sehr hoffe ich mich in meinem geringen Zirkel zu ergötzen, wenn der Ruhm mir Ihren Namen nennt und mir zugleich versichert, daß das Glück auf seiten des Verdiensts gestritten hat!" – "Ich erwarte, mein Freund", versetzte Herr von C., "daß mein Schicksal ein viel stilleres und unbedeutenderes Ende nehmen werde, und ich bin auch damit ganz wohl zufrieden. Sie mögen wohl recht haben, wenn Sie nicht erlauben wollen, daß man das, was uns begegnet, was wir unternehmen, einem Schauspiele vergleiche, da es wirklich um ein großes Teil ernsthafter ist und das wenigste, was geschieht, gesehen werden kann. Die guten, müßigen Zuschauer erblicken von weitem das gefährliche Getümmel, worinnen, wie in der übrigen Welt, im verborgnen, von stiller Nacht oder von Rauch und Dampf bedeckt, die edelsten Taten für die Vergessenheit geschehen, indes nur wenige, durch ein unbilliges Glück begünstigt, den Ruhm, der vielen gebührt, auf sich häufen und hinwegnehmen. Es ist ein Glückspiel; und Sie wissen wohl, mein Freund, wie wenig dieses unter edlen und unedlen Menschen, unter Verständigen oder Toren, unter Tapferen oder Feigen einen Unterschied macht." – "Wie", rief Wilhelm aus, "und Ihre ganze Seele glüht nicht, sich hervorzutun, Sie werden nicht mit ungestümer Begierde fortgerissen, Ihre Taten, Ihren Namen als Muster der Nachwelt zu hinterlassen?" – "Mitnichten, mein Freund", versetzte der andere. "Ich bin gewohnt, in meinem Handwerke und an dem Platze, wo ich bin, meine Schuldigkeit zu tun; ich werde meine Schuldigkeit tun und das übrige geruhig abwarten. Wenn ich dadurch den Offizieren, den Soldaten von meiner Kompanie mit einem Beispiele vorgehe, daß sie in dem, was für sie gehört, fester, mutiger und gewisser handeln, und, wenn ich als ein braver Mann umkomme, es nur diese wissen, nur allenfalls mein Regiment darauf aufmerksam wird, so habe ich mehr getan als mancher, dessen Name durch einen Zufall, der für die Seinigen von keinem Vorteile ist, in Zeitungen ausgestreut wird. Glauben Sie mir, der Ruf ist eine ohnmächtige Gottheit, er gleicht an Willkür dem Winde und hält sich hart an den Zufall. Man gibt ihm hundert Zungen, und wenn man sie zu Millionen vermehrte, so würde er nicht den millionsten Teil von dem, was täglich Gutes heimlich in allen Ständen geschieht, verkündigen können; und wenn er es verkündigte, wer wollte darauf achten? Nur die rohesten Gunstbezeugungen des Glückes, nur die strengsten Anfälle des Übels sind seinen zerstreuten Augen bemerkbar; und was hat der Held vor allen voraus, um der Gerühmteste aller Gerühmten zu sein? Nichts, als daß der Niedrigste im Pöbel sehen und begreifen kann, er habe seinen Feind in die Flucht geschlagen, ihn unter die Füße getreten. Vielleicht hat ein anderer, vielleicht eben derselbige Mann zu einer andern Zeit weit gefährlichere Feinde zu überwinden, mehr Größe des Geistes, mehr Stärke der Seele, mehr Heldenmut angewendet, und wer hat es bemerkt, oder wer war fähig, es zu bemerken?" – "Sie kennen die Welt länger und besser als ich", versetzte Wilhelm, "und ich selbst habe nicht Ursache, das Beste von ihr zu vermuten; doch ist das, was Sie mir sagen, so sehr allen Begriffen der Jugend, allen unsern Wünschen zuwider, daß ich mich nicht entschließen kann, Ihnen ganz Beifall zu schenken, daß ich geneigter bin, einem hypochondrischen Zuge Ihres Charakters mehr Anteil an diesen Gesinnungen zu geben, als er doch wohl nicht haben mag." Herr von C. lächelte und versetzte: "Ich möchte Sie nicht gerne anstecken, und unsere Zeit ist zu kurz, als daß wir diese Sache ausführlich durchsprechen könnten. Nur eins merken Sie sich als dramatischer Schriftsteller und lassen sich es immer gesagt sein, sosehr wir auch schon lange darüber einig sind: Lernen Sie daraus, daß man nur recht sichtbare, starke, grobe, ausgezeichnete Züge dem Volke aufstellen müsse und daß das Feinere, Innigere, Herzlichere weniger Wirkung tue, als man denkt, besonders wenn man Effekt auf die Menge machen will, die doch am Ende immer bezahlt."

Sie mußten sich in diesem Augenblicke trennen, sahen sich einige Tage nachher nur auf wenige Worte wieder und verschwanden sich einander zuletzt, ohne recht Abschied genommen zu haben.
Eckermann: Gespräche mit Goethe


Dichtung und Wahrheit

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